Bestand:Privatarchiv Litt, Theodor
SignaturNA Litt, Theodor V 0070
TitelDie Freiheit der Person und die Lebensordnung
Enthälta) hs; 8 Doppelblätter 10,6 x 14,9 cm = Titelblatt + S. 1-28 b) ms; 1 Blatt 10,4 x 16,4 cm = S. 1-2
Zeitvon1958
Zeitbis1959
Bemerkungenvgl. A 196 Die Freiheit der Person und die Lebensordnung, Separatabzug aus dem Werk Erziehung zur Freiheit, S. 195-236, (1959); Dokumentenabschrift: V 0070a (undatiert) Titelblatt Die Freiheit der Person und die Lebensordnung 1 Wenn die Freiheit für den Menschen von heute zu einem Problem von tief erregender und bedrängender Art geworden ist, so hat das zuletzt darin seinen Grund, dass unsere Gegenwart Formen der Freiheitsbeschränkung und Freiheitsberaubung hervorgebracht hat, dergleichen es in der Vergangenheit nicht ge- geben hat. Gewiss ist in allen geschichtli- chen Epochen der Mensch in der einen oder anderen Weise um seine Freiheit gebracht wor- den. Kann man doch die ganze Geschichte unseres geschlechts lesen und verstehen als eine nicht abreissende Folge von Akten der Freiheitsberaubung und solchen der Freiheit- wiedergewinnung. Und doch ist das, was die jüngste Zeit der Freiheit angetan hat, ein ohne gleichen Dastehendes und nur aus sich zu Verstehendes. Hier wie anderwärts zeigt es sich, das es die Eigentümlichkeit und Auszeich- nung des von uns zu durchlebenden Zeit- alters ist, allenthalben bis zu den letzten Konsequenzen fortzuschreiten, d.h. dasjenige, was früher nur in Ansätzen und in Verschlin- gung und Durchdringung mit andersarti- gen Motiven auffindbar war, zu seiner reinen Gestalt und kompromislos durchgebildeter 2 Gestalt vorzutrieben. Wieder und wieder versetzt es uns Heutige in jene Lagen, die K. Jaspers treffend als „Grenzsituationen“ be- zeichnet. Wir sind in jeder Hinsicht beim Extrem angelangt. Situationen von dieser Art aber haben et- was ungemein Erhellendes an sich. Sie rau- ben dem Menschen die Möglichkeit, sich über sich selbst etwas vorzumachen, denn sie reissen ihn aus dem Zwielicht verwor- ren, vieldeutiger Lebenszustände und rücken ihn als den, der er ist, in eine Beleuchtung, die so grell ist, dass ihn die Augen schmer- zen. Es ist das Zeitalter der sich demas- kierenden Menschheit, das zu erleben wir begnadet oder – verdammt sind. Aber nicht nur das, was wir gegenwärtig sind, wird uns durch das von uns zu durch- lebende Zeitalter schonungslos vor die Augen gerückt. Das grelle Licht, in dem wir uns dastehen sehen, fällt auch nach rückwärts auf den Werdegang der in diesen Endzu- stand einmündet. Vom Ziel her erhellt sich die Führung des Weges, der in ihm termi- niert. Es muss festgestellt werden, dass die Be- trachtungsweise, der damit das Wort geredet 3 wird, vielfältigem Widerspruch begegnet. Man sie „teleologisch“ und meint sie durch die in umgekehrter Richtung ver- laufende, die kausal-genetische, ersetzen zu sollen. Aber alle Einwände, die einer vom Ziel her nach rückwärts gehenden Be- trachtung gelten, sind nur dann berechtigt, wenn dies Ziel als eine um seiner Herrlich- keit willen zu preisendes hingestellt wird wenn demgemäss die zu ihm hinführende Bewegung als hererhebender Aufstieg, als „Fortschritt“, womöglich als ein durch ge- heimnisvolle Lenkung erwirkter Fortschritt interpretiert wird. Eine solche Telologie ist wirklich nichts Anderes als eine philo- sophische verbrämte Mythologie. Aber von einer so optimistisch-enthusi- astischen Teleologie ist hier nicht die Rede. Ob das, was für uns der der Gesamt- bewegung ist, zu preisen oder zu beklagen ist: das ist eine Frage, die diese unsere „Teleolo- gie“ keineswegs in positven Sinne beantwor- tet. Was ihr zu Grunde liegt, das ist nur die Überzeugung: Was in den Anfängen und Ursprüngen einer Entwicklung an Möglich- keiten und Anreizen enthalten war, das 4 können wir erst wissen, wenn die Entwicklung Wirklichkeit geworden ist und zu bestimm- ten charakteristischen Ergebnissen geführt hat. Was in der knospe an Möglichkeiten und Wachstumsreizen enthalten ist, das kön- nen wir erst wissen, wenn wir die Beute und die Frucht kennen, die aus ihr hervorgegangen sind. So lange dies nicht der Fall ist, tap- in der pen wir hinsichtlich der durch die Knospe vorliegenden Potentialität im Dunkeln. Also nur in diesem Sinne will der Satz verstanden werden, dass die Entwick- lungsphase, bei der wir heute angelangt sind, dieser nach der Zukunft hin noch offene Stand der Gesamtbewegung, eine erhellende Kraft hat, die auch der hinter uns liegenden Menschheitsentwicklung zu gute kommt. Wir sehen, wie heute die letzten Konsequenzen aus dem gezogen werden, was die vorausge- gangenen Geschlechter noch ein in die Zukunft sich vortastendes Vermuten, Versuchen, Wagen kannten. Wir sind diejenigen, die aus dem vor und nach Unternommenen die Summe zu ziehen haben. Das gilt auch und besonders hinsichtlich des Problems der Freiheit. Und zwar wird un- 5 bedenklich gesagt werden dürfen, dass dies Pro- blem nicht bloss eine unter den vielen Fragen ist, die das Zeitalter uns aufdrängt – nein, dass in ihm die Gesamtproblematik der Epoche sich wie in der Nuss zusammen- drängt. Wenn wir von Freiheitsbeschränkung und Freiheitsunterdrückung hören, dann ist es uns selbstverständlich, zunächst an solche Aktionen zu denken, in denen der Mensch von aussen her, also durch den Zugriff von Mit- menschen, in seiner Freiheit beschränkt oder seiner freiheit beraubt wird. Nun würde die so sich bildende Sachlage von einer durchsichtigen und leicht zu beurteilenden Art sein, wenn alle Freiheitsbeschränkungen, die tatsächlich vorkommen, von gleicher Art wären und folglich gleich zu beurteilen wä- ren. Denn dann ständen Freiheit und Freiheits- beraubung sich als klar geschiedene Anti- thesen gegenüber. Und versteht sich von selbst, dass alsdann der positive Wertakzent ausschliesslich auf die Seite der Freiheit und der negative Wertakzent ausschliesslich auf die Seite der Freiheitberaubung fallen würde. Allein wie falsch eine solche Deutung und Bewertung sein würde, das ins Licht zu rücken 6 ist nichts so geeignet wie der Vergleich der menschlichen Lebensverfassung mit der Verfassung gewisser tierischer Gemeinschaften, die in die nächste Nähe der Menschenwelt zu rücken man vielfach keine Bedenken getragen hat. Die Annäherung spricht sich schon in der Benennung aus. Man redet in aller Unbefangenheit von „Tierstaaten“. scheut sich sogar nicht, sie den Menschen- staaten als Muster u. Vorbild vor Augen zu halten. In Wahrheit sind diese Tierstaaten gerade durch das lehrreich, was sie von den Menschenstaaten unterscheidet. Ihre muster- hafte Ordnung beruht auf den unablenkbaren Instinkten, durch welche die jedes tierische Individuum dirigiert. Es ist eine aus d. Hand der Natur empfangene und durch die Natur aufrechterhaltene Ord- nung, der die Gesamtheit der tierischen In- dividuen gehorcht. Und das heisst: sie sind in einem Zustand der wissenlosen Getriebenheit, der sie als unfrei kennzeichnet. Wenn bei uns das Problem der Freiheit erörtert wird, dann pflegt amn sie als das Gegenteil jener kausalen Determiniertheit zu kenn- zeichnen, die sich in den Gesetzen der anorganischen Natur ausspricht. Aber viel lehr- und auf- schlussreicher ist die Entgegensetzung der Frei- 7 heit zu jener Unfreiheit, die in der Instinkt- gebundenheit des Tiers zu tage tritt. Gerade weil das im Tier vorliegende organische Leben uns so viel näher steht als der des Lebens entbehrende Stein, gerade weil die tierischen menschlichen Lebensord- Lebensordnungen den durch den Menschen nungen äusserlich so nahe stehen – gerade deshalb ist der Gegensatz der hier vorliegen- den Unfreiheit zur menschlichen Freiheit so viel lehrreicher. Der Gegensatz hebt sich von der Gemeinsamkeit des dort und des hier waltenden Lebens in besonderer Klar- heit ab. Was aber ist dasjenige, was der Vergleich dieser beiden Lebenskreise uns lehrt? Er lehrt uns, dass im Unterschied vom Tier der Mensch seine Lebensordnung nicht fertig aus der Hand sie einer Natur empfängt, die ihn durch eingeborene Instinkte in dieser Ord- nung festhält und am Ausbrechen dieser Ordnung hindert, sondern diese Ordnung sich selbst zu geben hat. Frage: ist das, wodurch sich demgemäss der Mensch hier vom Tier unterscheidet, ein Sachverhalt, um dessen willen er sich glücklich zu preisen oder um dessen willen er zu beklagen ist? Manche anthropologische 8 Erörterungen der jüngsten Zeit scheinen das Letztere nahe zu legen. Wenn man, wie etwa A. Gehlen es tut, den Menschen im Vergleich zum Tier als das „Mängelwesen“ bezeichnet, so fasst man ihn als den gegenüber dem Tier Benachteiligten auf. Worin aber besteht die Benachteiligung? Im Fehlen eben jener Instinkte, durch welche das Tier so unfehlbar in der Bahn des Gattungslebens festgehalten wird. Und trift es nicht zu, dass diese Bevor- zugung gerade in dem Walten jener Instinkte besonders schlagend hervortritt, durch welche die tierischen verbände, zumal die sog. „Tier- staaten“, zusammengeführt und zusam- mengehalten werden? Muss uns nicht wirk- lich ein tiefer Neid erfassen, wenn wir die Vollkommenheit und Reibungslosigkeit, mit der im Tierstaat die Verhaltensweisen aufein- ander abgestimmt und die Teileistungen koordiniert sind, zusammenhalten mit den endlosen Zwistigekiten, Zusammenstössen, Krisen und Katastrophen, in die wir den Men- schen gerade dann verwickelt finden, wenn er darauf ausgeht, menschliche Lebensord- nungen zu schaffen, auszubauen, zu erhalten und zu erweitern? Erweist er sich in diesem tumultuösen Geschehen nicht wirklich als 9 als das „Mängelwesen“. ? Es sind das Erwägungen, von denen nachdenk- liche Menschen im Blick auf das Tohuwabo- hu des menschlichen Daseins seitje heim- gesucht worden sind. Heute haben die einschlä- gigen Verhältnisse sich zu einem Extrem vorgearbeitet, das sie jedem Erdenbürger, der nicht an sträflicher Gedankenlosigkeit leidet, unumgehbar macht. Die Gesamtlage und die Selbstbedrohung des „Atomzeitalters“. Die Menschheit als Ganzes vor der Frage „Sein oder Nichtsein“. Die Möglichkeit der totalen Selbst- vernichtung. Nie hat das „Mängelwesen“ seine Mangelhaftigkeit so gründlich zu spüren bekommen. Aber sollen wir wirklich das Tier um seine Instinktgebundenheit = Unfreiheit benei- den? Wenn wir es täten, so käme das dem sein Wunsche gleich, von unserem Menschen erlöst und in die Dumpfheit des tierischen Daseins zurückversetzt zu werden. Ein Wunsch, der unwiderlegbar wäre – aber auch ein Wunsch, der uns Ehre machte? Es ist das Ver- langen nach dem Glück der wiederkäuenden Kuh. Was es mit der Mangelhaftigkeit des Men- schenwesens auf sich hat, darüber haben uns die Forschungen Adolf Portmanns gründ- 10 lich aufgeklärt. Sie haben uns gezeigt, dass alles das, wodurch der Mensch, biologisch ge- sehen, hinter dem Tier zurückbleibt, notwen- dige Bedingung dessen ist, was den Men- schen zum Menschen macht, angefangen mit seiner, biologisch gesehen, zu frühen Geburt. Durch den angeblichen Mangel wird der Raum freigehalten, in dem der Mensch sich muss bewegen können, um wahrhaft Mensch zu werden. Nicht so ist es, dass er, weil er miss- licher Weise am Instinkt entbehren muss, sich um Ersatzleistungen bemühen muss, die für das ihm Fehlende eintreten – es verhält sich vielmehr so, dass er aus der Gängelung durch den Instinkt entlassen sein muss um der werden zu können, der er zu sein bestimmt ist, nämlich der Träger der – Freiheit. Der vorgebliche Mangel ist die Auszeichnung des „Freigelassenen der Schöpfung“. Allerdings belehrt uns der Vergleich mit den tierischen Verbänden auch über Art und Höhe des Preises, den der Mensch für seine dafür zahlen muss, dass er sich selbst anheim- gegeben ist, dass er den Auftrag hat, sich selbst seine Lebensordnung zu schaffen. Alle jene menschlichen Irrgen und Wirrgen, die in unserer Gegenwart ihren Gipfel erreicht 11 haben, sind der Beleg dafür, das frei sein so viel heisst wie ein Wesen sein, das durch diese seine Freiheit sich selbst und sein Geschlecht so gut zu erhöhen wie zu er- niedrigen, so gut zu beglücken wie zu vernichten in den Stand gesetzt ist. Die Zwie- gesichtigkeit, die Ambivalenz der Freiheit. Der Kant der „Religion i. d. Gr. d. u. V.“ gegen den Kant der „Kr. d. pr. V.“ Die „Ver- hehrung“, „Pervertierung“. Heute sonnenklar. Die Demaskierung des Menschen ist voll- endet. Unsere besondere Frage: wie zeigt sich die Ambivalenz der Freiheit in dem Verhält- nis zwischen dem Menschen und den ihn umfassenden Lebensordnungen? Sie zeigt sich zunächst dahin, dass die Freiheit die Freiheitsbeschränkung nicht als ihr ausschliessliches Gegenteil sich gegen- über hat, sondern in einer noch näher zu bestimmenden Weise in sich schliesst. Es gilt Wesen a eine Ordnung zwischen solchen Wesen herzustellen, die „frei“ sind in dem Sinne, dass sich in ihrem Verhältnis zur Welt nicht durch feste Instinkte, sondern durch Einsicht und Wille bestimmt werden. Einsicht hat zur Kehrseite den möglichen Irrtum, der Wille schliesst in sich die Divergenz der Wil- 12 lensrichtungen, die ihrerseits so gut Divergenz der Ideen wie Divergenz der Interessen sein kann; sie schliesst obendrein in sich den Gegensatz der positivwertigen und der negativ- wertigen Willensrichtungen. Schon die erstge- nannte Divergenz würde genügen, um Frei- heitseinschränkungen unumgänglich zu ma- chen. Die zweitgenannten drängen erst recht in diese Richtung. Kurzum: gilt es eine Ordnung zu schaffen aus Wesen, die nicht instinktgegängelt, sondern frei sind, dann kann es nicht anders sein, als dass diese Wesen irgend welche Freiheitsbeschränkungen auf sich nehmen müssen. In welcher Gestalt aber treten diese Frei- heitsbeschränkungen auf? Wir sind zunächst geneigt, sie uns als von aussen oder oben her diktiert bzw. herbeigeführt vorzustel- len. Aber das ist eine unzulässige Verein- fachung. Man muss differenzieren? Die Notwendigkeit und Richtung der Differenzie- rung aber leuchtet dann erst so recht ein, wenn wir noch einmal die menschlichen Ge- meinschaftsbildung mit den „Tierstaa- ten“ vergleichen. Denn für den Tierstaat ist gerade die bezeichnend, das er der aufzu- zeigenden Differenzierung entbehrt. Der „Tierstaat“ vereinigt zweierlei in sich: er ist in einem Lebensordnung (i. e. S.) und Arbeitsordnung. Der Instinkt führt die In- viduen zusammen, und er führt sie zu Leis- tungen und durch Leistungen zusammen. Siehe den Bienenstaat! Der Honig ist nicht ein Produkt, das nach Herstellung der Einheit in einen neuen Anlauf hergestellt würde; er stellt sich im Gemeinschaftsleben sozusagen von selbst her, und der Lebens- 13 ablauf würde nicht der sein, der er ist, wenn er nicht aus sich dies Produkt hervorbrächte. Die Menschengemeinschaft aber, als eine Gemeinschaft freies Wesen, ist von vorne herein genötigt, beides auseinandertreten zu lassen. Lebensordnung und Arbeitsordnung kommen in gesonderten Anläufen zustande. Warum, ist offensichtlich. Weil die Lebensgemein- schaft nicht von Natur schon „da“ ist, muss sie in eigens darauf gerichteten Bemü- hungen erst hergestellt werden, und sie muss bereits hergestellt sein, damit dann im Rahmen und auf dem Boden einer geordneten Welt, durgegangen werden könne, auch die gemeinsame Arbeit in eine Ordnungsform brinden zu können. Uns Heutigen ist diese Differenzierung so selbstverständlich, weil wir sie in letzter Perfektion (s. o.) vor Augen haben. Hier kann man einmal so recht sehen, wie wir, die am (relativen) Abschluss Angelangten, den zu diesem Abschluss hinführenden Werdegang besser verstehen und interpretieren können als die in seinem Fortgang Begriffenen. Uns Heutigen steht die Herausdifferenzierung und Verselbständigung der Arbeitsordnung so 14 klar vor Augen, weil das System der gemein- sam zu leistenden Arbeit sich zu einer unü- berbietbaren klaren Profilierung durchgearbeitet hat. Paradigmatisch in jenem Arbeitsge- füge, das durch das Ineinandergreifen von Naturwissenschaft, Technik und Industrie seine Gestalt gewonnen hat. Worauf be- ruht seine Perfektion, worauf die mit dieser Perfektion mitgegebene Selbstän- digkeit? Sie beruht darauf, dass dieses ganze Arbeitsgefüge, und zwar sowohl in seinen theoretischen Grundlagen als auch in seiner praktischen Ausgestaltung, ausschließlich das Werk der ratio, des rechnenden planenden, disponierenden Verstandes ist. Dabei ist die Selbstabschlies- sung dieses Arbeitssystems nicht etwa der Erfolg einer nach aussen gerichteten Abwehr- aktion: sie macht sich von selbst, weil je- der von aussen kommende Eingriff seinen Ablauf stören, wo nicht unterbinden, mit- hin den Menschen um den von ihm erwar- teten Arbeitseffekt betrügen. Es ist das deut- bar allgemeinste Interesse, das dieses Ar- beitssystem seinen eigenen Gesetzen und nicht von aussen kommenden Anweisungen 15 gehorcht. Daher die radikale Verselbstän- digung dieses Arbeitssystems. Weil dies System in Anlage und Durch- führung ausschliesslich das Werk der ratio ist, darum ist es für uns das unerreichte Paradigma jenes Prozesses, den wir die „Rationalisierung“ nennen. Grundlage ist die rationale Wissenschaft par excellence, die mathematische Naturwissenschaft so wie die mit ihr schlechthin solidarische Pra- xis, genannt Technik. Ausführung ist jene gleichfalls Organisation der Arbeit, die sich in Gestalt der industriellen Produktion verwirklicht. Dies System ist wirklich die überwältigende Darstellung der ratio triumphuus. Vorbildlichkeit dieses Paradigmas auch für die anderen Lebensbereiche. Arbeitszer- legung und –zusammensetzung. Der „Betrieb“. Das „team-work“. An allen Ecken und Enden. Aber nun unsere Freihei Frage: was wird innerhalb dieser total rationalisierten Ar- beitsordnung aus der Freiheit des Menschen. Glaube der Aufklärung: Fortschreiten der ratio = Fortschreiten der Humanität. Voll- endung der Rationalisierung = Triumph der 16 Humanität. Ist dieser Glaube im Recht, dann muss sich innerhalb des rationalen Arbeits- systems, ja durch das rationale Arbeitssystem die Freiheit des Menschen vollenden! Seitdem die Aufklärung sich an diesem Glauben begeistert hat, ist der Prozess der Rationalisierung unauf haltsam und in ständig sich steigendem Tempo fortgeschrit- ten. Wir sehen ihn auf einem Kulmina- tionspunkt angelangt. Wir können also sehen, ob die aufklärung mit ihrer Zuver- sicht Recht gehabt hat. Wie unsere antwort ausfallen muss, ist kaum zweifelhaft. Das Werk der menschlichen ratio ist uns Kraft der ihm innewohnenden Logik „über den Kopf gewachsen.“ Die Klagen über die Herrschaft des „Apparats“, über den Prozess der „Mechanisierung“, „Kollektivierung“, „Standardisierung“ – über das Los des „Funk- tionärs“, des „Roboters“. Die durch die ratio bewirkte Verselbständigung des Arbeitssystems ist nur Herrschaft dieses Systems über den ihm eingeordneten Menschen geworden. Was ist das Merkwürdige an dieser Ein- schränkung der Freiheit, die von vielen Kultur- kritikern als Vernichtung der Freiheit ange- sehen wird? Sie ist nicht von aussen her 17 über den Menschen gekommen, denn die ratio, die sie bewirkt hat, hat im Menschen selbst Sitz u. Ursprung. Sie ist aber auch nicht Folge eines Fehltritts, denn die ratio ist nicht nur eine legitime Funktion des Menschen, sie ist ihm auch in seiner Selbst- behauptung unentbehrlich. Wie aber ist es dann zu erklären, das eine im Menschen selbst heimische völlig legi- time Funktion – Unfreiheit des Menschen bewirken kann? ratio ist Erhebung über die Individua- lität aus den Kräften eben der Individuali- tät. das „reine“ Denken! Absinken alles Nicht-Allgemeine. Berechtigter Triumph des diesen Aufstieg vollziehenden Menschen- geistes. Aber nicht die Kehrseite vergessen: das, was absinkt, ist zwar auch, aber nicht nur das Allzu-menschliche – es ist auch das den Menschen - z,B. die Moti- ve, die jenen Aufstieg in Gang bringen! Tri- umph der Ratio ist Selbst- Entindividua- lisierung. In der reinen Theorie zu ertragen. Aber bei Übertragen in die Lebenspraxis kann es zu einem Druck auf das individuelle Selbst führen, der als verlust des personalen Seins beklagt wird. Je mehr die rationale Arbeitsordnung sich perfektioniert, um so 18 mehr fühlt sich d. Mensch in seiner Frei- heit beeinträchtigt. Und doch ist das auf ihn drückende Ganze ein Werk der ratio und damit ein Werk der – Freiheit. also: Freiheitsbeschränkung als Werk der sich betätigenden Freiheit! Hier ist nirgend Druck, Zwang, Knechtung – hier herrscht nur eins: das Gebot der durch die ratio enthüllten „Sache“. Ganz anders das Bild, wenn wir nun von der verselbständigten Arbeits- ordnung hinübergehen zu dem, was ich „Lebens- ordnung“ (i. c. S.) nannte. Zunächst ist dies festzustellen: die ratio- nale Arbeitsordnung könnte nicht entste- hen, sich entwickeln, sich zu der Vollkom- menheit ausgestalten, in der sie uns vor Augen steht, wenn nicht die Gesamtheit de- rer, die innerhalb dieser Ordnung tätig sind, vor solchen Störungen und Widerständen geschützt >wäre>, die ihnen die Arbeit an der Sache unmöglich machen würden. Das Funk- tionieren der Arbeitsordnung hat zur notwe- digen Voraussetzung das Bestehen einer Le- bensordnung, durch welche dem Bereich der Arbeit eine ungestörte Arbeitsmöglichkeit 19 garantiert wird. Funktionaler Zusammen- hang von Arbeitsordnung und Lebensord- nung. Was aber ist dasjenige, was sub specie der Freiheitsfrage die Lebensordnung am tief- sten von der Arbeitsordnung unterscheidet? Das, was in der Arbeitsordnung dirigiert, das ist das Gebot der Sache. Die Sache zu ermitteln und zur Herrschaft zu bringen ist der Auftrag der ratio. Die ratio setzt sich vollkommen gewaltlos durch: nur durch die Einsicht in die durch sie enthüllten Sachzusammenhänge. Daher: Logik der Sache. Die Lebensordnung aber: gehorcht etwa auch sie der selbstevidenten Logik eines durch die ratio enthüllten Sachzusammenhangs? Davon kann einfach keine Rede sein, weil das Leben der Gemeinschaft zwar u.a. auch die Betätigung der ratio in sich schliesst, aber mit ihr zusammen auch das Ganze der individuell bedingten, also nicht der ratio weichenden Meinungen, Strebungen, Über- zeugungen, Bekenntnisse in sich befasst, mit denen die ratio zusammengeschaut wer- den muss, damit der ganze Mensch und nicht ein rationaler sichtbar werde. Damit aus diesem Miteinder, Für- 20 einander, Gegeneinander eine wirkliche Lebens- ordnung werde, bedarf es genau desjenigen, was im Herrschaftsbereich der ratio überflüssig ist: der Zwangsgewalt, die überall da einge- setzt werden muss, wo der Widerstreit indi- vidende bedingter Strebungen die Ordnung zu zerstören droht. Und zwar bedarf es des Einsatzes oder wenigstens der Androhung dieser Zwangsgewalt nicht bloss gegen die Rechtsbrecher, nicht blos gegen die im Eigen- interesse Befangenen: es bedarf ihrer auch gegenüber denen, die vielleicht aus sehr ide- ellen Motiven der herrschenden Ordnung den Gehorsam verweigern. Träger dieser Zwangs- gewalt in legalem Sinne zu sein: das ist dasjenige, was den Staat, diese „Instanz der letzten Entscheidung“, als solchen kennzeichnet. Hier also begegnet uns diejenige Freiheit- beschränkung, die durch Einsatz physischer Gewalt bewirkt wird – eine Freiheitsbeschrän- kung die wesentlich schmerzhafter empfun- den wird als diejenige durch die rationale Ar- beitsordnung. Siehe den funktionalen Zusam- menhang: die rational begründete und daher gewaltlose Arbeitsordnung ist nur möglich durch das Bestehen der die Ruhe garantierenden, 21 aber eben deshalb der möglichen Gewalt- annäherung bedürfenden Lebensordnung i. e. S. Wie naheliegend ist da der Gedanke: wie viel schön wäre doch das menschl. Leben, wenn nicht nur die Arbeitsordnung, sondern auch die Lebensordnung durch die Gebote einer ratio bestimmt würde, die durch ihre Evidenz die Gewalt ebenso überflüssig machte, wie es die die Arbeitsordnung bestimmende ratio tat- sächlich tut! Die alte und niemals verschwindende Hoffnung der Aufklä- rung: je mehr sich d. Staat an die Ge- bote der ratio hält, um so mehr wird durch die ihr Evidenz der Zwist der Meinungen ausgelöscht, der Zustand wider die Ordnung zum Verschwinden gebracht, mithin auch in d. Lebensordnung, im Staat, die Anwendung der physischen Ge- walt überflüssig gemacht werden. An die Stelle des funktionalen Zusammenhangs würde die Identität der einen und einzigen Vernunftordnung treten. Wir heute Lebenden sind in der ungewöhn- lich glücklichen Lage, dass wir es nicht nö- tig haben, uns darüber den Kopf zu zerbre- chen, ob eine solche totale Rationali- 22 sierung auch der Lebensordnung i. E. S. möglich wäre und welche Folgen der Ver- such, den Staat total zu rationalisieren, haben müsste. Vor unser aller Augen vollzieht sich ein weltgeschichtliches Ex- periment, das seinem prinzipiellen Cha- rakter nach nichts Geringeres bedeutet, als die den Versuch, auch die Wirklichkeit der staatl. Lebensordnung total zu rationali- sieren, und zwar mit der ausdrücklichen Ver- heissung, dass in der Durchführung dieses Ex- periments die staatliche Zwangsgewalt sich selbst mehr und mehr überflüssig ma- chen werde, weil an ihre Stelle die Evidenz der allbeherrschenden ratio treten werde. Ein faszinierendes Experiment! Wieder- aufnahme des Programms der Aufklä- rung. Das Experiment wird durchgeführt durch den Kommunismus. Der Staat der konstruiert ratio ist nach den Anweisungen „der“ Wissenschaft, der alleingültigen Wissenschaft des dialekti- schen Materialismus. Der Staat, der durch diese Wissenschaft als der allein richtige, weil durch die Dialektik der Geschichte geforderte, erwiesen wird. Der Staat, der, weil er mit d. Vernunft in vollkommenem Einklang steht, 23 nicht nur die universale Herrschaft errin- gen, sondern auch die ihn Angehörigen zu vollkommen Tugend und Glückseeligkeit emporheben wird, mit dem Effekt, dass in dem Paradies der „klassenlosen Gesellschaft“ die Staatsgewalt (Gericht, Polizei, Armee) vollkommen überflüssig sein wird. Der Paral- lelismus mit der rational-gewaltlosen Arbeitsordnung ist evident. Er wird noch deutlicher, wenn die den Staat dirigierende wissenschaftliche ratio als bezeichnet wird, die durch Aufdeckung der „Naturgesetze der Gesellschaft“ den notwendigen Gang der Entwicklung evident mache. Wie die Technik die Naturgesetze der Natur in rational begründete Praxis umsetzt, so die politische Ingeneuweisheit des Kommu- nismus die Naturgesetze der Gesellschaft. Und was lehrt der Ausfall dieses Experi- ments? Die Gewalt, die angeblich durch die rationale Evidenz der Gesellschaftswissenschaft überflüssig gemacht werden soll, ist in Wahrheit obenauf. Und das ist nicht begründet in dem Charakter der Macht- haber, sondern in der Natur eines politischen Systems, das behauptet, das ganze Leben der Gesellschaft rationalisieren zu können. Eine unausweichliche Konsequenz! 24 Wieso ist das der Fall? Es genügt zur Antwort, wenn wir erken- nen, dass die Bedingungen, durch die es möglich wird, dass in der Herstellung der Arbeitsordnung die ratio durch ihre Evidenz jeden Eingriff der Gewalt überflüssig macht, sich dann in ihr Gegenteil verkehren, wenn es um die Herstellung und Sicherung der Le- bensordnung i. e. S. geht. <...eiches> Muster der Arbeitsordnung ist das Arbeitsgefüge der industriellen Pro- duktion. Sein Fundament ist die rationale Wissenschaft von der Natur, die math. Natur- wissenschaft. Ihre Erfolge beruhen darauf, dass in ihr das denkende „Subjekt“ sich die zu den- kende Natur als das „Objekt“ entgegen-setzt. Das Lebendigste par excellance, das sich Mensch nennt, setzt sich das Un-lebendige als das zu Berechende und zu Verwertende entgegen. „Person“ u. „Sache“. Der Sache ist diese Behandlung angemessen, weil sie „un-selb. stisch“ ist. Die Rückführung auf Naturgesetze ist die ihr angemessene Form der „Versachli- chung“. Wie aber steht es dann, wenn die ratio sich anschickt, die Menschenwelt zu „rationali- 25 sieren“? Hier hat es nicht die Person mit der Sache, das Selbst mit dem Unselbstischen zu tun: hier begegnet der Mensch seines gleichen. Es ist seine eigene Welt, die er zu ordnen unternimmt. Diese Ordnung ist nur dann eine wahrhaft menschliche Ordnung, wenn sie die Selbstheit der zu ordnenden Wesen respektiert. Das heisst aber: wenn sie sich strengstens verbietet, sie theoretisch und prak- tisch in Sachen zu verwandeln. Genau dies ist es aber, was die begründende „Wissenschaft“ schon durch ihre logische Form unternimmt. Die unter die naturgesetzliche Notwendigkeit subsumierte Person ist die ihrer Selbstheit be- raubte, die in eihe Sache verwandelte Per- son. Die unbedingte Einordnung in das natur- gesetzlich determinierte „Kollektiv“ ist die schon auf dem Boden der Theorie anhebende Vergewaltigung des Menschen als Menschen. So ist schon in der tragenden Doktrin der Entwurf einer Lebensordnung mitgegeben, die im Namen der ratio den Menschen dazu verurteilt, seine Selbstheit an eine übergrei- fende Notwendigkeit dahingeben. Alles, was ihm als Individuum zu eigen ist, muss sich die Annullierung gefallen lassen. Die allbekannte Praxis des Kommunis. 26 ist (im Sinne der komm. Verhältnisbestim- mung von Theorie und Praxis) nichts weiter als die Exekutierung des in d. Theorie Vor- gezeichneten. Der komm. Staat kann garnicht anders als die faktisch vorhandene Viel- heit von Meinungen, Strebungen, Bekenntnissen u. Programmen zu gunsten der von ihm als „rationale“ <....nisierten> Doktrin mit al- len Mitteln unterdrücken. Die Vergewalti- gung setzt ein mit der Austilgung der mit der Doktrin nicht konformen Lehrmeinungen. Und durch die so monopolisierte Doktrin wird dann der Kommunismus nicht nur be- vollmächtigt, sondern geradezu verpflichtet, alles im Menschen auszulöschen, was sich gegen das Aufgehen im ommunistisch interpretierten und organisierten „Kollektiv“ widersetzt. Denn nur auf diese Weise kann die Person im Menschen so zur Sache herabgedrückt werden, dass sie die durch die angebliche ratio ver- ordnete Behandlung ohne Widerspruch über sich ergehen lässt. Die unter die naturgesetzliche Notwendigkeit, die der unlebendigen Sache angemessen ist, wird hier in der Weise praktiziert, dass einem jeden der zu Subsumierenden die Überzeu- 27 gung eingebläut wird, diese Subsumierung sei genau diejenige Behandlung, die durch die ratio der Wissenschaft als angemessen, ja als strengstens geboten erwiesen werde. Er wird nicht nur subsumiert, er weiss auch dass und weshalb er subsumiert werden soll. Dies die Konsequenzen, in die der Versuch einer totalen Tationalisierung der Lebensord- nung notwendig einmündet. Durch den Kommunismus werden sie uns vorexerziert. Der versuch, durch Inthonisierung der ratio das menschl. Leben von aller Ge- waltausübung zu befreien, schlägt um in vertausendfachte Anwendung der Gewalt, weil nur durch sie das gemeinsame Leben in die gewünschte Form gezwängt werden kann. Ergebnis: die funktionale Verbindung verschiedener Lebensphären darf nie durch den Versuch der Gleichschaltung zerstört werden! Wenn wir aber der staatl. Lebensordnung respektieren, dann stellt sich in ihm selbst ein beachtlicher Widerspruch. Die Tendenz zur Rationalisierung ist innerhalb seiner selbst als Organisation der Verwaltung in 28 unaufhaltsamen Vordrängen (s. o.: aus Vorbild der industriellen Produktion). das heisst: derselbe Staat, der als ganzes der Versuchung der totalen Rationalisierung Wider- stand leisten muss, kann nicht anders als ihr in seinen Innengliedern <..> kräftigen Vorschub leisten. Wie muss die Gesamt- verfassung des Staates aussehen, damit er nicht den ihm innewohnenden Rationa- lisiergstendezen zum Opfer falle? Antwirt wieder im Blick auf das Gegen- bild des kommunistischen Staates: Demo- kratie als Verneinung der totalen Rationa- lisierung. Gegen die monolithische Geschlos- senheit der kanonisierten Staatsdoktrin das Miteinander, Füreinander, Gegeneinan- der der Überzeugungen u. Gruppen, nicht als leider hinzunehmende Tatsache, sondern als Prinzip. Jede dogmatische Verhärtung verneint. Alle Schattenseiten der Demo- kratie, von ihren Verächtern gründlich ge- schmäht, gehören zu dieser gewollten Polyphonie hinzu. Eine perfekte Demo- kratie wäre der Widerspruch gegen sich selbst, sie wäre des (schein-) perfekten totalitären Staates. Ewige Selbst- korrektur ist ihr Wesen.