Bestand:Privatarchiv Litt, Theodor
SignaturNA Litt, Theodor V 0069
TitelFühren und Denken
Enthälta) hs; 5 Doppelblätter 10,5 x 14,8 cm = Titelblatt + S. 1-14 b) hs; 1 Blatt 10,5 x 14,8 cm = S. 1-2
Zeitvon1958
Zeitbis1958
BemerkungenDokumentenabschrift: V 0069a (1958) Titelblatt Führen und Denken (Hofgeismar 1958) 1 Wenn ich das Wort „Führen“ höre, dann legt Nervöses Zittern. es sich mir wie ein Alpdruck auf die Brust. Zwei Lebenserfahrungen haben mir diesem Wort gegenüber die Unbefangenheit geraubt. Die eine ist Ihnen mit mir gemeinsam. Es ist die Erfahrung der wahrhaft ungeheuer- lichen Inflation, der dies Wort in der Nazi- zeit zum Opfer gefallen ist. Nicht nur der Führer-Mythos, durch den Hitler in Götter- höhe emporgehoben wurde, Sondern auch die Tausende und Abertausende von Mini- atur-Hitlers, die der Parteiapparat aus- brütete. Dickbäuchige und krummbeinige Amtswalter mit napoleonischen Allüren. Die zweite Erfahrung wurde mir durch Kon- troversen in der Pädagogischen Provinz be- schert. Weimar 1926. Erziehen = Führen, näher besehen: = politisches Führen. Mein Einwand: Erziehen = Zu sich selbst – Füh- ren, Entscheidung offen halten. Innerer Widerspruch der Reformpädagogik: „Recht des Kindes“ kombiniert mit Programma- tik der Zukunfts-Gesellschaft. Verteidigung der Gegenseite: wir „führen“ das Kind den Weg der „naturgemässen“ Entwicklung. Heute kennen wir diese Melodie nur zu gründlich: es ist die Melodie des kommunistischen Staa- 2 tes. Ich glaube, dass dieser Streit sehr geeig- net ist, uns in das Herz unseres Problems hineinzuführen. Denn die Begriffe „Er- ziehen“ und „Führen“ gehen gerade im Be- reich des Militärischen eine höchst charak- teristische Verbindung ein. Es ist kein Zu- fall, dass die „Führer“-Ideologie des dritten Reichs immer wieder auf das Muster des Militärischen zurückgriff. Ideal war die totale Militarisierung des gemeinsa- men Lebens. Gerade an diesem Gegenbild zeichnet sich die tatsache ab, dass, im Gegensatz zu dem Uniformisierungsdrang der tota- litären Systeme, das vielgestaltige Leben darnach verlangt, die verschiedenen Lebens- sphären darnach verlangen, sich gemäss ihrem Eigengesetz zu entfalten zu sehen. Und dass heisst, dass das Grundverhältnis, das mit dem Wort „führen“ gemeint, sich in- haltlich modifiziert, ja nach dem <..l- che.> Lebensbereich ins Auge gefasst wird. Das Verhältnis der Über- und Unterordnung durchgreift die allermeisten Lebenssphären; aber es hat ein sehr verschiedenes Gesicht, je 3 nachdem, wo es sich realisiert. Von den Sphären des Militärischen ist es klar, dass sie unter den den inhaltlichen Schat- tierungen sozusagen die schärfste, also ein Extrem repräsentiert. Nirgendwo muss so streng gehorcht, so entschlossen kom- mendiert werden wie im militärischen Leben. Wenn dieses Leben ebenso viele Lob- preisungen – die seine sittlich-erziehe- rischen Wirkungen betreffen – wie Schmähun- gen – die seine depersonalisierenden Wir- kungen betreffen – erfahren hat so beruht das eben aus der Schärfe des ihm Füh- rungs-Begriffs. Eben deshalb bietet aber auch das mili- tärische Leben auch ein unübertreffliches Demonstrationsobjekt für die Problematik des „Führungs“-Begriff. Es zeigt das Prinzip der Führung in letzter zuspitzung, und doch enthält das Prinzip der militäri- schen Führung das Moment des Erzie- herischen in sich. Denn die recht ver- standene militärische Führung bean- sprucht nicht bloss, dass der Mann ge- horcht – das könnte blosser Kadaver-Ge- 4 horsam sein – sondern auch dass er aus innerer Bereitschaft heraus gehorcht, dass er, kurz gesagt, gehorchen will. Das kann er nur dann, wenn er die Notwendigkeit des Gehorchens einsieht. Und diese „Einsicht“ wiederum besagt nicht: dass er das Notwendige und Sinnvolle jedes ein- zelnen Befehls einsieht – das ist oft unmöglich – sondern dass er auch die Not- wendigkeit einsieht, auch da zu gehorchen, wo nicht die Notwendigkeit jedes einzel- nen Befehls eingesehen werden kann. Die Disziplin der Truppe besteht zuletzt in der Bereitschaft, auch den nicht in seiner Not- wendigkeit eingesehenen Befehl der vor- gesetzten Stelle zu befolgen. Erzieherische Aufgabe der Führung ist es, diese Bereit- schaft, die das Gegenteil blinder Unterwür- figkeit ist, hervorzubringen. „Befehl ist Befehl“. Wie ferne diese Bereitschaft von blind-me- chanischer Gefügigkeit ist beweist der Um- stand, dass es Befehle gibt, deren Ausfüh- rung wegen ihres widersittlichen, wohl gar verbrecherischen Charakters, also doch aus 5 Einsicht in diesen ihren Charakter, verwei- gert werden muss. Siehe die einschlägi- gen Fälle der Nazi-Zeit. Gewissenskon- flikte der Führenden. Der Handelnde ist auf einmal an sein eigenes Gewissen als die oberste Instanz verwiesen. Sein Gehorsam ist ein vom Gewissen diktier- ter, aber auch durch das Gewissen begrenz- ter Gehorsam. Der Geführte hört auf, ein bloss Geführter zu sein. Er ist zu einem sich selbst Führenden geworden. Weil es darauf ankommt, diesen Typus Soldat herumzuziehen, darum ist der Zusammenhang v. Führen und Denken so eng und die erzieherische Seite der mili- tärischen Ausbildung so eminent wichtig. Denn nicht nur wollen wir den Führenden, dessen Führung inspiriert ist durch Ein- sicht in das zu Tuende, wir wollen auch den Geführten, der sich aus Einsicht, also als ein Denkender, führen lässt, und der unter bestimmten Umständen aus Einsicht, also wiederum als ein Denkender, den Gehorsam verweigert. 6 An dieser Stelle angelangt fragen wir uns: was bedeutet in all diesen Überle- gungen das Wort „Denekn“? Offenbar viel mehr als die Einsicht in den militärischen Entwurf, die militärische Aufgabe als solche. Das ist eine notwendige Sache, aber doch eben Sache der ratio, des verstandesmässigen Begreifen. Aber wenn wir Einsicht in die Notwendigkeit des Gehorchens und in die Grenzen des gebotenen Gorchens verlan- gen, dann appellieren wir nicht mehr bloss an die ratio – wir appellieren an das, was Hegel die „denkende Sittlichkeit“ nennt. Exkurs über das Verhältnis von Denken und Sittlichkeit. Neigung, beide auf Hirn und Herz, Verstand und Gefühl, Intellekt und Charakter zu verteilen, wo- möglich so zu verteilen, dass immer das eine Glied verlieren muss, was das ander gewinnt. In Wahrheit gehört zum sittlichen Handeln nicht nur das Gefühl für recht und Unrecht, Gut und Böse, sondern auch die Einsicht in die Situation, in der diese allgemeinen „Werte“ zu realisi- 7 ren sind. Nicht bloss „anzuwendende“ „Regeln“, anzulegende „Massstäbe“, sondern allge- meine , die „konkretisiert“, d. h. in die besondere Lage hineingedacht werden wollen. Alle Problematik des sittlichen Lebens hat darin ihren Grund, dass dies Leben immer mehr ist als gehor- same Befolgung allgemeiner Vorschriften. Gerade die Nazi-Zeit hat den deutschen Menschen und zumal den deutschen Soldaten in Konflikt-Situationen hinein- gestellt, die durch allgemeine „Massstäbe“ nicht zu entscheiden waren. Gerade der Soldat, der nach klaren, eindeutigen Anwei- sungen verlangt, muss xx es mit Situati- onen von solcher Art besonders schwer haben. Und doch muss er wissen: das Leben, in dem wir Menschen unserer Zeit stehen, wird Situationen von solcher Art wieder und wieder herbeiführen. Die un- geheuere Kompliziertheit des modernen Lebens. Wie einfach hatte es, damit vergli- chen, der Soldat und zumal der Offizier der kaiserlichen Zeit. Ein fester Kodex des 8 zu Tuenden und des zu Lassenden. Der Of- fizier des heutigen Deutschland muss wis- sen, dass diese endgültig verloren ist. Der „Bürger in Uniform“ist nicht mehr ein abgeschlossener Stand mit ebenso abge- schlossener Standesethik. Er steht mitten in den Komplikationen des modernen Le- bens. Soviel aber bedeutet „Denken“, wenn wir es mit den Aufgaben der militäri- schen „Führung“. Nun wird man erwidern: du hast gut reden. Überforderst du nicht den Solda- ten, zumal den Offizier? Können wir hoffen, dass so hoch getriebene Forderungen realisiert werden? Ist das nicht ein nicht zu verwirklichendes Ideal militärischen Führertums? Antwort: die Anforderungen stelle nicht ich, sondern die Zeit, in die wir alle gestellt sind. Nicht nur der Soldat, wir alle haben es als Söhne dieser Zeit schwerer als unsere Väter. Die weltgeschichtliche Last muss 9 aufgenommen und getragen werden. Wir können uns unsere Situation nicht aus- suchen, wir finden uns in ihr. Herders Mahnung gegen den üblichen Kulturpes- simismus. Hinter dem Vorgetragenen steht eine bestimmte Auffassung von der Situation des Menschen, eine im Kern tragische Auffassung. Zweite, berechtigte Frage: wie weit ist zu hoffen, dass sich Menschen finden, die den in der Lage liegenden Forderungen in- nerlich gewachsen sind? Antwort: je schwieriger die Lage, desto ungünstiger das Verhältnis zwischen den ihr Gewach- senen und den vor ihr Versagenden. Auskunft ist : einjeder tue das Seine. Das besagte Missverhältnis besteht schon dann, wenn wir nur nach dem „Denken“, d.h. nach der denkenden Bewältigung der in der Lage liegenden Forderungen fragen. Aber das Missverhältnis verstärkt sich, wenn wir nach dem durch das Denken x gle geleiteten „Führen“ fragen. Denn es genügt ja nicht, dass der Führende bloss 10 denkend, d.h. für sich als Einzelne, mit der Lage fertig werde. Als Führender hat er den Auftrag, die in ihm selbst lebende Einsicht auf die von ihm Geführten zu übertragen, und zwar so wohl generell, als Erfassen der allgemeinen Situation des Soldaten in der komlexen Welt, als auch speziell, als Erleuchtung der gerade nach Bewältigung verlangenden konkreten Situation. Wie weit besteht Aussicht, dass diese Übertragung gelingt? Hier kann ich nur von meinen Erfah- rungen als Erzieher verschiedener Stufen aus urteilen. Übertragung auf die mi- litärische Welt, die ja auch eine erziehe- rische Welt ist, ergeben sich leicht. Erste Erfahrung: die Zahl derer, die schon im Denken und Urteilen mit der Situa- tion fertig zu werden grosse Mühe haben, ist beängstigend gross. Kein übelwollen- der Tadel! Die Welt von heute ist geistig unendlich schwer zu bemeistern. Die Rat- losigkeit des von der Tradition im Stich Ge- lassenen im Angesicht einer Welt, die Be- ratung besonders erscheinen 11 lässt. Zweite Erfahrung: mit der Fähigkeit, die Zeit denkend zu bemeistern, mit einem wirklichen kultivierten „Denken“ verbindet sich keineswegs stets und notwendig die Fähigkeit zum „Führen“, d.h. die Fähigkeit, eigene Einsicht auch in Anderen wirksam werden zu lassen. Naheliegender Wunsch: Proportionalität zwischen Denkvermögen und Führungsqualität. Leider entspricht die menschliche Realität diesem Wunsch ganz und gar nicht. Auf der einen Seite gibt es Menschen von entwickel- ter Denkkultur und klarstem Urteils- vermögen, denen es nicht gegeben ist, ihren innern Besitz auch bei andern wirk- sam zu machen. „Denken ohne Führen“. Noch beängstigender das Gegenphäno- men: Menschen mit schwach entwickeltem oder fehlgehendem Denkvermögen, aber starker Suggestionwirkung auf ihre Mit- menschen. Goethe über das „Dämonische“. Dichtung und Wahrheit Buch. 20. „Eine un- geheure Kraft geht von ihnen aus“. Das sind 12 „Führer“, deren unheimliche Macht uns Ge- stalten wie Hitler verkörpern. Impondera- bilien des Auftretens. Solche „Führer“ sind dann „Ver-führer“. Sie sind nicht ohne „Denken“, aber ihr Denken ist ein in die Irre gehendes und missleitendes Denken. Was wir wünschen müssen, dass sind echte Führer-Qualitäten verbunden mit einem gesunden und heilbringenden Den- ken. Wie oft wird dieser Wunsch erfüllt? Es gehört zum ewigen Schicksal alles Menschlichen: das Missverhältnis zwischen der Zahl von Stellen und Posten, die darnach verlangen, durch Menschen mit echten Führerqualitäten ausgefüllt zu werden, und der Zahl der zur Verfügung stehenden Menschen, in denen diese Forde- rung sich erfüllt. Die Zahl der Posten rich- tet sich nach dem Aufbau des gesellschaft- lich poltischen Systems. Mit der fortschrei- tenden Objektivierung des Ganzen vermeh- ren sich die Stellen und vermannigfaltigen sich die an ihnen zu erfüllenden Forderungen. Das System mit seinen sachbedingten For- 13 derungen fragt nicht darnach, ob die Men- schen mit den geforderten Qualitäten in der geforderten Zahl vorhanden sind oder nicht. So muss immer wieder das, was an Menschen vorhanden ist, sich mit dem System der Sachforderungen schlecht und recht abfinden, und dabei stellt sich dem unweigerlich das aufgezeigte Missverhältnis heraus. Es wäre ein Wunder, es wäre „ Harmonie“, wenn es anders und besser wäre. Einzige Abhilfe: in jedem Leistungs- system müssen <..> seinen Forderungen Gewachsenen für die mit einstehen, die mit sich nehmen, die mit „verkraften“, die den Forderungen nicht voll gewachsen sind. Das habe ich in allen Kollegien erfahren, das wird auch in jedem besonderen Offi- zierskorps so sein. Und das Führertum der ihrer Aufgabe voll Gewachsenen wird sich nicht zum wenigsten daran abmessen lassen, wie weit es ihnen gelingt, durch den Ernst und Schwung ihrer Tätigkeit die Matteren mit sich zu reissen. Dort Kol- 14 legialität, hier Kammeradschaft, alles Korrek- tiv fehlender Führungsqualitäten. Mensch- liches Zusammenleben – und –wirken kommt ohne solche Hilfen, usw. nicht aus. V 0069b 1 Zittern. Zwei Erfahrungen. „Recht des Kindes.“ „Naturgemäss“. Heute Melo- die des Kommunismus. „Erziehen“ und „Führen“ im Militä- rischen. Siehe Drittes Reich! Scheidung der Lebenssphären. Modi- fikation der Hierarchien. Militär: Extrem. Kommandieren und Gehorchen. Preis und Schmähung. Paradigma! Erzieherisches imma- nent. Befehlen – und Gehorchen lernen. Einsicht und Freiheit. Verweigerung des Gehorsams. Gewis- sen! Selbst denken. Deshalb „Führen und Denken“! Was heisst „Denken“? Mehr als Sach- einsicht. ratio. „Denkende Sittlichkeit“. Exkurs: Denken und Sittlichkeit. „Intellekt“ ud „Charakter“? Einsicht in Situation. Nicht bloss „anwenden“. „Mass- stäbe“! Konkretisierung. Konflikte der Nazi-Zeit. Kompliziertheit des Lebens. Auch f. d. Soldaten! Vgl. Kaiserzeit! Kodex. Heute: „Bürger in Uniform.“ 2 Dies also: „Denekn.“ Überforderung? Zu hoch? Die Zeit fordert. Last der Weltgeschich- te. Herder u. d. Kulturpessimismus. Realisierung zu hoffen? verhältnis zwischen Forderung und Erfüllung. Tue das Beste! Missverhältnis schon im „Denken“. Erst recht im „Führen.“ Übertragen! Schulerfahrungen. 1) Minderzahl der denkend Gewachsenen. Ratlosigkeit 2) „Führen“ noch fraglicher. Keine Propor- tionalität. Zwei Extreme. das „Dämo- nische“. Imponderabilien. „Ver-füh- rer“. Fehlgehen des Denken. Wie selten Beides vereinigt! Missverhältnis zwischen System der „Stellen“ und den Menschen. Nachfrage und Angebot. Missverhältnis. +) Abhilfe: Kameradschaftliches Mit- tragen. Auch hier: „Führen“! Schönste Bewährung. +) Besonders schmerzlich, wo nicht auf Sachen, sondern auf Menschen zu wirken ist.