Bestand:Privatarchiv Litt, Theodor
SignaturNA Litt, Theodor V 0064
TitelDie Freiheit des Menschen und der Staat
Enthälta) hs; Doppelblatt + 20 Blätter 10,5 x 14,9 cm = Titelblatt + S. 1-36 (11,11a; 18,18a) b) hs; 2 Blätter: 10,5 x 16,5 cm + 10,4 x 14,8 cm = S. 1-3 c) Zeitungsausschnitt: aus ? vom 13.12.1952: Uninteressiert und mißtrauisch? Wie steht die Jugend zur Politik? - Prof. Litt sprach.
Zeitvon1952
Zeitbis1952
BemerkungenDokumentenabschrift: V 0064a (undatiert) Titelblatt Die Freiheit des Menschen und der Staat. 1 Ein Thema, das den Menschen beschäf- tigt hat, seitdem der über den Staat zu re- flektieren begonnen hat, und das zugleich von höchster Aktualität ist, weil dies Pro- blem in der Gegenwart eine neue Gestalt angenommen und eine kaum je dage- wesene Dringlichkeit gewonnen hat. Die Kollision zwischen menschl. Freiheit und Staat hat eine unüberbrückbare Schärfe angenommen. Wieso? Die Antwort ist zunächst zu geben im Hinweis auf die totalitären Staaten. Worin liegt das heute? Despotien v. unerhörter Grausamkeit hat es in den verschiedensten Epochen der Geschichte gegeben. Die Eigen- tümlichkeit der modernen totalitären Systeme liegt nicht nur darin, dass die Mittel der Beaufsichtigung und totalen Einspannung des Einzelnen eine nie dage- wesene Vollkommenheit erreicht haben – eine Vollkommenheit, die es möglcih macht, dass ungezählte Millionen von einem zetralen Punkte aus in jeder Le- bensregung beobachtet und in allen Ein- zelhandlungen kontrolliert und dirigiert werden. Sie liegt vor allem darin, dass sie mit allen Mitteln auch die Seelen zu un- terwerfen nicht ohne Erfolge bemüht sind. 2 Vgl. das alte „“: hier ging es nur um die äussere Zugehörig- keit zur Kirche. Aber die totalitären Systeme gesellen dem Druckmittel des äussersten Terrors die Propaganda, d.i. den Seelenfang, die Okkupation des Denkens, Fühlens, Wol- lens. Siehe G. Orwell, 1984, „Er liebte den grossen Bruder“! Nicht nur die äussere, auch die innere Freiheit wird attackiert, und dieser Seelenfang hat deshalb Er- folg, weil im Menschen selbst etwas die- sem Werben entgegenkommt. Man will, ratlos müde geworden, geführt, eingeordnet werden. Der Umschlag von den Ausschweifungen des Individualismus zu dem Ausruhen im Kollektivismus. Die Verapparatisierung des Lebens als wirksamste Unterstützung. Und darin, in dieser Kapitulation, liegt die Preisgabe des Selbstseins und damit der Sturz in die tiefste, nämlich die selbstge- wollte Unfreiheit. Unfreiheit, gegen die man sich innerlich noch wehrt, ist dem- gegenüber Freiheit. Dies die totalitären Systeme: Aber man hüte sich, zu glauben, dass in der Welt, die sich selbst die „freie“ nennt, die Welt diesseits des eisernen Vorhangs, es an anderen Freiheitsbedrohungen fehle. Gewiss 3 bleibt der ungeheure, oft unterschätzte Unter- schied, dass hier erstens der Zwang und zwei- tens (mindestens so wichtig) die staatliche Monopolisierung einer bestimmten Form der Seelenbeeinflussung wegfällt. Es kon- kurriert eine Mehrzahl v. Überzeugungen u. Programmen, die um die Seelen werben, die sich gleichsam gegenseitig in der Schwebe halten und damit den Menschen vor der totalen Überwältigung schützen. Aber es bleiben auch hier die dem moder- nen Mittel der suggestiven Beeinflussung, der propagandistischen Verbnebelung, unter deren Einfluss der Mensch sich zwar nicht ver- gewaltigt fühlt – es wird ja an sein freies Urteil appelliert – u. doch in Wahrheit seelisch eingefangen wird. Beachte das qualvolle Missverhältnis zwischen den Lebenszu- sammenhängen, die für die Existenz des Menschen faktisch von Bedeutung sind, und den Umkreis, den er einsichtig über- schauen und sachkundig beurteilen kann. Vergleiche die übersichtlichen Le- benskreise früherer Epochen, wo noch nicht alles mit allem zusammenhing! Jenes Missverhältnis eröffnet der sugestiven Beeinflussung des Urteils und Lenkung des Willens ungeheure Möglichkeiten. Und fer- ner ist die frotschreitende Verapparatisie- 4 rung des Lebens der „freien“ Welt mit der totalitär regierten gemeinsam. Daher gewisse Strukturentsprechungen zwischen den Antipoden Sowjet, Russland und U.S.A. Der Mensch wird auch hier Ma- schinenteil und damit – und zwar hier ungewollt, rein durch die Wirkung des „Betriebs“ – in seiner Freiheit, seinem Selbst- sein bedroht. Er droht im objektiven Ge- triebe und zumal in der Objektivität des Staates auf- und unterzugehen. Dies der Grund, weshalb heute +) gerade die Nachdenklichsten und Feinfühlig- sten im Staat die Gegenmacht der Frei- heit meinen erblicken zu sollen. Es gibt eine Flucht von dem Staat, eine „inne- re Emigration“ aus dem Staat. Die Utopie des „Glasperlenspiels“ als liteari- scher Ausdruck. „The man the state“. Eine prononzierte „liberale“ Hal- tung gegenüber dem Staat. Erlauchte Ahnen in Deutschlands klassischer Epoche. Wenn die so Gesinnten dem Staat überhaupt noch etwas zu lassen bereit sind, dann höchstens diejenige Funktion, die wir uns am besten durch die Aussprüche einiger Klassiker erhellen lassen. Kant, Schiller, Hölderlin. Am lehrreichsten scheint aber nicht erst seit heute 5 mir die Fassung Schillers, weil sie den Staat so ganz und gar aus der Sphäre des eigent- lich Menschlichen heraus und an den Rand des Daseins verlegt. „Mittel Zweck“ – ein noch heute weit verbreiteter Ge- danke. Hier gibt es ein Selbstsein und da- mit menschliche Freiheit nur getrennt vom Staat, im 1. Der Staat bleibt als Walter, Gehege, Einfriedung draussen – als Mittel geduldet, weil es ohne ihn nun einmal nicht geht. Ich meinerseits bin gewiss, dass es sowohl mit dem Staat als auch mit der Freiheit des Menschen erst dann in Ordnung kommen wird, wenn diese ganze äusserliche Trennung u. Aufteilung, dieses Nebeneinander einer gemeinsamen politischen Sphäre und einer personalen Freiheitssphäre als bicht bloss irrtümlich in theoret. Sinn, sondern auch praktisch verwirrend und missleitend erkannt ist. Aber dazu bedarf es nun einer subtilen Analyse der Zusammenhänge. Mit groben Denkkategorien, wie „Mittel-Zweck“ einer ist, ist hier nicht Klarheit zu schaffen. 6 Auszugehen ist von der Klärung des viel- deutigen und belasteten Begriffs „Freiheit“. In den hier reproduzierten Betrachtungen wird Frei- heit verstanden als „Freiheit von ....“, Freiheit „Selbstbestimmung“! von irgend einer Bindung, speziell von der Bindung an den Staat. Es gilt zunächst ein- zusehen, dass damit die Freiheit zumin- dest unvollständig bestimmt ist – dass Frei- d.h. die damit gemeinte Losbindung heit „von ...“ überhaupt + nur damit möglich ist, nur in der Weise möglich ist, dass der wenn <... ....> Losbindung über Akt der Be- freiung zugleich ein Akt der Bindung, der Ver- pflichtung ist. Wohlgemerkt: nicht zwei vonein- ander zu sondernde oder gar aufeinenader fol- gende Akte, sondern ein einziger Akt, der in einem Ablösung und neue Bindung ist. Ich illustriere das Gemeinte an einem uns allen geläufigen innern Vorgang, den man gemeiniglich gar nicht mit dem Freiheitsproblem in Verbindung zu bringen pflegt; dem Vorgang des Denkens und des Sprechens. Beide Tätigkeiten unterstehen ge- wissen Grundregeln: denjenigen der Logik und der Grammatik. Nun kann man be- züglich der Regeln der Logik oft die Behauptung hören und lesen, dass das Subjekt „gezwungen“ sein, diese Regeln einzuhalten. Sie werden als eine „Voraussetzung“ bezeichnet, die das Sub- jekt wohl oder übel hinzunehmen habe. Träfe diese Kennzeichnung zu, dann wäre das Subjekt, wenn und so lange es , an die Vorschriften einer äusseren Instanz 7 gebunden, mithin unfrei. Frei wäre es umge- kehrt dann, wenn es sich von diesen Vorschriften emanzipierte. Das denkende Subjekt wäre also zu beklagen, dass es an diese Vorschriften gebunden ist. Es wäre besser daran, wenn es nicht diesen Zwingherrschaft über sich hätte. Allein in diesem Ge- dankengang ein kardinaler Irrtum ent- halten. Er hat die Annahme zur Grundla- ge, dass ich im idealen Falle „denkendes Sub- jekt“ sein würde, ohne mich an irgend welche Regeln zu halten. Diese Regeln wären etwas über mein Denekn Hereinbrechendes. Allein in Wahr- heit verhält es sich so, dass ich nicht etwa denkendes Subjekt bin und erst mich den genauen Regeln zu fügen habe – nein: ich werde überhaupt erst dadurch zum denkenden, d.h. zum richtig denkenden, der Wahrheitsfindung fähigen Subjekt, dass ich mich mit den besagten Regeln einige. Sie kommen nicht von aussen über mein Den- ken, sie sind die Seele meines Denkens, ich bin als Denkender mit ihnen solidarisch, ich identifiziere mich mit ihnen. Zwi- schen ihnen und mir besteht das Verhältnis des Füreinander bestimmtsein. Und jetzt sehen wir: das Einswerden mit diesen Regeln ist nicht nur nicht ein Vorgang der Unterwer- fung, d.h. d. Freiheitsberaubung: er ist ein vollgültiger Akt der Befreiung, nämlich wirklich der „Befreiung von ...“. Wovon wurde 8 ich denn frei, in dem ich mit den regeln eins werde? Von den regellos dahinströ- menden Fluss der Eindrücke und der in- neren Vorgänge, der Begehrungen und Leiden- schaften, die zunächst einmal, genau wie beim Tier, den Inhalt meines innern Lebens aus- machen. O lange ich in diesem Fluss dahin- schwimme, bin ich eben noch nicht „denken- des Subjekt“, sondern einem ungeregelten Hin u. Her preisgegeben, ich bin in diesem Sinne „bloss“ subjektiv! wirklich unfrei. Und meine Befreiung vollzieht sich nicht in der Weise, dass ich mich zunächst einmal aus den Flutun- gen dieses Stroms herauszöge und dann erst mit dem geordneten Denken den An- fang machte, dann erst mich zum „denkenden Subjekt“ transformierte; nein: die Heraushebung aus jenem trüben Strom gelingt nur dadurch, dass ich mich an jene Regeln halte, in ihnen den Halt, die Stütze gewinne, ohne die ich nicht aus jenen Fluss herauskäme. So ist beides voll- kommen eins: die „Befreiung“ von dem regellosen Gewirr meiner individuell-sub- jektiven Seelenvorgänge und das Einswerden mit den Normen des geordneten Denkens. +) Das „denkende Subjekt“ hebt sich genau in dem Masse aus dem Fluss des individuellen Seelenlebens empor, wie es sich mit den allge- +) In mir selbst verharrend kann ich nicht „frei“ werden! Vgl. die Unfreiheit des Tiers! 9 meinen Normen des geordneten Denkens iden- tifiziert. „Befreiung von“ und „Befreiung für“ sind ein und dasselbe. Und der Wert dieser Befreiung offenbart sich dahin, dass diese Befrei- ung für nichts Geringeres ist als die Befreiung für die Wahrheit, d.h. für die Möglichkeit der Wahrheitfindung. Das so unendlich beschränkte Geschöpf, das sich Mensch nennt, gewinnt so den Zugang zu der ewig gültigen, der zeitlosen Wahrheit. Das darf wahrlich „Befreiung“ heissen! Ich werde frei von meiner indivi- duellen Partikularität und erhebe mein Haupt in die Sphäre der allgemeinen Wahr- heit. Schon ein wichtiges Ergebnis: frei wurde ich nicht dadurch, dass ich mich in mich selbst als diesen Besonderen zurückziehe. Frei wurde uch durch Einigung mit einem Überpersönlichen. Eintreten in eine ge- meinsame Geisteswelt. Denken ist unlösbar verknüpft mit dem Sprechen. Leicht überträgt sich der durchge- führte Gedankengang uaf die Sprache. Unfreiheit durch „Unterwerfung“ unter die Gesetze der Sprache? Erst durch Einswerden mit dem Überpersönlichen dieser Gesetze werde ich ein sprechendes Subjekt. Eingeschlos- sen in meine Partikularität bleib ich der geistigen Befreiung unteilhaftig, die mit 10 dem Eintritt in das Überpersönliche der Sprache geschieht. Möglicher Einwand: durch den Eintritt in diese Welt des Überpersönlichen geht das Subjekt seiner Individualität verlustig; es geht im Allgemeinen unter. Und in- sofern wird das Subjekt dann doch unter- drückt, es wird: im Medium des Gemein- samen gelangt das Individuum erst recht zu bewusster Entfaltung und Ge- staltung. Beispiel: Sprache und sprechen- des Individuum. Allgemeines und Be- sonderes durchdringen sich. Freiheit durch Verschränkung, nicht durch eigenwillige Abschliessung. Nun aber übersehe man nicht die Kehrseite dieser Befreiung! Die Freiheit, die Freiheit zum Bejahenswürdigen und Normgemässen ist, wäre garnicht Freiheit, wenn sie nicht zugleich Freiheit zum Normwirdirgen wäre. Siehe das Gegenbild des Tieres: da ihm der Aufstieg zur Freiheit durch seine Bindung an Instinkt, Trieb Umwelt verwehrt ist, ist es auch von der Möglichkeit der Abirrung und Selbstver- kehrung ausgeschlossen. Die Ambivalenz der menschl. Freiheit. Das zeigt aich auch 11 an unserem Beispiel Denken – Sprechen. Beide dienen auch dem Zerstörerischen, der Lüge, der Verführung, der Verderbnis. Man kann in der Verfolgung des Normwidrigen ein hohes Mass v. denkendem Scharfsinn in sprachlicher Kunst entwickeln. Auch der In- dividualität des Bösen verhilft die Sphäre des Überpersönlichen zu voller Entfaltung und Wirkung. Wir sehen: die Freiheit ist nicht aus- schliesslich, nicht einmal in erster Linie von aussen bedroht. Sie ist in u. aus sich selbst, durch die Möglichkeit der Selbstver- kehrung bedroht. 11a! 11a Das die Freiheit nicht reine Selbstbestim- mung, sondern ein Ineinander von Selbstbe- stimmung und Bindung ist, das hat eine sehr verhängnisvolle Wirkung. Wenn es so wäre, dass, wo Freiheit ist, keine Bindung, wo Bindung ist, keine Freiheit ist, wenn also Freiheit und Bindung sich auf zwei streng Zonen getrennte Gebiete verteilten, dann xx würden Freiheit und Unfreiheit sich mit sonnen- klarer Deutlichkeit voeinander unterschei- den. Weil aber Freiheit von Bindung gleich- sam durchwirkt ist, darum ist es manchmal schwer zu entscheiden, ob eine faktisch bestehende Bindung eine der Freiheit selbst zugehörige oder eine die Freiheit unter- drückende ist. Von dieser Unklarheit ma- chen die, die faktisch auf Knechtung ausge- hen, reichlich Gebrauch: sie geben vor, dass die Bindung, die sie selbst ausüben, eine der Freiheit selbst dienliche, nicht eine sie unterdrückende sei. Ein Lieblings- trick der totalitären Systeme! Sie sich als die einzig wahren Freunde der Freiheit („Volksdemokratie“) Absichtlich habe ich die im Begriff der Freiheit enthaltene Problematik an einem Kreis von Phänomenen entwickelt, die scheinbar v. der Sphäre, die uns be- schäftigen soll, von denjenigen des Staates, weit abliegen. Es ist diejenige Sphäre, in der diese Problematik in der mildesten Form hervortritt – in der sie eine so wenig spürbare Gestalt annimmt, dass man vielfach garnicht darauf kommt, das Freiheitsproblem gerade in ihr aufzusu- chen und an ihr zu demonstrieren. Aber gerade darum ist das Eingehen auf diese Sphäre für unsere Themastellung so lehr- Ist reich. Hat man in dieser Sphäre für alle Problematik der Freiheit sehend geworden, dann wird man sie ganz sicher dort bemerken und richtig auffassen, wo sie in einer sehr , man möchte sagen hanebüchenen Form auftritt. Das Problem der Freiheit ist schlechterdings überall gegenwärtig, wo es menschlich her- geht, aber es wandelt seine Gestalt ab, je nachdem in welcher Sphäre es sich realisiert. Freiheit, so sahen wir, realisiert sich durch das Emporsteigen des Individualismus in die Dimension des Überpersönlichen. Wir haben bisher das Überpersönliche nur in Gestalt eines Ideellen, der idealen Norn kenngelernt: Gesetze des Denkens, des Spre- chens. Ein solches Ideelles erhebe auch nur ideelle Forderungen, d.h. solche Forderungen, die zwar gültig sind, nicht aber als reale Nötigungen wirken. Nichts zwingt den Men- schen, ihnen Folge zu leisten. Er kann sie so gut ignorieren und verletzen wie befolgen. Sie wehren sich nicht gegen solche Behand- lung. Ihre Befolgung ist recht eigentlich „freiwillig“. Daher bemerkt man hier nicht die Freiheits- problematik! Allein das menschl. Leben weiss nicht nur von Überpersönlichem dieser gewaltlos wir- 13 kenden Art. Es weiss von überpersönli- chen Bindungen, die nicht in der Sphäre des (zeitlosen) (zeitlichen) Ideellen zu Hause sind, sondern der realen in Welt angehören und deshalb auch mit sehr realer Weise, im Sinne der spürbaren Nöti- gung, auf den Menschen einwirken. Des- halb wird in der Begegnung mit ihnen auch das Problem der „Freiheit“ in einer sehr viel brennenderen Weise verspürt – ja, es kommt zunächst gerade hier und nur hier zur Diskussion. Gedacht ist dabei an das Insgesamt der überpersönlichen Lebensordnungen, wie sie um all das zeitlich-wirkliche, als das aktuell gegenwärtige Gefüge von Wirt- schaft, Gesellschaft und vor allem Staat xxxxxxxx geläufig sind. Und zwar verhält es sich so, dass im Übergang von gesellschaftlich-wirtschaftlichen der ideellen zur wirtschaftlichen zur zur staatlichen Normgebung der Charakter der Nötigung immer schärfer hervortritt. In die gesellschaftlich-wirtschaftliche Lebens- ordnung werde ich zwar (wenigstens in der „freien“ Welt) nicht direkt durch Zwang ein- gefügt, aber eine Nötigung liegt deshalb doch schon vor, weil ich, wenn es mir nicht gelingt, innerhalb dieses in Jahrhunderten herangewachsenen Systems einen Platz zu 14 finden, ich zum Untergang verurteilt bin. Siehe die sachbedingte Eigenfertig- keit dieses Systems. Naturwissenschaft, Technik, Arbeitsorganisation sind zu einer Art v. überpersönlichen Faktum ge- worden. Dieses Überpersönliche wirkt nicht mit der sanften Überredung einer rein ideellen Forderung. Es nötigt uns durch seinen Druck in sich hinein. Nun kommt noch hinzu, dass das System nicht nur durch äusseren Druck, sondern auch durch Standardisierung innerlich uniformierende Wirkungen („Roboter“9 unser Selbstsein bedroht. Die „Mechanisierung“, „Verapparatisierung. Von einer Bewusstmacheung und Steige- rung der Individualität ist hier anschei- nend keine Rede. Das eigentliche Maximum aber des unmittelbar verspürten Druckes auf die individuelle Freiheit wird erst erreicht im Staat. Das System Gesellschaft und Wirtschaft wirkt durch spürbare Nötigung, aber nicht durch direkten Zwang. Eine über- zu persönliche Ordnung aber gibt es, von deren Wesen der direkte Zwang, ausgeübt durch phsyische Gewalt ganz unmittelbar hin- zugehört, ja für deren Wesen er konstitutiv 15 ist: das ist der Staat. +) Er ist der mono- polistische Verwalter der legitimen phy- sischen Gewaltanwendung, dieser „ultima ratio“ der Nötigung. Die „Macht“ des Staates. Beachte, dass die monopolisierte Zwangsgewalt im totalitären Staat zwar am brutalsten und dominierendsten her- vortritt, aber prinzipiell für den „freiesten“ Staat ebenso unentbehrlich. Jeder Staat, der sie aus seinem Wesen radikal aus- scheiden wollte, würde aufhören, zu beste- hen, also nicht mehr Staat sein. So ist also der Staat dasjenige überper- sönliche Ganze, in dessen Begegnung mit dem Einzelnen die „Freiheit“ die stärkste Bedrohung zu erfahren scheint. Der Staat zwingt den, der nicht will wie er will, zu- letzt mit dem Mittel der physischen Ge- waltanwendung. Das zu der vollkommen gewaltlosen „ideellen“ For- derung. Ist es da zu verwundern, dass jene Meinungen aufkommen, jene Theorien entstehen, die dafür halten, dass es eine Freiheit des Selbst nur ausserhalb, jenseits des Staates gebe, dass sie nur in Abwehr des Staates erhalten bleiben könne? Dass Die +) Dort ein Zwang, der durch Verhältnisse ausge- übt wird, hier ein Zwang, der durch Menschen ausgeübt wird! 16 bestenfalls nur zuzugeben bereit sind, dass der Staat als „Mittel“, „Gehege“, Schutz- macht nun einmal unentbehrlich und in so weit zu dulden sei? Ein notwendiges Übel, für ein vollkommenes Menschentum überflüssig! Ergebnis: der Mensch ist nur so weit frei, wie der Staat nicht seine Hand auf ihn legt, und so weit er seine Hand auf ihn legt, ist er nicht frei. Eine von Staatlichkeit und freier Mensch- lichkeit. +) Korrelation: der Machiavellismus. Hier hätten wir demnach ein Überpersön- liches vor uns, mit dem der Mensch nicht nur nicht eins werden muss, um frei werden zu können – nein, von dem er sich emanzipieren muss, um frei werden zu können! Das Gegenteil des an Denken und Sprechen demonstrierten Verhält- nisses. Dort Freiheit durch Eins werden mit dem Überpersönlichen – hier Frei- heit durch Flucht vor dem Überpersönli- chen! Allein der Mensch kann nicht hoffen, sein Verhältnis zum Staat richtig zu be- +) Je weniger Staat, destso mehr Freiheit! <...............5! So die philosophische (Epikur), religiöse, dichterisch- künstlerische Segession aus dem Staat. 17 stimmen, so lange er an dieser Entgegen- setzung festhält. Er muss Einsehen, dass auch hier das Überpersönliche entgegen dem Anschein, nicht Abzug an der Freiheit, nicht Gegner der Freiheit, sondern Bedingung der Freiheit ist. Ja: sogar die Nötigung, die von dem gesell- schaftlich-wirtschaflichen Gefüge, sogar der physische Zwang, den der Staat ausübt: selbst sie sind nicht Minderung, Verneinung der Freiheit; sie sind das notwendige Korrelat der Freiheit. Erst wenn dies erkannt ist, ist das Verhältnis richtig bestimmt. Nichts führt so schnell zu dieser Erkennt- nis wie ein Vergleich der Menschen – mit der Tierwelt. in der Tierwelt begegnen wir den sog. „Tierstaaten“. Reibungslos – sicher funktionierend wie ein Uhrwerk. Bedarf es hier der Nötigung, des Zwangs? Sie sind überflüssig, weil jedes Tierindividuum durch den Instinkt zu der ihm obliegenden Leistung getrieben wird. Hier ist kein „Wille“, und das bedeutet: hier ist keine Freiheit. Alles geschieht durch blindes Getriebenwer- den. Hier ist deshalb Zwang weder nötig noch möglich (Zwang setzt immer den Zwingen-Wollenden voraus!) Hier herrscht eine die Individuen übergreifende Ordnung 18 (überpersönlich), die sich selbst macht. / 18a Aber eine Ordnung von Menschenwesen, von denen ein jedes ein wollendes und mithin ein „freies“ Wesen ist, macht sich nicht von selbst: sie muss ihrerseits wieder gewollt und her- gestellt werden. Eine solche Ordnung aber ist eines wahrhaft menschlichen Daseins. Der Mensch gibt sich selbst die Ordnung ge- meinsamen Lebens. Sie ist selbst ein Werk der Freiheit. +) Frage: warum ist dann aber in dieses sein Werk der Zwang, das Gegenteil der Freiheit, eingebaut? Die landläufige Antwort: Schutz gegen Rechtsbrecher, gegen die Störer der Ordnung. Aber das ist nur eine Teilleistung der Zwangsgewalt. Sie ist überhaupt deshalb unerlässlich, weil bei der notwendigen Divergenz der Wol- lungen, d.i. sowohl der „Interessen“ als auch der „Ideen“, eine unbedingt sicher wirkende Instanz der Vereinheitlichung unent- behrlich ist. + 18b Diese Instanz nennen wir Staat. Seine Sache ist nicht die totale Ausmer- zung der Gewalt – die wäre unmöglich – sondern die Konzentration der Gewalt und die legale Regelung ihrer Ausübung. Staat ist die durch den Zwang garantierte Ord- nung des gemeinsamen Lebens, die der Mensch in freier Willensentschliessung sich +) Daher: Geschichte! 18a 18a: Die „Tierstaaten“ kennen keine Mannig- faltigkeit und keinen Wechsel der „Verfas- sung“ im Neben- und Nacheinander. Na- tur prägt immer von neuem die gleiche Gattungsform. Sie haben keine „Geschichte“! 18b: Siehe die Schwäche des Völkerrechts, die darauf beruht, dass keine Zwangs- gewalt da ist, die seine Einhaltung ga- rantiert. 19 selbst gibt, damit die Vielheit divergie- render Einzelwollungen zur Einheit gemein- samer Lebens und Handelns zusammen gehe. Nur gegen freie Wesen und nur durch freie Wesen kann der Zwang zu sinnvol- lem Einsatz gelangen. Schon hieraus erkennt m an: der Staat kein Zweckverband ist nicht äussere Schutzvorrichtung, Mit- tel zum Zweck, und das auf den Staat bezo- gene, das „politische“ Handeln ist nicht eine technische, auf Herstellung einer Apparatur abzielende Tätigkeit (wie bei Herstellung eines Zweckverbandes). Vielmehr ist der Staat die Selbstorganisation, die Selbstgestaltung der im staatlichen Ganzen vereingten Willen, ist Herausgestaltung und fortlaufende Umgestaltung und Betäti- Selbstverwirklichung u. –darstellung! gung des politischen Ganzen. Mithin ist das Insgesamt der Tätigkeiten, die sich auf dies Ganze beziehen, Äusserung einer Grund- funktion, die zum Wesen des Menschen unab- trennbar hinzugehört. Der Mensch ist wirk- lich . +) Der staatsfreie Zu- stand ist nicht zu erstrebendes Ideal, sondern Verneinung des Menschlichen in einem kon- struktiven Zuge. Siehe den Irrtum jener Klas- siker, die das politische Tun nicht zu den „menschlichen“ Grundfunktionen rechnen, sondern es nur als Vorbedingung der Ent- +) Er ist so gut poltisches Subjekt, wie er Einzelsubjekt (Person!) ist. Jenes ist nicht äussere Zutat. 20 faltung des Menschen gelten lassen. Wodurch wird dieser Sachverhalt so leicht verdeckt? Dadurch, dass der Staat sich zu Ordnungen objektiviert und in Menschen bzw. Menschengruppen objektiviert, die viel, viel- leicht die meisten Staatsbürger als „ausser- halb“ ihrer selbst befindlich und unab- hängig von ihnen selbst agierend anse- hen. Der Begriff „Staat“ verengert sich zum Begriff dieser Ordnungen und der sie un- mittelbar realisierenden Menschen. +) Diese Verengerung wird begünstigt durch die extensive Verbreiterung des Staates und die Versteifung der ihn strukturierenden Ord- nungen; sie wird erst recht dann nahege- legt, wenn dieser „engere“ Staat abso- lut macht und die ihm nicht Angehö- „von oben“ rigen einer Zwangsherrschaft unterwirft. Er ist dann eben „drüben“ als der alle poli- tische Macht monopolisierende Zwingherr; ich, der Beherrschte, bin hüben, als der am politischen Lebensprozess Unbeteiligte. Dies ist das berühmte „Anseitsstehen“. Es tritt auch in nicht despolitisch regierten Staaten auf, wenn Teilgruppen sich an dem Staat, wie er ist, desinteressiert erklären und die Position des unbeteiligten oder gar übelwol- lenden Zuschauers beziehen. +) Institutionen, Personen, Aktionen. 21 Und doch liegt all solchen Erscheinun- gen der Staatsentbrandung ein gewichti- ger Denkfehler zu Grunde. Es gibt hier über- haupt kein „Abseitsstehen“; es besteht nur in der Einbildung. +) Zunächst aus dem ein- fachen Grunde, weil der Staat unweiger- lich einen jeden der ihm Angehörigen in die Schicksale hineinreisst, die sich aus den Wollungen und Handlungen der ihn Leitenden ergeben. „, ....“ Der Abseitsstehende verzich- tet nur darauf, den ihm zukommenden Anteil an der Gestaltung dieser Schicksale zu aktualisieren. Aber auch in dem tiefe- ren Sinn, dass sein Vorhandensein, dass die gleichgültige oder ablehnende Hal- tung, die er gegenüber dem politischen Geschehen einnimmt, für Gesinnung und Handlung der im Besitz der Macht Befind- lichen von mitbestimmender Bedeutung ist. Auch eine vollkommen geknechtete Masse von Staatsbürgern gehört, gerade um der in ihnen lebenden Stimmung willen, zu den Faktoren, die die politisch Entscheidenden ständig in Rechnung stellen müssen. Die zwi- +) Es gibt keine Sezession, auch keine „innere Emigration“. 22 schen beiden bestehende offene oder latente Spannung bildet ein grundwesentliches Mo- ment an dem Leben des ganzen, des in weiten Sinne verstandenen Staates. +) Ist das so schon in den despotisch regier- ten Staaten so, so ist es erst recht so inner- halb derjenigen Staaten, in denen grund- sätzlich alle Bürger zur des staatlichen Willens berufen sind, in denen also das „Abseitsstehen“ auf dem freien Wil- lensentschluss der sich abseits Stellenden be- ruht. Denn hier ist es ja so, dass durch die- sen Entschluss solche politische Energien, die sich selbst in den Gesamtprozess hineinge- ben könnten und solchen, auf die hier vor- liegenden Möglichkeiten verzichten und so an ihren Teile – nicht etwa den Staat seinen eigenen Lauf gehen lassen, sondern ihn zu der Gestalt, Haltung und Handlung kommen lassen, die sich daraus ergibt, dass sich den Anderen das Handelns überlassen und die in ihnen selbst enthaltenen Möglichkeiten annulieren. Insofern sind sie in ihrer selbstgewollten Passivität ungewollt doch Mitgestalter der staatlichen Wirklichkeit. Der Staat lebt auch in ihnen, den ihn bewusst +) Äusserung ist die Bösartigkeit der Selbstbehaup- tung der totalitären Systeme 23 Verneinenden, den vermeintlich aus ihm Herausgetretenen. Ergebnis: der staatliche Lebensprozess irgendwie in allen, die den Staat, und sei es auch nur als politisch völlig Ent- machtete, existieren angehören. Allerwärts gilt: der Staat bin ich! Weil ich „dem“ Staat auch dann ange- höre, wenn ich ihn in seinen gegenwärtigen Ordnungen und personalen Trägern ablehne, so kommt alles darauf an, welches der eigentliche Sinn und das tragende Ethos dieser Ableh- nung ist. Sie verraten sich in der Art und Weise der am bestehenden Staat geübten Kritik. Es gibt die unfruchtbar-nörgelnde ressentiment geladene Kritik dessen, der wirklich „draussen“ stehen will und der draussen zu ste- hen glaubt, der sich garnicht fragt, was seine Haltung für den Bestand „des“ Staa- tes bedeutet – es gibt die verantwortliche und förderliche Kitik dessen, der in seinem Widerspruch nicht persönliches Missfallen abreagiert, sondern sich als Anwalt des an- deren, besseren Staates fühlt, der an die Stelle des bestrittenen treten soll, der aber aus die- ser Verantwortung heraus im bestehenden Staate die Ansätze des Besseren sucht und sieht +) und der vor allem weiss, dass zu der +) das überdauernde Staats-Subjekt, „Staatsperson“. 24 Die ewig notwendige Kritik! Gewissen! eigenen Verneinung die tätige Willenbereit- schaft als komplement hinzugehört. Nur weil der Staat so mit seinen Wurzeln in das Innerste jedes Menschen hineinreicht: nur darum kann er ix für Wesen und Schicksal des Menschen die bestimmende bedeutung haben, von der die Geschichte in ihrer ganzen Erstreckung Zuegnis ablegt. xxx Als ob eine blosse äussere Zweckvorrichtung, eine „Hülse“, eine so durchgreifende geschichtlich prä- gende Macht sein könnte! Einwand: ändern dann diese theore- tischen Spekulationen etwas an der Tatsache, dass der Staat, je nach seiner Beschffen- heit in höherem oder geringerem Grade, den Menschen in seiner Freiheit einengt? Ändern sie etwas an der Erfahrung der Frei- heitsberaubung, die dem Menschen in Staat und zumal im modernen Staat widerfährt? Mein Leiden am Staat wird nicht leichter, mein Widerspruch gegen den Staat nicht milder, wenn ich mir sagen darf, das Leiden und Widerspruch selbst, Teilhabe am politischen Lebenspro- zess bedeuten. Die Flucht vor dem Staat ist nicht bloss Irrtum Unerleuchteter, das Strben nach überstaatlicher Sphäre nicht Frevel! 25 Aus diesem unüberhörbaren Einwand geht hervor, das das Problem mit unseren bisherigen auf „Rettung“ des Staates ausge- henden Überlegungen noch nicht erledigt ist. Wir müssen weiter denken! Wir haben gesehen, dass die Art von Frei- heitsverkürzung, die wir „Zwang“ nennen, vom Wesen des Staates unabtrennbar und insoweit grundsätzlich gerechtfertigt ist. Wir haben ge- sehen, dass selbst der Angehörige des Staates, der diesem Druck im höchsten Masse ausge- setzt ist, darum dem Staate anzugehören nicht aufhört. Allein mit dieser prin- zipiellen Feststellung ist nicht etwa die durch den Staat erfolgende Freiheitsverkürzung in jeder Gestalt heilig gesprochen. Im Ge- genteil: da nun einmal der Zwang un- ter allen Umständen schmerzlich ver- spürt und als Einengung des personalen Seins empfunden wird, wird erst recht die Frage brennend: in welchem Umfange, in welcher Form, an welcher Stelle ist den Zwanganwendung geboten und somit es zu bejahen – wo ist sie zu verwerfen? Das prin- zipielle zu bejahende Dass lässt dem Wie noch einen weiten Spielraum, und von diesem Spielraum dürfen wir gewiss sein, dass innerhalb seiner die zum Wesen der +) das Eingreifen des Staates und mit ihm die Möglichkeit und Androhung der 26 Freiheit gehörige „Ambivalenz“ sich breit entfalten wird. Auch über den Gebrauch des Zwangs entscheidet die Freiheit des über sie Verfügenden, auch hier heisst es entscheiden ob, wo, wie er gesetzt wird. Der Zwang, der die Freiheit einschränkt, will in Freiheit bestimmt und – begrenzt sein. Erst wenn wir dieser Frage nachgehen, wird es offenbar, dass und weshalb das Problem der Freiheit in der Sphäre des Staates seine kompli- zierteste und undurchsichtigste Gestalt an- nimmt. Sie ist so undurchsichtig, dass der Schein entstehen kann, als sei der Staat die Auf- hebung der Freiheit, als ob die Freiheit erst da beginnt, wo der Staat aufhört (Gebietstei- lung!) Zweierlei kommt zusammen, um diese Verschärfung herbeizuführen: einerseits eine Entwicklung, die ohne Verschulden des Men- schen, durch die Natur der Sache selbst den Druck, den der Staat auf den Menschen aus- übt, immer empfindlicher werden lässt – an- dererseits eine Verwicklung, die im Wesen des wol- 27 lend handelnden Menschen begründet ist und daher auf sein Verschulden zurückgeht. In erster Hinsicht heisst es erkennen, dass die Ordnungen des sich selbst organi- sierenden menschlichen Lebens in Wirt- schaft, Gesellschaft und zuhöchst Staat die immanente Tendenz haben sich mehr und mehr zu „objektivieren“, d.h. insti- steifen tutionell zu verfestigen, und so eine Ablaufsform anzunehmen, die man mit Recht als „Zwangsläufigkeit“ (ein aus dem Maschinell-Technischen entnom- mener Ausdruck!) bezeichnet. Das Ineinan- dergreifen von Naturwissenschaft, Technik und wirtschaftlicher Produktion erzeugt den „Apparat“ des allumfassenden Arbeitsge- füges, der Staat nimmt gleichfalls mehr und mehr die Gestalt eines riesenhaften Mechanismus an, und alles dies funk- tioniert schliesslich nur deshalb in der durch die Sache selbst vorgezeichneten Weise, weil die Zwangsgewalt xx des Staates die Einhal- tung der wesentlichen Regeln der Kooporation garantiert. +) Das Ganze ist eine Schöpfung des Menschen und doch zwingt es schliesslich seinen Schöpfer unter sich. Simmels „Tra- gödie der Kultur“. Es lebt aus immer erneu- ten Willensimpulsen und regiert doch den Willen, +) Es muss immer mehr „regiert“ werden! Bürokratie. 28 so dass es sich Kraft eigener Sachlogik nur dem Willen des Menschen zu entzei- hen scheint, sondern sich geradezu gegen die Freiheit seines Schöpfers zu kehren scheint. Das Verhältnis Mensch – Maschine als anschauliches Paradigma. Das Werk der Freiheit wendet sich gegen die Freiheit. +) Insoweit handelt es sich um eine Entwicklung, an der den Menschen kein Verschulden trifft. Sehen sie erklärt in gewissen Masse die schmerzhaften Er- fahrungen, die dem Menschen im Verkehr mit diesem Überpersönlichen beschert sind. Aber hinzu kommt ein Zweites, das auf dem Schuldkonto des Menschen zu buchen ist. Wir sahen oben, dass die Freiheit, die der Mensch durch Einung mit dem Überpersönlichen gewinnt, „ambivalent“, dass >die> Freiheit so gut zum Aufbauend-Heilsamen wie zum Verderblich-Zerstörenden ist. Jede Freiheit ist mit gefährlichen Versuchungen ge- laden. Aber dieser versucherische Charakter macht sich nicht in allen Sphären mit gleicher Stärke geltend; er stuft sich je nach Eigenart der Sphären ab. Wir haben jetzt zu erkennen, dass die Sphäre Überpersönlichen, das im Staat kulminiert, +) Folge: der Staat (= Staatsverwaltung) erscheint dem Individuum als ein Äusseres und Fremdes. Leviathan. 29 den Charakter des Versucherich- Verderblichen, des auf Abwege Leitenden in höchstem Masse trägt. Es handelt sich um den Sachverhalt, den das vulgäre Denken in der Formel „Politik ver- dirbt den Charakter“ ausdrückt. Was ist mit ihr gemeint? Einmal: in der Sphäre der steigern Politik ballen sich die Leidenschaften, die edlen wie die gemeinen, zur Siedehitze empor, weil der Staat die Instanz der letzten, weil durch die Zwangsgewalt garantierten Ent- scheidung ist. „Es geht ums Ganze“! Man sehe als Beispiel nur einmal den Wahl- kampf, erst recht den Krieg. Kampf um die Macht! +) Und was bedeutet die Macht, um die der Kampf geht, für den Menschen, der nach ihr begehrt und der sie ja nach- Macht wird Selbstzweck. dem gewinnt? Einen beglückenden, be- rauschenden Besitz. Machtrausch, Macht- kitzel, Machtkoller. Wieder ist es die Verfü- gung über die legitime Zwangsgewalt, die die Unbedingtheit des Machtbesitzes und des Machtgebrauchs garantiert. Ein Mensch verfügt schrankenlos über Menschen! Macht- „Dämonie“ schwindel, Selbstvergötterung, Lust der Men- schenknechtung, Menschenvernichtung. Hier zeigt sich die negative Seite der Ambivalenz +) Versuchung zu skrupelloser Verwendung al- ler Mittel entspricht der Hitze des Begehrens. 30 in furchtbarer Grösse. Und hier zeigt sich, wie diese negative Entwicklung wieder aus der Freiheit tief in die Unfreiheit zu- rückführt. Dabei denke ich nicht nur an die Unfreiheit der durch den Inhaber der Macht Geknechteten. Ich denke auch und vor allem an die Unfreiheit des der- gestalt die Macht Ausübenden. Denn er ist genau in dem Masse der Unfreie, wie er zum Knecht der in ihm wühlenden Leidenschaft, des Ehrgeizes, der Macht- gier, der Verfolgungsmacht wird. +) Das Über- persönlichste wird ihm zum Mittel der Befriedigung des Niedrigst-Persönli- chen. So gilt der zitierte Satz in der Ab- wandlung: Politik ist geladen mit Ver- suchungen, die den Charakter verderben können. Sie ist dasjenige Überpersönliche, mit dem der Mensch nicht eins werden kann, ohne den verhängnisvollsten Mög- lichkeiten des Abgleitens ausgesetzt zu sein. Sie ist zugleich diejenige Sphäre, in der dieses Abgleiten die riesenhaftesten Zerstörungswirkungen nach sich zieht. Der Mensch „in grosser Schrift“ (Platon) So zeigt sich: einerseits ohne Verschulden, andererseits mit Verschulden des Menschen ist der Staat diejenige Form des Überper- +) Der Riesenhaftigkeit des beherrschbaren „Appa- rats“ entspricht die Heftigkeit des Machtrauschs 31 persönlichen, mit der der Mensch auf der einen Seite sich einen muss, um „frei“ zu sein, in der aber auf der anderen Seite die Selbst- bedrohung der Freiheit die gefährlichste Form annimmt. Gerade hier zeigt es sich, was es heisst, Mensch sein. Der Mensch „in grosser Schrift“. Wie recht hatten doch alle die Denker, die dem Staat in Menschenleben und –ge- schichte eine zentrale Stellung anwiesen. Dabei werden wir durch die Einsicht in die Dämonie des Politischen vor jeder vergöttli- chung des Staates bewahrt. Begriff der „Antinomie“ wird eingeführt. Es gehört zum Wesen des „freien“ Menschen, staatlich zu leben, zu wollen und zu han- deln. Aber diese Betätigung samt den aus ihr hervorgehenden Schöpfungen sind zugleich die schwerste Selbstbedrohung der Freiheit. Wie hat sich der Mensch zu einem sol- chen antinomischen Sachverhalt zu stel- len? Er hat ihn zunächst zu sehen, sich von ihm wissende Rechenschaft zu geben. Dass er ihm nicht wissenlos wie einem dunklen ausgeliefert ist, bewiesen unsere eigenen Darlegungen. Aber dies Wissen darf nicht ein Zuschauen bleiben, das an der bescherten Sache nichts ändert. Eine Anti- 32 nomie, die in ihrem Dass und ihrem Wie durchschaut ist, kann zwar auf Grund dieses Wissens nicht beseitigt werden, wohl aber nimmt sie schon dadurch, dass sie als sol- che gewusst wird, eine andere Gestalt an. Einerseits nimmt ihr dies Wissen Vieles von ihrer Schwere. Am schwersten drückt immer das Unverstandene, das geistig nicht Bewäl- tigte. Alle Trotzreaktionen bis hin zur nihi- listischen Verzweiflung entzünden sich am nicht Begriffenen. Andererseits eröffnet das besagte Wissen die Möglichkeit, den anti- nomischen Sachverhalt unter Aufsicht zu halten, vor den in ihm enthaltenen Gefähr- dungen auf der Hut zu sein, die ihm inne- wohnenden Versuchungen zu sichten und zu bekämpfen. Jene permanente Gewis- senskritik, die zur Wirklichkeit des Staates hin- zu gehört, muss vor allem Kritik am poli- tischen Planen, Wollen und Handeln des eigenen Selbst sein (Picard: „Hitler in uns“) Selbstbeaufsichtigung, Selbstzüge- lung, Selbstbehütung. Eine Vereinigung von Darinstehen und Darüberstehen, Hin- gabe in verantwortlichem Handeln und Abstandhalten zwecks Selbstbewahrung. Dies ist die als solche gewusste und kontrol- 33lierte Antinomie. In dieser Haltung rea- lisiert sich dann die „Freiheit“ in der dieser Sphäre angemessenen Gestalt: nicht als Freiheit „vom“ Staat, ausserhalb des Staates, sondern als Freiheit „im Staat“. Wenn aber der Staat die Sphäre ist, in der die Freiheit am stärksten bedroht ist („Poli- tik verdirbt den Charakter“), so ist auch die Freiheit, wenn sie sich innerhalb dieser Sphäre gegenüber allen Bedrohungen siegreich behauptet, eine der wertvollsten Gestalten des sittlichen Lebens. Politik „ver- dirbt“ nicht nur den Charakter, sie ist auch eine unvergleichliche Erprobungs- und Bewährungsstätte des Charakters. Je grösser die Versuchung, destso verdienstli- cher die Bewährung. Grossartigste Darstel- lung ist der leitende Staatsmann, der in Vollbesitz der Macht ist und doch durch Selbstkontrolle seines politischen Willens sich vor der Dämonie des Machtbesitzes zu bewahren weiss. Weder unterliegt er den Zwangsläufigkeiten des objektivierten poli- tischen Systems noch erliegt er den Versu- chungen des Machtkitzels. Nicht umsonst ist diese Gestalt so selten im geschichtlich- politischen Leben. 34 Dies das Gegenteil der Lehre, die die „Amo- ralität“ des Politischen vertritt. Im Gegenteil: die Zone der Politik ist die Zone der schwer- sten moralischen Bedrohung, aber auch der glorreichsten moralischen Bewährung. Gross- artige Verwirklichung der „Freiheit“ Das Wissen um die besagte Antinomie ermöglicht es dem Menschen, auch inner- halb des totalitären Staates die innere Frei- heit zu wahren, der seine äussere Freiheit vollkommen beseitigt. Erst die innere Ka- pitulation besiegelt die Unfreiheit end- gültig. Hierin, nicht in der Härte des äusse- ren Drucks, liegt die Gfährlichkeit der totalitären Systeme, ihre entmenschlichende, depersonalisierende Wirkung. mit der der Mensch auf der 35 Von diesen allgemeinen Erwägungen her bestimmt sich auch die Antwort auf die heute so oft gestellte Frage, welche Stellung der Christ gegenüber dem Staat einzuneh- men habe. Auch die „Freiheit eines Chris- tenmenschen“ ist nicht eine Freiheit „ausser- halb“ oder „jenseits“ des Staates – unbeschadet der Tatsache, dass Glaube und Hoffnung des Christen ihren letzten Orientierungspunkt jenseitsder zeitl.-geschichtl. Welt und so auch des Staates haben. Auch diese freiheit hat sich innerhalb des Staates als solche zu bewähren. Das aber kann sie wiederum nurr dann, wenn sie nicht im Namen des Transzenden- ten dasjenige verneint oder missachtete, was zum Wesen von Staat und Politik unab- trennbar hinzugehört. Ungeachtet aller Span- nungenzwischen Christlichkeit und Staat ge- hört der Staat als solcher zu den Wirklichkei- ten, die der christl. Mensch wie jeder als Teil seiner Menschlichkeit anzuerkennen hat. Alle „christliche“ Kritik am Staat ist nur dann sinnvoll, ja gefordert, wenn sie nicht den Staat zumutet, dasjenige an sich zu ver- neinen, was ihn zum Staat macht. Eine Kritik, die das vergisst, steht in einer Linie mit der unfruchtbaren Nörgelei des sich „ab- 36 seits“ Stellenden. Wer prinzipiell im Staate nichts Anderes sieht als den Ausdruck der Sünde, der verkennt die spezifische „Menschlichkeit“, d.i. Notwendigkeit und prinzipielle Bejahungs- würdigkeit der politischen Funktion. Wer dem Staat Handlungen zumutet, deren Kon- sequenz die Selbstpreisgabe ist, der hilft an seinem Teile ein unaufgebbares Stück Menschentum vernichten – zum Nachteil desjenigen Staates, der seiner Zumutung nachgibt, zum Vorteil desjenigen, der sie im Namen des politischen Willens abweist. Es darf nicht heissen: fiat christianitas, per- lat nundus. Die Welt will und soll ernst ge- nommen sein. Und die „Welt“ konzentriert sich in gewissem Sinne im Staat.