Bemerkungen | kein Kommentar, sondern Fortsetzung von Feld "Abschrift, Auszüge usw"
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der anderen, sich als „richtig“ erweisen kann. Jede
Art v. Parteiung, Zwiespalt, Kampf ist Konflikt
verschiedener, konkurierender Sinnperspektiven.
So auch und erst recht im Leben der grossen geschichtl.
Gemeinschaften. Geschichte ist weithin Kampf kon-
kurrierender Sinndeutungen. Frage: droht hier
nicht wirklich die Einheit des Prozesses und des Sinnes
in ein Vielerlei v. unvereinbaren Positionen zu
zerfallen? Ist hier nicht nicht, wenn man diese
Vielfältigkeit als den „eigentlichen“ Sinn anerkennt,
die Einheit des Sinns endgültig aufgegeben?
Antwort: die Sinnhorizonte der Individuen bil-
den sich nicht in Abtrennung voneinander, sondern
aneinander und miteinander, d.h. in ständiger
Auseinandersetzung und Begegnung. Und selbst
die schärfste Gegnerschaft, die wildeste Feindschaft ist
in diesem Sinne Beziehung und Verbindung. So
ist es im kleinen wie im Grossen. Lapidares Beispiel:
der Weltkrieg im Sinnhorizont der an ihm betei-
ligten Völker. Schärfster Gegensatz der Bewertung,
und doch Gemeinsamkeit des Schicksals und
so auch der Sinndeutung. Allseitige Verschrän-
kung in der Verschiedenheit und Gegensätzlich-
keit. Darum folgt: auch die Vielheit der auf
verschiedene Subjekte verteilten Sinnhorizonte
ist nicht Zerfall, Auseinanderfall, sondern Zu-
sammenhang. Wir haben es nicht nötig, die
Einheit des Sinns „hinter“ der Vielheit der Perspek-
tiven zu suchen. Sie besteht „in“ dieser Vielheit als
Verschränkung!
Trotzdem ist nicht zu bestreiten, dass eine in
dieser Form sich herstellende Sinneinheit der in mehrfacher Hinsicht etwas unbefriedigendes
zu haben scheint.
Sie ist zunächst für das Denken, d.h. in logischer
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Hinsicht unbefriedigend. Man möchte doch so gerne
die Einheit des Ganzen als solche gegen und vor
Einheit = Einfachheit
sich sehen und in einem Satze aussprechen kön-
nen. Man möchte die Quintessenz des Sinns er-
greifen können. Statt dessen sieht man sich der
flimmernden Vielfältigkeit der individuellen Sinn-
perspektiven gegenüber. Man möchte, den Sinn
un- und überperspektivisch sehen. Aber man
mache sich doch klar, dass die Erfüllung dieses
Wunsches die Entwertung der individuellen Perspek-
tiven und damit auch die Entwertung meiner per-
sönlichen Lebenspespektive, derjenigen meiner Epoche,
meines Volkes u.s.w. nach sich ziehen müsste. Mein
logisches Ordnungsbedürfnis würde auf Kosten
meines totalen Lebensgefühles befriedigt werden.
Schwer wiegen die Bedenken, die mein religiös
bzw. metaphysisches Lebensgefühl aufsteigen fühlt.
Es kann sich schwer entschliessen, den Sinn nur
in einer Vielheit von Perspektiven zu suchen, von
denen jede einzelne für sich genommen den Charakter der Unvoll-
kommenheit, der Beschränktheit, der Vorläufigkeit
trägt, jede einzelne der Besichtigung bedürfen
oder sogar der totalen Verneinnung würdig ist. der
„endgültige“
„vollkommene“ Sinn ist innerhalb dieser Vielheit nicht
zu finden. Und gerade er ist es doch, nach dem
das Bedürfnis verlangt und den es, wenn es dem
Menschen verschlossen ist, doch wenigstens der
bei der Gottheit untergebracht wissen möchte.
Wir machen uns zunächst das Gewicht dieser Beden-
ken klar.
Es ist in der Tat so: es gibt keine unter diesen
Perspektiven, die über die nicht in gewissem Sinne
ein Gericht erginge. Selbst diejenigen, die mit einem
Maximum v. Einsicht u. Voraussicht entworfen sind,
selbst diejenigen, denen d. Handlungserfolg in gewis-
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sub specie d. Zukunft!
sem Sinne die Bestätigung erteilt, entgehen nicht
dem Schicksal, durch die fortschreitende Bewegung
d. Geschichte verdrängt und damit desavouiert zu
werden. +) Denn jede Deutung hat nur ihre Zeit und
verbraucht sich zu gunsten ihrer Nachfolgerin, der
das gleiche Schicksal bevorsteht. Geschichte ist eben
stets sich erneuerndes Leben und damit Hinweg-
jede
schreiten auch über die gehaltvollste Sinndeutung.
Das gilt selbst von den gehaltreichsten und wirkungs-
vollsten Deutungen. Aber diese bilden doch nur
eine kleine Auslese. Aber neben ihnen: wie
viel schiefe, einseitge, , illusionäre Deu-
tungen, denen das Siegel des Erfolgs niemals auf-
gedrückt wird, die nur Kraftvergeudung, Ablen-
kung, Hemmung bedeuten! Und unendlich
diejenigen Deutungen, denen d. leidenschaftlichste
Widerspruch gebührt. Dann Bed bedenken wir
wohl: auch das „Negative“, das Böse, Abwegige, Zer-
störerische gehört in das Universum dieser Sinn-
deutungen hinein. Das Böse ist nicht, wie manche
Deutu. gemeint haben, xx Fehlen von Sinn, Ab-
wesenheit v. Sinn. Sein Bedeutung beruht gerade
darauf, dass es durchaus sinnhaft, willenbestim-
mend, Taten wirkend ist. So stehen im Gefüge der
Sinnhorizonte die „bösen“ mit voller Wirkenskraft,
manchmal den „guten“ weit überlegen, mitten
inne. Eben deshalb nicht ein äusser Zusammen-
prall dualistische geschichtlicher Mächte („mani-
chäisch“), sondern echte „Dialektik“. Aber das meta-
physisch-religiöse Bedürfnis verlangt nach einem
Sinn, der nicht dem Bösen innerhalb seiner selber
die Entwicklung verstaltet, sondern der ganeu und
gar „positiv“ wäre. Und da das Gefüge der Sinnho-
+) Es kommt immer „etwas anderes heraus“. Frage: wellches ist das
Subjekt, das dieses ganz Andere gewollt hat? Ein „hinter“ den
und
Perspektiven waltende „durch“ sie waltendes Subjekt. „Gott“.
Die „Natur“. Die „Idee“.
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rizonte diese Forderung nicht erfüllt – um, so
das Fragen nach einem „hinter“ die-
sem Gefüge lebendigen „eigentlichen“ Sinn, in den
das Negative ganz u. gar überwunden wäre – ei-
im Horizont des
nem Sinn der, weil dem Menschen nicht Menschen
nicht auffindbar, nun eben dem Wissen des Un-
endlichen vorbehalten sein muss.
Bei aller Begreiflichkeit der in dieser Vorstellung
enthaltenen Bedürfnisse und Sehnsüchte ist zu
erwidern, dass sie das Leben des Menschen seines
Gehalts und seines Gewichts beraubt. Nicht nur in-
sofern, als sie, wie bemerkt, das dem Menschen selte
beschiedene Sinnerleben und Sinnschaffen zur
Scheinhaftigkeit und Vordergründigekeit herabwür-
digt, sondern vor allem deshalb, weil sie gerade
das zentrale Anliegen, um das es in diesem Sinn-
erleben geht, seiner metaphysischen Schwere beraubt.
Dieses Anliegen aber ist gerade der dialektische
Kampf zwischen dem Negativen und dem Positiven.
Das tiefere Wesen des Menschen, seine Überlegenheit
über die Natur, liegt gerade darin, dass er, aus der
Führung der Natur entlassen, in die Freiheit hinaus-
gestellt ist. Diese Freiheit aber ist als solche Freiheit
zum Bösen wie zum Guten. Das innerste Wesen
des Menschen ist wirklich getroffen mit dem Satze,
dass er „Hieroglyphe des Guten und Bösen ... Engel u.
Teufelsgestalt“ ist. Beides gehört engstens, dialektisch
zusammen. Wenn wir aber nun an einen „hinter“
der Realität des Meneschenlebens wirkenden, sich
siegreich durchsetzenden Sinn glauben, der xxx ganz
und gar positiv, d.h. über jene Dialektik erhaben wäre,
dann wird ja der Kampf zwischen Gutem und
Bösem, in dem der Mensch zu stehen meint, in dem
er seine Horizonte bildet, zu einem Vordergrunds-
und Scheingeflecht. Denn von vornherein hat ja
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das Gute die Kraft des „eigentlichen“ und wirklichen
Sinns auf seiner Seite, während das Böse dieses
Rückhalts entbehrt und nur in d. Sphäre der
Scheinhaftigkeit vertreten ist. Es ist also ein Kampf
zwischen höchst ungleichen Gegnern, ja es ist überhaupt
kein Kampf v. wirklichen Gegenern, denn d. eine von
ihnen ist ja nur ein Luftgebilde, über dessen Nich-
tigkeit der tiefer Blickende nicht im Zweifel ist.
Natürlich hat diese Vorstellung für den nach
Ruhe und Sicherheit verlangenden Menschen et-
was sehr Verführerisches. Aber sie widerstreitet
der selbsterfahrenen Realität des Menschendaseins
und sie wird bezahlt mit der Vernichtung
dessen, was wir als Kern unseres Lebenskampfes
immer wieder erfahren. Der Gott, der Geist, der
in sich die Garantie des Guten mitbringt, nimmt
uns Menschen die eigentliche und letzte Verant-
wortung und Würde unseres Daseins. Denn es
nimmt um das Recht zu glauben, dass es in jenem
Kampf auf uns, auf jeden von uns, auf jede Ent-
schliessung von uns ankommt, dass das Schicksal
der Welt einem jeden von uns auf die Seele ge-
legt ist. Jene Sicherheit ist zu teuer bezahlt. Sie
verletzt den Schwerpunkt des Weltschicksals aus unserer
Seele heraus in ein uns Verschlossenes.
Entschliessen wir uns aber umgekehrt, den Sinn
d. Geschichte mit dem von uns erlebten, den in uns
gewirkten Sinn gleichzusetzen, so sehen wir diesen
Sinn ganz in die und Ungewissheiten
der weltgeschichtl. Dialektik hinein geworfen, in
alle Beschränktheiten, Gemeinheiten und Fehlsam-
keiten des Menschen verwickelt, wir gehen aller
Sicherungen und Rückhalte verlustig – aber wir
sind dann doch auch gewiss, dass all dies wirklich
Sinn ist und nicht bloss ein durch uns hin-
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durch sich wirkender, uns als Werkzeug vernutzender
Sinn. Wir sehen unsere Existenz dann in folgendem
Lichte. Wir leben aus den Tiefen eines Alllebens heraus,
das uns unendlich weit überragt. Wir haben uns nicht
geschaffen, haben uns nicht zu dem gemacht was wir
sind. Wir haben uns so, wie wir sind, empfangen.
Unser Sein und Sosein ist ein geschenktes. Aber
die Abhängigkeit von diesem Alleben dauerd nicht etwa
in der Form fort, dass es sich unser als blinde Werk-
zeuge, unselbständige Organe bediente. Vielmehr ist
es die Art dieses Allebens, dass es sich uns, d.h. unseres
bewussten Wollen und Handeln, ganz u. gar anheim-
gibt und gleichsam anvertraut. Es geht in die
Zentriertheit der ganz u. gar ein, legt alles auf
unser persönliche Entscheidung und Verantwortung.
Das bedeutet aber: das Alleben bringt nicht in sich einen
„Sinn“, der sich unwiderstehlich durchsetzt und der
den sog. „Sieg des Guten“ garantierte. Ich glaube nicht,
dass irgendeine theol. oder philosp. Lehre eine sol-
che Garantie aussprechen dürfte. Ob und wie weit das
Gute siegt, das ist ganz und gar auf das Tun der
Subjekte gestellt, denen das Alleben sich anheim-
gibt. Jeder Einzelne muss sich sagen: da, wo du stehst,
da, wo deine Gemeinschaft, dein Volk, deine Epoche
steht, da fällt die jetzt gerade aktuelle Entscheidung
über Gut und Böse, da entscheidet sich d. Sinn d. Welt.
Er ist in dieser Weltminute ganz und gar in deine
Hand gelegt. Man sieht: je entschlossener auf eine
vorgegebene Garantie für den Sieg des Guten verzich-
tet wird, um so gewichtiger und
die Verantwortung, die dem jeweils Lebenden und
Handelnden als dem gegenwärtigen Anwalt des Welt-
sinns auf die Seele gelegt ist. Auf die kommt alles
an! Von diser Verantwortung und Spannung kann
nicht auf einen „eigentlichen“ Sinn abgebürtet werden.
Wenn aber das Ganze des Alllebens sich den Individuen
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anheim gibt und so in eine unendliche Vielheit
auseinandergeht, so ist doch doch nicht eine Zersplit-
terung, die das Ganze zerstört. Die Einheit stellt sich un-
fehlbar deshalb wieder her, weil die zahllosen Sinn-
perspektven in der geschilderten Weise verschränken
und zum Gefüge durchwirken. Das Ganze „spielt sich“,
ohne dass es eines
Sinns bedürfe, „zusammen“. Und nicht nur dies:
es kann auch an jedem Punkte dieses Zusammenspiels
- so wie z.B. in dieser unserer Darlegung – gewusst, in sei-
ner Notwendigkeit gewusst werden, zwar nicht in dem
vollen Was seiner inhaltlichen Ausfüllung, wohl aber
in dem Dass seiner strukturellen Notwendigkeit. Dieses
Wissen ist d. höchste Punkt des Geschichtswissens über-
haupt.
Es ist ein naheliegendes Verlangen, das Wesen der
ins Menschenherzen ringenden Mächte noch näher
bestimmt zu sehen, als es mit d. Beziehungen
negativ – positiv, gut – böse geschah. Im Sinne der
augustinischen u. auch der herderischen Auffassung würde
es nahe liegen, sie als „Liebe“ und „Macht“ zu bezeich-
nen Gegensatz v. bedingunsloser Selbstvergessenheit
und höchgesteigerter Selbstdurchsetzung. Wir sahen ja,
dass die Macht vielfach als die widergöttliche Tendez
und folglich d. Staat als die Inkarnation des Bösen
galt. Aber die Antithese ist so nicht zu halten. Zwar ist
es richtig, dass das Böse der menschl. Natur nirgens
so völlig überwunden wird, wie da, wo die in d. Berg-
predigt geforderte Liebe den Lebenskurs bestimmt. Sie
ist die letzte Heilkraft für die Wunden, die die Geschichte,
zumal als Macht, schlägt, und die tiefste Überwindung
der im Menschen wühlenden Dämonien. Dass sie es
ist, beweist sie dadurch, dass sie wirklich den Stachel
Herrscherwillens
des Machtbegehrens völlig beseitigt. Sie „sucht nicht das
Ihre“. Aber umgekehrt wäre es falsch, die Macht als die
Potenz des Bösen zu qualifizieren. Richtig ist nur,
dass im geschichtl. Leben die Macht diejenige Stelle ist,
an den die Möglichkeiten und Versuchungen des Abgleitens
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sich konzentrieren und kumulieren. Macht in der
politische
geschichtlich wirkenden Form, also vor allem geschicht
Macht, ist maximale Verführung und erschliesst
maximale Möglichkeiten äusserer und innerer Verderb-
nis. Es gibt keine Excesse, keine Dämonie der Liebe – aber
es gibt die schlimmsten Excesse, die schlimme Dämo-
nie der Macht. Denn während die Liebe „nicht das
Ihre sucht“, sondern und Selbsthin-
gabe bedeutet, ist Machtausübung immer zugleich Selbst-
erhöhung und Selbstgenuss. Sie ist es deshalb, weil
sie nicht nur über Untermenschliches, sondern auch
über Nichtwesen verfügt. Der Mensch, der über Menschen
gebietet, bis zur Gewalt über Leben und Tod, ist stän-
dig versucht, sich Übermensch zu fühlen. Der Kitzel
der Macht; die Verführungen der möglichen Gewalt-
anwendung. Machtrausch . Aber dann
ist die Macht absolut nicht böse; sie wird es nur
durch die Art ihres Gebrauchs. Sie kann nicht böse
sein, weil sie absolute Notwendigkeit des menschl.
Daseins ist; und sie ist es erst recht deshalb nicht,
weil sie Quelle grössten Segens sein kann. Ohne Macht
was auch Augustin erkannte!
keine Ordnung, Formung, Sicherung menschl. Daseins;
ohne Staat keine Kultur. Und sittlich gezügelter
gebrauch d. Macht weckt alle Kräfte und beseitigt
alle Hemmungen. Gerade die Macht hat es also an
sich, dass sie die Ambivalenz alles Menschlichen in
grösstem Stile darstellt Sie tut es ganz besonders da, wo
sie auch mit d. Liebe ver,ählt und so ihre Dämo-
nien bändigt und ihre Segnungen voll entfaltet.
Macht, die sich mit dem Geist der Liebe verbindet, gibt
sich den höchsten und Raum, der ihr zukommt:
sie wird Gerechtigkeit. Platon u. Augustin über die
Gerechtigkeit als die spezifische Tugend des Staates. Macht,
die sich vom Geist der Liebe trennt oder geradezu zu
ihm in Gegensatz setzt, wird der Gerechtigkeit entleert
und damit nackte Gewaltausübung. Audustin über
die „magna latrocinia“. Kant: “Wenn die Gerechtig-
keit untergeht, hat es keinen Wert mehr, dass Men-
schen auf Erden leben“. Dass der Idealfall der Ver-
,ählung v. Liebe und Macht selten ist, sei nicht
verschwiegen. Gerade die Macht hat es also an sich,
dass sie die Ambivalenz d. Menschen in grossem
Stile sichtbar macht. Der Machthaber ist die gross-
artigste „Hieroglyphe des Guten und Bösen“.
Wenn wir nun die Geschichte als den Kampfplatz
ansehen, auf dem die Liebe und die dämonisch
entartete Macht widereinanderstehen, so ist es klar,
dass in diesem Kampf mit ungleichen Waffen die
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Liebe, äusserlich gesehen, stets der unterliegende
Teil sein wird. Denn es liegt ja in ihrem Wesen, dass
sie zwar wirkt, aber nicht eigentlich kämpft. Unter
diesem Gesichtspunkt wirken dann die Kräfte, die
diese Liebe vertreten, zunächst das Christentum, wie
die stets unterliegenden, ja die letzlich zur Wir-
kungslosigkeit Verdammten. Daher die höhnische
Frage so mancher realistischer Anwälte der Macht,
wer denn eigentlich diese ganze Liebesbotschaft in der
Menschheit gewirkt habe, und die cynische Auffor-
derung, sich vorbehaltlos auf die Seite der reinen
und nackten Macht zu schlagen. Naturalismen der
Macht-Ethik. Hier wird also jede Zähmung und Sitti-
gung der Macht d. d. Geist der Liebe abgelehnt. Und
Geschichte ist dann eben Geschichte der Macht, zu-
höchst Geschichte des Staates, und die Taten der Liebe
fallen dann als wirkungslos aus der Geschichte aus. Es
gibt keine „Geschichte der Liebe“. in Wahrheit entsteht
so ein völlig verzerrtes Geschichtsbild. Denn wie wäre
in Wahrheit die Geschichte verlaufen, wenn nicht
unausgesetzt der Geist der Liebe und aus ihm
entfliessend, der Geist der Gerechtigkeit sich den
dämonischen Leidenschaften des reinen, nackten
Machttriebes in den Weg gestellt hätte! Das Men-
schengeschlecht wäre längst in Jammer und Blut
erstickt, wenn nicht immer wieder selbst die wil-
deste Begehrlichkeit irgendwie auf diese mahnenden
Stimmen hätte hören müssen. Gewiss: ein reiner
und runder, ein nachweisbarer Erfolg ist dem Geist
der Liebe nie beschieden gewesen, und er wird es
nie sein. Aber ebensowenig hat sich dieser Grundtrieb
niemals völlig ersticken lassen. So zeigt uns die
Geschichte zwar die des Machttriebes
und seiner gewaltigen Taten, aber sie zeigt uns auch
die stille Einwirkung der Kräfte, die ihm immer
wieder Grenzen setzen, sowohl durch äussere Mahnung
dungen der deutschen Geschichte. Beharrende Daten
bei wechselnder Deutung. Wesentlich ist f. die
Deutung d. Vorgriff in die Zukunft. Grund: das den-
kende Wesen ist zugleich das wollende und han-
delnde Wesen: Sein Wollen hat Teil an der Gestal-
tung der Zukunft, die es deutend ackzipiert. Deu-
tung d. Zukunft und Deutung der Vergangenheit ste-
hen im Wechselverhältnis
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und Zügelung als auch durch die innere Gegen-
wirkung im Herzen des Machthabers selbst (als „böses
Gewissen“) So ist Weltgeschichte das stetige Sichdurch-
wirken beider Gewalten. Geschichte ist auch Geschichte
der Liebe, nicht bloss Geschichte der Macht. Beweis:
das Christentum, hat die Bergpredigt hat in dieser
Geschichte ihren wohlbestimmten Platz
Wenn wir uns aber davon überzeugen wollen, dass
der „eigentliche“ und „wirkliche“ Sinn der Geschichte
„in“ den Sinnhorizonten der Geschichtsträger selbst,
nicht „hinter“ ihnen zu suchen ist, dann dürfen wir
den Beweis dafür wohl vor allem in den gelebten,
getätigten, durchgekämpften Impulsen echten Lie-
besgeistes finden. Denn in diesen Impulsen, in denen
d. Mensch wahrhaft sich selber, seine Begehrlichkeit, sein
selbstkritisches Wollen überwindet, in denen er recht eigent-
lich „über sich selbst hinauswächst“, sind doch wohl
recht <....> den Durchbruch des Göttlichen im trüben
Wirrsal irdischen Vermögen, das Hineinstrahlen des
Lichts in das Dunkel menschlichen Irrtums und
menschlichen Leidens. Wer wollte diese Verklärung
entwerten, in dem er sie zur illusionären Vorspiege-
lung herabsetzte!; Dokumentenabschrift: Text zu lang - Fortsetzung in Feld "Kommentar" !
V 0060a
(1941)
Titelblatt
Die Frage nach dem Sinn der Geschichte.
(1941)
1
Aktualität des Themas.Keine „ewige“ Frage. der
Antike fremd. Sie hatte Geschichtsschreibung, Ge-
schichtsreflexion, aber keine Geschichtsphiloso-
phie. Metaphysik der zeitlosen Urbilder. Geschichte
unvollkommenes Vordergrundgeschehen.
Wendung mit dem Christentum. Erst jetzt eine
die menschheit umfassende Welt-geschichte,
und zwar als ein einmaliges, zeitlich ablau-
fendes Drama von metaphysischer Bedeutung.
Sündenfall – Christus – jüngstes Gericht. Aus-
bildung d. d. , erste Vollendung
in Augustinus „Gottesstaat“. Ungeheure weltge-
schichtl. Krisis (Roms Einnahme 410) als un-
mittelbarer Anlass.
Geschichte ist eingespannt zwischen jenen drei
Grundereignissen, , dass d. Verlauf im
Einzelnen von innen her verstanden wird. Ge-
schichte ist die kämpfende Durchsetzung des
Gottesreiches gegen die widerstrebenden Mächte
dieser Welt. In diesen lebt und wirkt die Sünde,
hervorgerufen durch die Ränke des Salanas. Schärf-
ster Dualismus ( Manichäer!) Dort die Welt der
Gottes- u. Menschenliebe, hier die Welt der Selbst-
sucht. Im Kampf der Geschichte setzt sich das positi-
ve Prinzip zunehmend durch. Inkarnation des
bösen Prinzips der Staat dieser Welt, gipfelnd
im Römerstaat. In ihm ist die Selbstsucht zu un-
ersättlicher Machtgier gesteigert – dazu passt die
Abgötterei, gipfelnd in der göttlichen Verehrung
des Tyrannen als der Verkörperung des Macht-
gedankens. Daneben im Nachklang des antiken
Denkens eine partielle Anerkennung des Staates,
so weit er das Recht wahrt, Ordnung stiftet, Frieden
hält. Aber wo die Gerechtigkeit fehlt – magna
latrocinia! Deshalb ist auf die Dauer dem irdisch
2
Staat der Untergang gewiss.
Eine grandiose Geschichtsdeutung. An ihr
treten gewisse Grundzüge hervor, die die christl.
Auffassung überdauert haben, weil sie einen von
ihr ablösbaren Rahmen bilden:
- der Sinn der Geschichte ist ein einziges allum-
fassendes Thema, an dem alle Menschen, Völ-
ker, Zeiten arbeiten. er übergreift alle Differenzen.
- Der Sinn setzt sich gegen alles Widerstreben sieg-
haft durch. Nichts kann ihm auf die Dauer wi-
derstehen. Grund: er ist ein v. Gott gewollter u.
gestifteter Sinn – was vermag d. Mensch wider
ihn!
- Der Sinn ist vom Ziele her: der Durchsetzung
„-logisch“!
des Gottesreiches her bestimmt. „Tellogisch“. Er
ist von dem her bestimmt, was noch nicht wirk-
lich ist, von der Zukunft!. Keine „kausale“ Vorbe-
rechnung der zu erwartenden Folgen“, sondern
umgekehrt vom Telos her das Vorangegangene
verstanden, ausgewählt, gedeutet.
- das Wissen um den Sinn, und zwar auch um das
noch nicht wirkliche, erst v. d. Zukunft zu erwar-
tende Telos, ist v. unüberbietbarer Sicherheit. Nicht
Vermutung, Hypothese, sondern absolute Gewiss-
heit. Grund: der Sinn ist nicht v. Menschen von dem-
selben Gott geoffenbart, der auch Garant seiner
Verwirklichung ist. Nur Gott ist im Besitz der
universalen Überschau, die auch die Zukunft
umgreift, weil er zu gleich die schaffende, erhal-
tende, lenkende Macht ist. Daher die Sicherheit
dieser Sinndeutung und ihre Macht über die
Gemüter.
3
Ich habe diese Grundzüge deshalb heraus-
gehoben, weil sie, wie bemerkt, den Prozess der
Säkularisierung überdauert haben, der seit dem
Ausgang des Mittelalters die geistigen Gehalte
des Abendlandes ergriff. Mit d. Emanzipa-
tion des Menschen erwacht auch das Bedürfnis,
die nicht nur die Geschichte, sondern auch den
„Sinn“ diser Geschichte als etwas aus dem Menschen
Hervorgegangenes und durch den Menschen sich
Wirkendes zu begreifen. An die Stelle des geoffen-
barten Sinn soll der selbstgewollte, selbstgewuss-
te Sinn treten. Prinzip der autonomen Innerwelt-
lichkeit setzt sich durch. Dies das Programm der
„Aufklärung“. Zu ihm gehört auch die „Philosophie
der Geschichte“, wie sie Voltair ver-
tritt. Sie sucht hinter der Buntheit des geschichtl. De-
tails den grossen Zug und das ist: den „Sinn“.
Und nun ist es <....>, zu sehen, wie in dieser
durchaus „innewetl.“ Geschichtsphilosophie die
Grundzüge wiederkehren, die wir an der christl.
Geschichtsphilosophie feststellten.
- D. Sinn d. Geschichte ist ein einziges, die ganze
Menschheit umgreifendes Thema: die siegrei-
che Durchsetzung der einen, allgemeinen Mensch-
heitsvernunft in Theorie und Praxis.
- Der Sinn setzt sich gegen alle Widerstände durch.
Grund: dem Licht der Vernunft können alle Irr-
Vorurteile, Aberglaube
licht, Wahnvorstellungen, Lügen auf die Dauer
nicht widerstehen. +) Wahrheit und Tugend haben
eine unwiderstehliche Kraft d. Selbstaussetzung
- Der Sinn ist vom Ziel her: der totalen Durchset-
zung Vernunft her bestimmt. Dies Ziel liegt
erst in d. Zukunft, die Menschheit ist noch auf dem
Wege. Aber das Ziel liegt sonnenklar vor Augen der
Erleuchteten, das Wissen um dies Ziel ist der Motor
der Bewegung, nicht der kausale Druck des weiten Zu-
rückliegenden. / Der ganze Geschichtsprozess wird
/ „Vernunfts-Eschatologie“!
+)Dualismus: Vernunft-Unvernunft!
4
von diesem Ziel her verstanden, ausgewisen, ge-
deutet. Prinzip des „Fortschritts“.
- Das Wissen um den Sinn, eingeschlossen um
seine zukünftige Realisierung, ist von unüber-
bietbarer Sicherheit. Nicht Vermutung, Hypothese,
sondern absolute Gewissheit. Grund: der Sinn
wird ja gedacht und gewusst von derselben
Vernunft, die als wollende und Subjekt des Wollens
und Handelns zugleich den Prozess lenkt und
verwirklicht. Hier ist nicht ein Wissen um das, was
ein anderes Subjekt tut, sondern um das, was der
Wissende selbst exekutiert. Daher die Sicherheit
dieser Sinndeutung und ihre Macht über die Gemü-
ter.
Man sieht: die Grundzüge sind geblieben,
nur ist alles radikal geändert, weil die Diffe-
renz v. Gott und Mensch, gottgewolltem Welt-
geschehen und menschl. Handeln, göttl. Allwissen-
heit und menschl. Beschränktheit geschwunden
ist.+) Offenbarung wird nicht nur überflüssig, son-
dern geradezu unmöglich, wenn das unendliche
und das endl. Subjekt zur Deckung kommen.
Die Offenbarung geht vom Menschen an sich selbst!
Selbsterleuchtung: Ungeheure theoret. u. prakt.
Optimismus.
Ein in seiner Art ewiger Typus d. Geschichts-
deutung. Sein Fortleben im 19. Jhdt. Seine un-
zerstörbare Wurzel ist das Erlebnis der Selbstmächtig-
keit im Menschen. Der Mensch erlebt sich als
„in sich centriert“, als autonomes Subjekt des
Denkens und Handelns, und versteht von
diesem Erlebnis aus die ganze Geschichts.
Trotzdem ist es uns heute fast unvortsellbar ge-
worden, dass ein Jahrhundert in diesem Glauben
hat leben können. Die Gegeninstanzen scheinen
und erdrückend. In d. Tat hat denn auch der
+) oder wenigstens im Sinn des Deismus zurückgeschoben!
5
Widerspruch schon im 18. Jhdt. kraftvoll eingesetzt. Wir
verfolgen ihn nur an zwei Gestalten: Rousseau u.
Herder.
Man könnte zunächst meinen, dass Rousseau, wenn überhaupt, nur
durch die anreizende Kraft der Verneinung auf unser
die Entwicklung unseres Problems eingewirkt
habe. Denn wenn er die Kultur als einen einzi-
gen grossen Abfall von der „Natur“ verwirft, so ver-
wirft er damit im Grunde auch die Geschichte als
das Werden dieser Kultur und damit streitet er
er doch d. Geschichte einen „Sinn“ ab. Er scheint sowohl
zu der christl. als auch zu der aufgeklärten Ge-
schichtsdeutung im Widerspruch zu stehen, weil er in
d. Geschichte nicht den Aufstieg zu einem in Zukunft
wirkenden Ziel, sondern im Abstieg und Verfall
sieht. Das Wertvolle ist nur am Anfang da! Proto-
typ aller Verfalls-Philosophie. „Der Geist als Widersa-
cher der Seele“! (Auch Joh. Mücke u.a. Lebensphiloso-
phen). Selbst wenn R. nicht mehr als dies gelehrt
hätte, würde er der geschichtsphil. Reflexion einen
Stachel eingesetzt haben. Er würde den problemlosen
Optimismus d. Aufklärung erschüttert haben; er würde
das Kulturgewissen aufgestachelt und die Reflexion
aufgefordert haben, Wert und Verdienen der Kultur
gründlichst unter die Lupe zu nehmen und die
Gefahren des Geistes ins Auge zu fassen. Er würde die
Aufmerksamkeit auf die innere Spannungen und Ge-
„Geist“ und Herz
gensätze im Leben d. Kultur („Geist“ und Sittlichkeit,
„Geist“ und Religion u.s.w.) hingelenkt haben. Aber
in Wahrheit beschränkt sich ja seine Theorie garnicht
auf die genannten rein negativen Thesen. Es treten
weitere Behauptungen hinzu, die auch ihn auf der
suche nach dem „Sinn“ der Geschichte zeigen. Be-
kanntlich hat er selbst sich kräftig gegen die Auslegung
verwahrt, dass er die „Rückkehr zur Natur“, d.i. die
6
Flucht vor der Kultur predige. Er sah, dass der Ver-
such einer solchen Rückkehr nicht zur ursprüng-
lichen Reinheit zurück-, sondern in den Abgrund
der Barbarei hinabführen würde – eine deutliche
Warnung an alle praktische „Ursprungs“-Romantik.
„Man lasse Künste und Wissenschaften die Wildheit
der Menschen, die sie verdorben haben, einigermassen
besänftigen .... Das Wissen des Lasterhaften ist nicht
so schädlich als seine grobe Unwissenheit“. Damit
ist zunächst die Unwiderruflichkeit der geschichtl.
Entwicklung zugestanden. Das Rad ist nicht rück-
wärts zu drehen. Zweitens: es ist dem, was diese
Entwicklung hervorbringt, ein wenn auch bedingter
Wert und damit diese Entwicklung selbst so et-
was wie ein „Sinn“ zugestanden. Sie zähmt und
die Menschen, die, wie sie nun einmal gewor-
den sind, das so sehr nötig haben! Kultu Geschichte
ist Geschichte der Verderbnis des Menschen, aber doch
auch Geschichte des Kampfes gegen diese Verderbnis!
Krankheitsgeschichte und Heilungsgeschichte in
einem! Und von da ist nun ein Schritt bis zu dem
Gedanken, der eine neue und hoffnungsvollere Per-
spektive erschliesst – eine Perspektive in dieselbe Zu-
kunft hinein, die sowohl d. christl. als auch d. aufklärer.
Geschichtsphilosophie so wichtig ist. Da nun einmal
der ursprüngl. Zustand der Reinheit verloren ist,
da andererseits uns die Kultur mit nicht nur mit
dem Wissen um das Verlorene, sondern auch mit
den MItteln der Zähmung und Sittigung hat – sollte da nicht der Versuch möglich
und geboten sein, auf der erreichten der Be-
wusstheit und Geistigkeit, aus der Kraft dieser Be-
wusstheit und Geistigkeit eine Zustand herzustel-
len, der zwar nicht die ursprüngl. „Natur“ widerholt,
wohl aber ihre Segnungen aufs neue hervorruft? Wa-
in entsprechend abgewandelter Gestalt
7
rum soll d. Mensch die perfectibilité, die ihn vom Tier
unterscheidet und d. Quell seines Unglücks ist (2.
), auch einmal in dieser Richtung mobil
machen? Diese Erwartung und Forderung ist deshalb
nicht grundlos, weil zwar d. „Naturmensch“ dahin ist,
aber die Wurzel der natürlichen Sittlichkeit, weil jedem
Menschen „eingeboren“, in jedem Menschen, der ins Le-
ben eintritt, wieder präsens ist. Sie ist im Grunde ewig
gegenwärtig „Die natürlichen Eigenschaften, die du,
o Mensch von Gott erhalten hast, haben Erziehung und
Gewöhnung wohl entstellen, aber nicht zerstören
können.“ Was so präsent ist, kann auch wider erweckt
werden, nicht um Geist u. Kultur zu verdrängen,
sondern um sie unter seine Leitung und Obhut
zu nehmen. Und dieses Neuerwachen ist ja nicht
nur Vermutung od. Forderung, es ist ja in Gange in –
Rousseau selber! In ihm wirkt der aus d. Natur in-
spirierte Geist, in ihm findet die Umkehr statt.
Wie hätte er, wenn er nicht diese Umkehr so wohl
forderte als auch in sich verwirklichte, den „Gesell-
schaftsvertrag“, und den „Emile“, diese Programme der
Neugestaltung schreiben können!
Zu diesen Erwägungen gestaltet sich ein Schema
der Geschichte, das ihr einen neuen „Sinn“ zu-
schreibt. Im Anfang die Vollkommenheit der
„Natur“, dann d. Einbruch d. Kultur u. d. Verderb,
bis zur Gegenwart, dann Einsicht u. Umkehr
in Rousseau u. dann auf d. Zunkunft entfallend,
Aufbau einer naturgemässen Kultur. Beachte
die strukturelle Entsprechung zur christl. Ge-
schichtsdeutung. Paradies, Sündenfall, bis z. jüngsten Tag. Sie ist auch eng
mit d. Christentum in der Ablehnung des Versuchs,
den Sinn d. Geschichte durch <....> Denken zu
ergründen. Dieses Denken ist ja gerade d. Wurzel der
Verderbnis. Auch diese Deutung entspringt aus „Offen-
8
barung“ – aber nicht aus d. Offenbarung eine transscen-
denten Gottes, sondern aus d. Offenbarung – des
eigenen Herzens. Man findet „so nahe bei sich selbst
den Quell der Wahrheit“. Gewiss, diese Ideen sind
und von Gott „eingeboren“, aber dann doch aus sich
selbst einsichtig u. überzeugend, dass es keiner be-
sondern Erleuchtung v. oben mehr bedarf. Offen-
barung „von innen“, nicht „von oben“. Und auch hier
begegnet uns die unbedingte Sicherheit d. Deutung.
Der Verstand führt uns tausendfältig in die
Irre, das Herz spricht Wahrheiten aus, die stets,
überall, für alle Menschen ohne Unterschied gül-
tig sind. Mit diesem unbedingten Zutrauen zum
eignen Herzen tritt Rousseau auf einmal auf die
Seite der bekämpften Aufklärung. Beide suchen die
Quelle der letzten „Einsicht“ im Menschen – diese im
vernünftigen Denken, jene im Gemüt. Das wird nicht geradezu verneint, aber doch
so zurückgeschoben („Deismus“), dass alles Entschei-
dende sich im Menschen abspielt und durch den
Menschen verwirklicht.
Das „dialektische“ schema dieses Geschichtsdeu-
tung! Aus dem Kampf äuserer Gegenmächte („“) ist nun eine innere Auseinanderset-
zung geworden, die durch die Negation zur Positi-
on fortschreitet. Das Herz siegt über die .
Das Schema d. Aufklärung ist undialektisch: geradli-
niger Anstieg v. unten nach oben.
Die tiefe innere Wahrheit des dialekt. Schemas, (das
ja schon in das schon in der christl. Sinndeutung ange-
legt ist. Der Mensch . Die
Ambivalenz alles Menschlichen. Die Freiheit des
Sichselbstmachens als Quelle des Grössten und
des Verruchtesten. Geschichte als grossartigste Illu-
stration dieser Ambivalenz. Nicht friedl. ,
sondern ewiges Ringen.
9
Viel leidenschaftl. und durchschlagende wird d.
Kampf gegen d. Geschichtsbild d. Aufklärung aufge-
nommen in Deutschland. Rousseau stand mit
seinem Zutrauen dem Menschen d. Aufklärung
sehr viel näher, als er selbst wahrhaben wollte.
In Deutschland war von solchem Radikalismus
keine Rede. Stärkeres Fortwirken der religiösen Bewe-
gungen. Fortdauer protestant. Frömmigkeit. das
Merkwürdige ist nun, dass auf d. Boden dieser
sehr viel konservativeren Haltung, auf dem Bo-
den dieser Gläubigkeit ein Geschichtsideal erwächst,
das wirklich völlig neue Perspektiven eröffnet.
Erst hier wird d. Blick in die Tiefe der Geschichte
getan.
Äusserlich haben wir hier so etwas wie eine Rückkehr
zur christl. Geschichtsdeutung vor uns. Aber es
lohnt sich, zuzusehen, weshalb und in welcher Hin-
sicht dieser christl. Geschichtsaspekt von dem der
Kirchenräte abweicht. In Augustin lebte noch
das urchristl. Erlebnis, das den Sinn
des Menschendaseins auf einen Punkt hin kon-
zentrierte: das „Seelenheil“, die Erlösung v. d.
Sünde, die Überwindung des Salanas (Augustin war nicht
blind für Reichtum u. Reiz der Kulturgüter,
aber sie treten <...> gegenüber dem „ et animam scire cupio“) ganz in
d. Hintergrund. Herder ist auch und in-
sofern auch auf das Seelenheil bedacht – aber er |-
ist zugleich ein Mensch von reizbarster Empfind-
ästhetisch!
lichkeit für die Werke des Geistes (Sprache, Mythos,
Dichtung, Erziehung, Bildung) und nicht
gewillt, dies alles aus dem „Heil“ der Seele auszu-
schliessen. Das Reich der Seele umschliesst und
soll auch umschliessen all die Güter, die er
unter dem Namen „Humanität“ zusammenfasst –
welches Wort in und um seinem sittlichen Sinn auch
|- lebt nicht in der eschatologischen Spannung der ersten
Christenheit; er
10
den ganzen Reichtum des geistigen Schaffens um-
spannt (zumal das Ästhetische“)
Wenn aber so der Sinngehalt d. Geschichte sich
erweitert, so kann das nicht ohne Folgen dafür
bleiben, wie das Verhältnis Gottes zur Geschichte
gesehen wird. (Die augustinische Geschichtsauffassung
bezieht das Schicksal der Seele ganz u. gar auf
das Jenseitige, läst sie setzt ihr „Heil“ zu allem Dies-
seitig-Innenweltlichen in Gegensatz. Deshalb
kann sie auch Gott in der Stellung der absoluten
Jenseitigkeit belassen. Er ist der Weltschöpfer und
Weltlenker, aber verharrt gegenüber dem Weltgetriebe
„äusserlich“
in bedingungslose Transcendenz. Aber dabei kann
es nicht bleiben, wenn über die Frage des Seelenheils
und den ein-
hinaus der diesseitigen Kultur ein Gegenwert zu
schlägigen Bemühungen des Menschen auch ein
der gläubige Christ
Eigenwert zuerkannt wird. Denn dann kann d.
auch diese Werte nur auf die Güte Gottes zurück-
führen kann, so muss er zu der Auffassung gelan-
gen, dass doch das göttl. Leben auch in diese zeit-
lich-geschichtliche Welt irgendwie ausstrecken, dass
diese Welt als solche nicht so wertentstellt und
gottverlassen ist, wie das urchristl. Pathos es
annimmt. Es ist dann in der irdischen Geschichte selbst
mehr an Gottgewolltem. Gottensprungenen zu fin-
den, als der augustinischen Weltpessimismus
zugeben will.
So finden wir denn in d. Tat bei Herder (wie
schon bei seinem Lehrer Hamann.) das Verhält-
nis zwischen Gott und geschichtl. Welt ganz
anders ausgelegt als bei Augustin. Die Welt
überhaupt und die speziell die geschichtl. Welt
ist nicht nur die Schöpfung Gottes, untersteht
nicht nur der allmächtigen Lenkung Gottes, sondern
ist auch die sichtbare Offenbarung Gottes. Erweiterte Be-
griff d. „Offenbarung“. Hamann: Geschichte ist die
„Auffassungstheorie Gottes“ XXXX Menschenwerk tritt die
(Eine Welt v. „Zeichen“, xxxxxxxxSprache)
11
Nach dem Vorgang Hamanns!
Die ganze Wirklichkeit ist eine solche von „Zeichen“, sie
reden ein „Sprache“. Menschensprache ist nur die
Kulmination eines viel allgemeineren Verhältnis-
ses. Die Welt ist die Offenbarung Gottes. Und die
specielle Welt des Menschen, d.i. die Geschichte, ist
nur die höchste Form dieser Offenbarung. Hamann:
die „ Gottes“, die „“. Wer
die Geschichte mit gläubigem Herzen liest, dem ent-
hüllt sich in ihr die Gottheit; den andern ist sie
„ein versiegeltes Buch“. Zu dieser Betrachtungsweise, die
Herder übernimmt und ausbaut, entsteht ein
Gottesbegriff, der gläubige Bestimmungen mit philo-
sophischen vereinigt. Leibniz, und be-
sonders Spinoza. Gott wird nicht einfach pantheis-
tisch mit d. Welt gleichgesetzt. Er ist und bleibt der
weltüberlegene – aber er verharrt auch nicht in ab-
soluter Jenseitigkeit. Die Welt lebt und webt in ihm
und er in der Welt. Kein Gott, der „uns von aussen
stiesse“. Er wirkt sich in der Welt aus, „durchfühlt“
sie, „“ sich in ihr. Wenn dies von allen u.
jedem Dasein gilt, dann ganz besonders
v. d. Dasein seines höchsten Geschöpfes, des Men-
schen. Goott „durchfühlt“ auch und erst recht die ge-
schichte.
Indem diese Gottesanschauung mit d. Geschichts-
auffassung in Verbindung tritt, entwickelt sich eine
durchaus neue Auffassung v. Geschichte und
Sinn d. Geschichte. Zunächst: es bleibt mit der
Einheit der alles durchwaltenden Gottheit auch
u. Zusammenhang!
die Einheit als die Geschichte erfüllenden Sinns.
Herder nennt dies eine Thema „Humanität“. Es
ist die gemeinsame Aufgabe d. Menschheit: Dar-
stellung des göttl. Lebens in der zeitlichen Welt. Es
bleibt auch, zumal bei dem späten Herder, die
Annahme einer nach einem Ziel hin ausgerichteten
Entwicklung des Ganzen. Aber beide Gedanken
12
erfahren im Zeichen des panenthistischen Gottesge-
dankens eine tief eingreifende Wandlung. Die
Einheit der Aufgabe und des Sinns kann nicht
mehr die Einfachheit, Monotonie bleiben, in der sie
nicht
bisher immer wieder gefasst wurde. Gott ist stets
nur stets u. überall gegenwärtig: er offenbart sich
auch überall in konkreten Gestalten, er tritt hinaus in
die Sichtbarkeit. Damit entfällt die Möglichkeit, in
diesen konkreten Gestalten des Geschichtsverlaufs nicht
mehr zu sehen als wechselnde Köstüme, Fassade,
Aussenseite, die, an sich gleichgültig und wertlos, nur
einen dahinterstehenden, sich gleichbleibenden Wert-
gehalt . Nein: gerade in dieser sichtbaren
(vgl. Hegel: „Manifestation!) (Ranke)
Gestalt muss Gott gesucht und gefunden werden.
So erhält die sichtbare Gestaltung d. geschichtl. Welt
eine Würde, die ihr noch nie so zu teil geworden war.
Geschichte ist nicht nur Schaugepränge! Diese Anerkennung
der konkreten Gestalt ist als solche zugleich Anerkennung
der Mannigfaltigkeit der Gestalten. Für die Auf-
klärung, für Rousseau war diese Mannigfaltigkeit ent-
weder gleichgültig oder gar anstössig: Trübung des
einen identischen Vernunft – oder Naturgehalts. Für
Herder ist diese Mannigfaltigkeit gerade ein Beweis
für die Göttlichkeit des in ihr sich Offenbarenden. Das
wäre eine ärmliche Gottheit, deren Wesen sich in einem
einzigen Sinngehalt erschöpfen! Unerschöpfl. Lebens.-
und Schaffensreichtum ist das Wesen d. Gottheit. Je
mannigfaltiger das menschl.-geschichtl. Leben sich
ausgestaltet, um so klarer bezeugt es seinen göttl.
Charakter. Das Göttliche strebt fort zu immer neuen
Protens“.
Formen. Es ist unendliche Selbstbesonderung in im-
mer neuen Gestalten. Leibniz’ principium indivi-
dualismus auf die Geschichte angewandt! Herders ver-
stehender Blick für Individualität der Gestaltung
(ästehetisch!) erlebt sich als Schau Gottes. Die Einheit des
Themas „Humanität“ lässt nicht nur die Vielheit der
Ausprägungen offen: sie verlangt nach ihr. Jede
Monotonie der Sinnbestimmung ist damit ausge-
schlossen. Humanität und Volkheit schliessen sich nicht aus!
Besonders hart stösst
Zu besondern Schwierigkeiten diese Auffassung
mit der Annahme einer zielgerichteten Entwicklung
zusammen. Dieses Schema birgt eine Entwertung
der früheren Stufen zu gunsten der spätern und allen
Stufen zu gunsten der letzten mit sich.
„überwundene“ Standpunkte“. Aber wenn Gott überall
zugegen ist – wie wäre dann diese Wertabstufung,
zu ertragen! Jede Epoche, ob früher
oder später, ist grundsätzlich gleich gottnahe, gott-
erfüllt, von Gott „durchfühlt“. Geschichte ist gleich-
sam immer am Ziel, nie bloss auf dem Wege. Jede
Epoche ist in sich, in ihrer Sonderart, Darstellung göttlich
Lebens. Beispiel der Lebensalter. Jede Phase hat
ihren „Mittelpunkt in sich selber, wie die Kugel den
Schwerpunkt“: ihre Tugend, ihre Glückseligkeit, ihre
schöpferkraft. Und wenn eine spätere Epoche vor
einer frühern etwas voraus hat („Fortschritt“), so <....>
näher. Prüfung, dass sie ihren Vorzug mit einer „Pri-
vation“ bezahlen muss. Weder das Frühe (Urzeit,
„Natur“ u.s.w.) noch das Späte (Aufgeklärtheit) hat
einen grundsätzlichen Vorzug. Individualität
ist Gestalten und Beschränkung zugleich. Kontur
kann nur das haben, was nicht alles zugleich
sein will. Göttliche Vollkommenheit ist nur in dem
Zusammenspiel aller Gestalten, nicht in einer ein-
zelnen. Herders Gang durch die Geschichte. Rehabi-
litierung missachteter Zeiten (Orient, Ägypten, „go-
tisches“ Mittelalter) – Zurückstellung verabsolutierter
Zeiten (Griechenland) – kritisches aufklärerisches Dun-
kels. „Kinderwege“.
Niemals zuvor hatte sich das Bewusstsein d. geschichte
mit so metaphysischer Wucht ausgesprochen. Erst jetzt
ist die antike Metaphysik der unbewegten Formen
14
durch eine Philosophie des geschichtl. „Lebens“ überwunden.
Die geschichtl. Individualität im Neben – und Nach
einander ist metaphysisch geweiht. Freilich treten
nun auch schon bei Herder die innern Schwierigkeiten
dieser Auffassung deutlich hervor. Sie <....> vor allem
in dem Verhältnis zwischen der Einheit des göttl.-
geschichtl. Lebens und der Vielheit seiner Gestaltwer-
dungen, und zwar vor allem deshalb wird diese un-
endlich vielen Gestalten gebildet werden von Wesenhei-
ten (Personen, Gemeinsachen, Epochen u.s.w.), die nicht
nur für den Betrachter geschlossene Gestalten bilden, son-
dern auch sich selbst als Einheiten des Wesens, des Wollens,
des Wirkens erleben und betätigen. Notwendig
die Frage auf: wie verhält sich dieses individuelle Selbst-
zur Macht des Göttlichen?
sein zum Strome des Alllebens? Eine rein transcen-
dente Gottesanschauung nach Art der augustinischen
gelangt hier notwendig zu einer sehr einfachen und
radikalen Lösung: der überweltliche Gott ist sowohl
Schöpfer als auch Lenker der von ihm geschaffenen
Welt; dagegen kann kein Eigenwirken seiner Geschöpfe
aufkommen. Sie können nur den von ihm entworfenen
Weltplan ausführen. Ein eigenständiges Wissen und
Wirken gibt es nicht. Sie wissen durch seine Offenba-
rung von dem allgemeinen Weltplan. Dagegen ist der
Einzelne in bezug auf sein persönl. Los (Seelenheil)
bar jedes Wissens und jeder Wissensmöglichkeit.
D. Gedank. d. „Prädestination“: Konsequenz die d. Weltgeschehens. Aber so kann es
nicht bleiben, wenn, wie bei Herder, Gott aus seiner
Aussenweltlichkeit herniedersteigt und sich in das
irdisch-geschichtl. Leben ergiesst. Denn dann ist
die Geschichte nicht mehr ein v. oben dirigiertes
Getriebe blinder Vollzugsorgane. Irgendwie muss
doch dies göttliche Leben mit dem Eigenleben derjeni-
15
gen Wesen, in denen es sich offenbart, eins werden. Wollte
es dies Eigenleben radikal auslöschen, so würde es ihm
ja damit gerade die Würde, die Eigenheit, die Selten-
heit nehmen, die es erst geeignet wird, Dar-
„imago die“
stellung göttlichen Lebens zu sein. Willen- und
wissenlose Marionetten können nicht göttlichem Leben
zum Ausdruck dienen. Aber eben damit erhebt
sich hier die zentrale Frage: wie verhält sich denn
das Eigenwesen und Eigenleben der menschl. Gestalten
im Kleinen u. Grossen zu dem göttlichen Alleben, von
dem es durchflutet wird? Im Grunde kann sie ja
weder vollkommen eins sein (denn dann würde das
Einzelne im Ganzen evrschwinden) noch
können sie vollkommen getrennt ein (denn dann
wäre das Göttliche wieder und das
Menschliche ungöttlich)
Man mache sich klar, dass die hier auftauchende
Schwierigkeit mehr ist als Folgerung einer bestimm-
ten theolog.-philos. Theorie. Sie ist der gedankl. aus-
druck einer dem denkenden Menschen geläufigen
Erfahrung. Auf der einen Seite erlebe ich mich als
individuales Subjekt mit meinen eigenen Lebens-
horizont, mit selbsteigenem Denken, Planen, Wollen,
selbstwissend und selbsthandelnd, freiwirkend.
Aber zugleich und in einem erlebe ich mich doch auch,
in meinem selbsteigenen Tun, als getragen von einem
gewaltigen Strom überpersönlichen Lebens, der über den
Horizont meines <....> Wirkens unabsehbar
weit hinausreicht, der heranwogt aus dem Dunkel
einer unabsehbaren Vergangenheit und weiterströmt
in das Dunkel einer unbekannten Zukunft. Herder
hat, im Unterschied v. d. Aufklärung, die allenthal-
ben nur das zweckbewusste Handeln wollender
, das Wollen dieser überpersönlichen
16
Mächte stark verspürt und eindringlich dargestellt.
In ihnen hat er das göttliche Alleben zu verspüren
zwei Formen!
gemeint. Aber nun hat er bemerkt, dass diese
überpersönlich Mächte zwar in bestimmten Formen
und Gestalten sich mit dem individuellen Sein
und Wollen nicht nur harmonisch , son-
dern ihn sogar recht zur Entwicklung
verhelfen. Er fand diese Harmonie in dem Leben
der wachsinnlich-organisch entstehenden und
sich fortbildenden Mächte wie Sprache, Mythos, Reli-
gion, Urpoesie, die niemals aus zweckbewusstem
Einzelwollen entstehen doch sich dem Einzel-
leben . Wenn wir unser Teilhaben an
diesen Mächten betrachten, dann sehen wir: in jedem
von uns lebt und wirkt unendlich viel mehr als
bloss Persönliches. Wir fühlen uns erfüllt, genährt,
„durchhaucht“
getrieben v. göttlichem , das nur nicht von
aussen stösst, sondern mit unserem Innern eins
ist. Wäre alles Überpersönliche von dieser Art, dann
gäbe es für diese Theorie keine Schwierigkeiten.
Aber leider ist es nicht so. Das Individuum erlebt und
erfährt das überpersönl. Leben der geschichtl. Mächte nicht
nur in harmonischen Verschmelzungen mit seinen persönl.
Dasein
Schicksal, sondern auch als <Über....> durch ein
übermächtiges Schicksal, das so weder gewusst und
geplant noch gewollt wurde. Geschichte kann auch
der <....strom> sein, in den das Einzelwesen wehrlos
hinein gerissen wird. Herder hat sehr wohl gesehen,
welches die geschichtl. Mächte sind, in denen und
durch die sich dies Schicksal vor allem gestaltet. Es
sind die Zusammenstellungen des handelnden Wil-
lens – im Gegensatz zum unbewussten Wachstum! – dern
höchste Form d. „Staat“ heisst. Indem Vielheiten von
individuellen Wesenszentren sich zu Einheiten des Han-
deln zusammenstellen, kann es nicht anders sein, als dass
17
Ordnungen entstehen und Aktionen stattfinden, hinter
denen der Einzelne mit seinem Wesen u. Wollen ver-
schwindet. Und in dem diese Gesamtsubjekt aufstehen und sich den Lebensraum streitig machen,
kommt es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, in
nach dem
denen erst recht das Individuum seinem Wohl und
Wehe, seinem Wollen, seinem Leben nicht gefragt wird.
Herders Erfahrungen mit dem absoluten Staat seiner
Zeit. Und wie das Wirken, so ist auch das Wissen des
Einzelnen in diesem Gesamtprozess d. Geschichte kläg-
lich beschränkt, nach rückwärts wie nach vorwärts. Wie
diese Schicksale sich im Laufe der Jahrhunderte u.
Jahrtausende zusammengebaut haben, und wie
sie sich in die Zukunft hinein gestalten werden – das
ist uns im Tiefsten dunkel. Unser Lebenshorizont
liegt wie ein winziger Lichtkreis innerhalb des Dun-
kels eines ungeheuren Ozeans, dessen Wogen uns
hierhin und dorthin tragen.
Man kann sagen, dass wir Heutigen diese zwei
widersprüchlichen Aspekte des geschichtl. Daseins in
ihrer ganzen Gegensätzlichkeit erleben, wie kein Ge-
schlecht vor uns. Auf der einen Seite ist die helle
Bewusstheit und rationale Klarheit in d. Gestaltung des
eigenen Daseins so hoch entwickelt wie noch nie. Es
ist, gelungen Millionen planmäßig zu ordnen, zu
leneken, zu versorgen, zu organisieren, zu Aktionen zu
vereinigen; nichts bleibt dem ungelenken Wachstum
überlassen, alles wird „erfasst“, dazu die Natur ganz u.
gar d. Menschen unterworfen. Es sieht so aus, als sei
d. Mensch erst jetzt wirklich mündig geworden und
habe sein Schicksal ganz in seine Hand bekommen
(„Fortschritt“). Aber auf der anderen Seite ist dieser Riesen-
apparat für den Menschen selbst wider Schicksal
geworden und reisst den Menschen, auch den höchstge-
stellten, in seinen eigenen hinein. Durch uns
d. Golem
18
hindurch lebt sich ein Übermächtiges aus. Druck eines
unabwendbaren Faktums, das doch selbst geschaffen ist!
Nach Herder ist dies <Überpen....> in in sakulari-
sierte Form immer wieder ausgesprochen worden:
Weltseele, „Kulturseele“ (Spengler), Rassenseele, Volks-
seele, (Eucken), Paideuma ()
u.s.w. –
Je mehr Herder sich diesem Gegensatz und Ab-
stand zwischen d. überpersönl. Mächten der Geschichte
und dem Wissen und Wollen des Einzelnen zum Be-
wusstsein bringt, um so stärker kommt in ihm ein
theologisches Denken zu Wort, durch das er sich der au-
gustinischen Position wieder annähert. Er stellt
dann einander gegenüber den Menschen als „In-
sekt einer Erdscholle“, „Ameise, die auf dem grossen
Rade des Verhängnisses kriecht“, „Fliege“, „immer nur (!)
Werkzeug“ – und den „Bauplan allmächtiger Weisheit“,
die „Absicht der Vorsehung“ – oder er stellt geradezu ne-
beneinander „Zufall, Schicksal, Gottheit“. „Begeben-
heiten, die über alle menschlichen Kräfte und Aussichten
gingen“. Hier sieht er also das Wissen und Wollen der
Individuen in unendl. Abstand von Wissen und Wol-
len der Gottheit. So bewegt sich sein Denken ohne
klare Entscheidung zwischen zwei Extremen: har-
minisches Ineinanderweben von göttl. und menschl.
Leben und Gegensatz zwischen menschl. Beschränkt-
heit und göttlichen Allwalten. Teilhabe am
göttlichen Wissen und Ausgeschlossenheit von
jeglichen Wissen.
Logisch ist dieser Widerspruch sehr unbefriedigend.
Psychologisch von tiefster Wahrheit. Denn in diesem
Doppelaspekt sieht sich d. Mensch, zumal d. moderne
Mensch, immer wieder.
Man sieht: in dem d. Begriff d. göttl. Offenbarung
sich v. den direkten Glaubenszeugnissen auf das
Ganze des zeitlichen Lebens ausdehnt, geht die Ein-
19
deutigkeit und Sicherheit der Deutung verloren, die
das gläubige Vertrauen zu jenen im Gefolge hat.
Herder hat nicht mehr die Sicherheit ursprüngl. Glau-
bens und noch nicht die Sicherheit des Wissens, das
Philosophie nach ihm in der Ergründung des welt-
histor. Logos, der Idee, glaubt gewinnen zu können.
Lehrreicher Zwischenzustand!
Aber die Durchführung der panentheistischen Ge-
schichtsauffassung stösst noch auf einen zweiten
Kreis von ebenso gewichtigen Schwierigkeiten. Gewiss findet
der Blick auf die Menschenwelt genügend Wesensart,
Taten und Werken, in denen man die Manifestation
des Göttlichen sehen kann: eben der Inbegriff der „Hu-
manität“! Sittliche Güte und Genialität des Schaffens,
Taten und Werke. Aber wie vieles steht daneben, was
un- und widergöttlich heissen muss! Und wenn
irgend einer, so muss d. Gläubige, der , dies
alles sehen. Und Herder hat es gesehen, zumal in
d. Phase seines geistigsten Glaubenslebens: Torheit,
Roheit, Aberglaube, Fanatismus, Hass, Grausam-
keit, Machtgier, Gewalttat! Ein Pandämonium
unbändiger Leidenschaften. Ihr Werk: Blut und
Tränen! Geschichte nimmt ihren Weg „über Millio-
nen von Leichname“. Selbst das Christentum ist nur
auf in Durchsetzung mit diesem allzu menschlichen!
Noch spät, im 46. Humanitätsbrief, sagt sich Herder:
„Die grössten Verändeungen der Weltgeschichte sind
von Halbwahnsinnigen bewirkt worden, und zu
mancher rühmlichen Handlung ....gehört wirklich
ein Art bleibenden Wahnsinns.“ Widerum sieht
Herder diese düsteren Mächte sich an einer bestimmten
Stelle konzentrieren: im Staat: Denn als Werk der
Willensenergie ist er zugleich die Stätte, an der die
Dämonie der Macht sich am furchtbarsten entfaltet:
20
innenpolitisch als Druck despotischer Herrschaft,
aussenpolitisch als Eroberungsgier und der von
Herder teif verabscheute Krieg. Dass die „Macht
böse ist“, hätte schon Herder sagen können. (Vgl.
Augustin!) Eine ästhetisch gestimmte wie
Herder musste sich von dieser Seite der geschichtl.
Wirklichkeit besonders abgestossen fühlen. Der Staat
ist der Antagonist der Humanität.
Auf diese Weise wird die geschichtl. Welt schroff
in zwei Teile zerfällt. Der un-bekannte Dualismus
in neuer Gestalt: Humanität und Macht! Nun
mache man sich klar, dass dieser Dualismus im
Rahmen der Herderschen
Weltansicht eine sehr viel schwierigere Form annimmt.
Solange Gott als rein ausserweltliche Potenz gedacht wird,
kann alles Negative dieser Welt auf Rechnung ausser-
u. widergöttlicher Mächte – sei es des v. Gott abgefal-
lenen Menschen, sei es der Satanas – gesetzt werden.
Wenn aber das ganze zeitl. Geschehen als Offenbarg.
göttl. Lebens gedacht wird . woher dann all diese
widergöttlichen Greuel?! Problem d. Theodizee in
schärfster Form. Wie wird Herder mit ihm fertig?
Seine Antwort: dies alles, unbeschadet seiner sittl.
Fragwürdigkeit, hatte seine im Plan Gottes vorgesehene
Notwendigkeit. Der Sündenfall „sollte“ sein, denn
nur durch ihn wurde d. Mensch über die Stufe der
Unschuld hinausgenötigt in die
Arbeit der Kultur (So d. Theologe Herder!) Alle jene Ge-
brechen sind f. d. Fortgang d. Geschichte notwendige
„Vehikel“. Selbst f. d. Christentum waren jene Beimischungen
21
Revolution!
notwendig. Vorurteil, Leidenschaft, Wahn als Bedin-
gung vollkräftigen Seins und durchschlagenden
Wirkens. Nur so Horizontbildung und Echtheit.
Gegenbeispiel: die horizontlose und deshalb grei-
senhafte Aufklärung. Die „Privation“, die jeder Indivi-
dualgestalt anhaftet, umfasst also auch das Negative!
Man muss sehen, wie „in allem doch Geist haucht“.
Hegelsche Einsichten klingen an: die „List der Idee“,
die „Leidenschaften“, die dialektische Einordnung des
„Negativen“. Geschichte kennt keinen „stillen Gang“.
So ist also nach Gottes Willen d. Mensch: „Hirogly-
phe des Guten u. Bösen .... Engel- und Teufelsgestalt,
ein „Mittelding“, „verborgenes Doppelgeschöpf“.
So wird auch das Widergöttliche v. der Teleologie
eines göttlichen Alllebens umspannt. Tragik d.
Weltgeschichte, Dämonie des Menschen werden
gesehen, und doch ist d. Fluch d. Sinnlosigkeit
weggenommen. Realismus des Glaubens!
Später in Weimar Verflachung dieser Gedanken
und Annäherung an Fortschrittsideale d. Aufklärung.
Hinweis auf die Widersprüche, die innerhalb dies.
Theodicee d. Geschichte noch verbleiben. Vor allem
d. Gottesbegriff schwankt zwischen dem die Welt lenkenden und auch die Sünde als „Ve-
hikel“ wollenden Got (aber nicht teilenden!) Gott
und dem in die Welt sich ergiessenden Gott, auf
dessen Rechnung dann doch auch die Sünde
kommt. Drängt dies alles nicht an dem Gottbergiff
I. Böhmes und Schellings?
Ich habe Herder so ausführlich behandelt, weil er
bei aller Unvollkommenheit und Widersprüchlichkeit
die entscheidenden Fragen und Motive mit genialer
Divergention ausgesprochen hat. Das Folgende kann
22
ich kürzer abmachen. Weg der deutschen Philosophie
v. Kant bis Hegel. Entscheidend wichtig ist zweierlei.
„Endzwecks“
Erstens: der Gedanke der Einheit des Sinns und des zu erreichenden Ziels tritt
wieder stärker hervor. Am klarsten bei Kant und
bei Fichte, modifiziert bei Hegel der zwar vom
„Fortschritt(!) im Bewusstsein der Freiheit“ spricht, aber
auch den Geist „immer präsent“ sein lässt. Ferner:
die Sicherheit der Deutung wird wieder herrschend,
aber nicht auf Grund Erleuchtung,
sondern auf Grund unbedingten Zutrauens zur
d. Begriffs
Kraft des erkennenden Geistes. Der Philosoph tritt
an die Stelle der alles durchschauenden Gottheit.
Kant ist noch vorsichtig: sein Entwurf der Geschichte
ist „blosse“ Idee. Aber Fichte ist schon gewiss: sein
Auge ist nicht „ein Produkt dieser Zeit“, „seine Philosophie ist nicht zu
Hause in diesem Zeitalter, sondern „ein Vorgriff der
Zeit“! „Ich war es, der es zuerst lebendig einsah“. – Eben-
so dachte Hegel über sein Begreifen der Geschichte.
Endlich: es herrscht das Schema der Dialektik.
Bewegung d. Geschichte durch die Negation hin-
durch. Das grossartigste und reichste Geschichtsbild
entsteht bei Hegel. Blick f. d. Tragik der Ge-
schichte. d. histor. Leidenschaften. Kräftigste
Bejahung des von anderen verabscheuten Staates.
„ nicht d. Boden des Glücks“. „Leere Sei-
ten“. Aber auch hier ist das Resultat eine gewis-
se Marionettenhaftigkeit. Die Individuen wer-
den vom Logos der Geschichte verbraucht.
23
Den Höhepunkt deutscher geschichtsphilos. Sinn-
deutung bildet Hegel. Grösse und inhaltl Richtung
seiner Deutung. Ihrer formalen Struktur nach nimmt
sie die uns schon bei Augustin entgegengetretenen
Züge wieder auf.
1. Es ist ein einziges, gemeinsames Thema, das den
Sinn d. Geschichte bildet: „Fortschritt im Bewusstsein d.
Freiheit“ – oder, was dasselbe ist: das totale Sichselbst-
erfassen des Geistes. Alle individuellen Menschen,
Gemeinschaften, Epochen arbeiten als „“ des
Weltgeistes an dieser einen Aufgabe mit.
2. Der Sinn setzt sich unfehlbar durch. Auch was ihm
scheinbar widerstrebt, das „Negative“ dient seiner Verwirk-
lichung, ist sogar zu seiner Verwirklichung unentbehr-
lich. „Dialektik“. Grund: weil in Wahrheit der Geist
das Ganze ist, kann die Entwicklung, nur in seiner to-
talen Selbstdurchsetzung bestehen.
3. Der Sinn wird vom Ziel her verstanden. S. o.:
„Fortschritt“. Allerdings auch: der Geist ist „immer
präsent, womit die Individualgestalten aus der
Rolle des blossen „Mittels“ befreit sind
4. Es gibt ein absolut sicheres Wissen vom Sinn. Der
Geist, der um Geschichte weiss, ist ja zugleich das täti-
ge Subjekt der Geschichte. Dabei ist dies „zugleich“ noch
zu äusserlich. Das in der Geschichte selbst werdende
Wissen ist nicht nur das Wissen des Zuschauers, sondern
wesentliches, ja zentrales Moment dieses Werdens selbst.
Die Differenz zwischen dem Geschehen und dem Wissen
um das Geschehen hebt sich zunehmend auf. D. Geist erfasst sich selbst.
Allerdings eine tief eingreifende Abwandlung gegen-
über den früheren Verwirklichungen! Das volle Wissen
um den Sinn des Ganzen ist erst am Abschluss da.
Anders kann es nicht sein, da dieses volle Wissen selbst
das Telos ist, dem die Entwicklung zustrebt. Das
24
„Sichselbsterfassen“ vollendet sich in dem endgülti-
gen Wissen. Teleologie des Wirkens und Teleologie
des Wissens kommen zur Deckung. Ferner: dies
volle Wissen ist der Philosophie vorbehalten,
weil erst in ihr der Geist total „sich selbst erfasst“.
Erst in ihr ist „der Geist zu sich selbst gekommen“.
D. „Vogel der Minerva“.
Die weittragende Konsequenz v. alledem: der
Sinn d. Geschichte wird vorwärts getrieben und rea-
lisiert durch Subjekte, die von ihm nicht wissen.
Diese Konsequenz wird v. Hegel in aller Form ge-
zogen: die „List der Idee“ und die „Leidenschaften“.
Nur wenige Auserwählte des letzten Aktes wissen,
weshalb eigentlich die ganze Mühsal d. Weltgeschichte
durchgemacht würde. (So auch schon Kant „Absicht der
Natur“)
Die tiefe innere Schwierigkeit dieser Auffassung
liegt in Folgendem. Die handelnden Träger der
Weltgeschichte verrichten ihr Werk ja nicht in absolu-
ter Nlindheit. Selbst die höchsgeistigen Leidenschaften
sind ja nicht bloss blinde Kraftwirrungen. Auch
der Akteur d. Geschichte hat einen „Sinn“ vor Augen, den
Begriff des „Handelns“!
er realisieren will, handelt aus einer Situation
heraus, die er als sinngeladen und sinnfordernd
der „Sinnperspektive“
erlebt. Begriff des „Sinnhorizontes“ wird eingeführt.
Und diese Sinnhorizonte sind um so weiter gespannt,
und um so inhaltreicher, je grösser der Aktions-
radius des Handelnden. Sinnhorizonte der
Herren, der Epochen, der Völker. Aber was ist nun
von diesen Sinnhorizonten zu halten, wenn Hegel
recht hat? Sie sind zunächst einmal inhaltlich
verschieden von jenem „Sinn d. Geschichte“, um den
der Philosoph weiss [Sie sind ferner, da doch uns
diese der eigentliche und echte Sinn ist, illusionär.
Sie sind nicht Weisen, sondern Selbstvorspiegelung,
was sich darin zeigt, dass nicht sie, sondern eben]
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Dieser Unterschied muss schon deshalb sein, weil
ja dieser Sinn ein einziger, universaler ist, während
diese individuellen Sinnhorizonte viele und verschie-
Vielheit der Situationen des Handelns!
dene, ja einander widersprechende sind. Dieser
Unterschied ist aber zugleich ein fundamentaler Wert-
unterschied. Der vom Philosophen gewusste Sinn ist
echter, d.h. „wahrer“, sich realisierender Sinn. Diese
vielen Sinnhorizonte sind nicht Wahheit, sondern
illusionäre Selbstvorspiegelung, was sich darin zeigt,
dass sie nicht realisiert werden. Freilich dürfen
sie auch nicht fehlen, denn durch diese Selbstvor-
spiegelungen wurden ja die Kräfte mobilisiert
und ausgerichtet, durch die der „echte“ „eigentliche“
Sinn d. Geschichte sich realisiert. Die Erzeugung
illusionärer Sinnhorizonte ist zur Realisierung des
echten Sinn d. Geschichte unbedingt notwendig,
und der Philosoph, der um den Sinn und seine
Realisierung weiss, weiss auch um Notwendigkeit und
Funtkion dieser Sinnillusionen. Sein Blick umspannt
beides!
Leicht erkennt man in der Unterscheidung und
Verbindung dieser beiden „Sinn“-formen die Säkulari-
sierung der Unterscheidung des göttlichen Allwissens,
das den Sinn d. Geschichte kennt, und den wahn-
haften Sinndeutungen, in denen der beschränkte,
im Grunde wissende Mensch sich gefällt. Die „Prä- |-
Man muss sich die Bedeutung dieser Unterschei-
dung einmal an d. eigenen Lebenssituation inner-
halb d. Geschichte klar machen. Wir leben doch nicht
im Schatten d. geschichtl. Wirklichkeit blind dahin,
sondern sind ständig bemüht, unser eigenes Los
aus engern oder weiteren Horizont heraus
zu verstehen. Wir sind ständig daran, unser
Handeln aus vollen Sinnhorizonte heraus zu
orientieren. Wir wählen und entscheiden uns xxxx
im Erleben solcher Sinnhorizonte. Je gewichtiger die
|- destination“ ist damit säkularisiert.
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1914-1941 !!
geschichtliche Stunde ist, in der wir stehen, umso stärker dies Bedürfnis
ausgedehnter und inhaltvoller die Horizonte
nach rückwärts und nach vorwärts hin. Wir sehen
uns als Handelnde im Angesicht v. Jahrhunderten
Wert und Gehalt unseres Daseins sehen wir gerade
in diese Sinnerfüllung und der in ihr
Verantwortung. Und nun wird uns gesagt:
was du dir da alles vor Augen stellst, dass ist
zwar alles notwendig und heilsam, damit du
überhaupt handelst, aber – der Sinn, dem
du so zu dienen glaubst, ist garnicht der Sinn,
den du an diesem Teile verwirklichen hilfst. Diesen
wirklichen Sinn weiss nur – sei es der liebe Gott,
sei es der an seine Stelle getretene Philosoph.
Ja, es ist sogar nicht zu wünschen, dass du deinen
illusionären Sinnhorizont mit jenem echten
Weisen vertauschst, denn dann wären ja viel-
leicht deine Tatleidenschaft nicht so mobilisiert
worden wie es durch deine Illusionen geschieht.
Es bleibt also bloss bei der besagten Unterscheidung.
Bei dieser Anwendung auf uns selbst zeigt sich,
was uns die Unterscheidung zwischen dem einen,
wirklichen Sinn d. Geschichte und den vielen , parti-
kularen und zugleich illusionär. Sinndeutungen
der Geschichte so anstössig und schwer erträglich
macht: wir fühlen uns einerseits als Marionetten,
die Bewegungen ausführen, die ausserhalb ihren
Ursprung haben, andererseits als Opfer einer Täu-
schung, die wir uns selbst bereiten. Und dies alles,
obwohl wir das nicht wegzuredende Bewusst-
sein haben: dieser von uns selbst erlebte, unser
Vermuten bestimmende Sinn – dieser Sinn, für den
wir uns einsetzen, für den wir leiden, unter Um-
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ständen sterben, ist doch gerade Zentrum und Gehalt
unseres höheren Lebens. Wer ihn zur Illusion de-
gradiert, der nimmt uns das Beste aus unserem
Leben. Wir wollen nicht für ein Sein bluten, dem
wir nur als nichtwissende Werkzeuge dienen.
Dann wäre es ja tausendmal besser, ganz blind,
wie das Tier. Besser blind als verblendet!
d.h. von jeder Sinndeutung leer zu sein, als sich
von Sinndeutungen erfüllen u. leiten zu lassen, in denen man
dann doch erkennen muss.
Auch wenn man den „echten“ Sinn aus dem Geist
des Philosophen in den Geist des allwissenden
Gottes zurückschiebt, auch von den Voraussetzungen
des transcendenten Gottes aus bleibt d. gleiche
Schwierigkeit. Wenn denn Gott nun einmal den
Menschen so geschaffen hat, dass er nicht wie das Tier
dem Druck des Instinkts gehorcht, sondern mit
klarem Blick und zielgerichtetem Wollen sein
Dasein gestaltet, wenn er ihn nicht nur die Fähig-
keit, sondern auch das unablegbare Bedürfnis
mitgegeben hat, aus Sinnhorizonten heraus
zu handeln, dann kann es doch nicht der Wille
desselben Gottes sein, dass sein „Ebenbild“ in Gestalt
dieser Sinnhorizonte blosse Illusion erzeugt,
die ihn zwar zu dem von Gott gewünschten Ver-
halten antreiben, aber doch zugleich über den Sinn
und Zweck dieses Verhaltens täuschen. Dann wäre
d. Mensch ja Opfer eines von seinem Schöpfer geüb-
ten Betrugs. Nein: hat xxx Gott im geschichtl. Men-
schen ein aus Sinnhorizonten handelndes Wesen
geschaffen, dann können diese Horizonte nicht getrennt
sein von dem in d. Geschichte „wirklich“ waltenden
Sinn: sie müssen Teil, Ausdruck , Wissende, Mitwirkung,
an dem echten, wirklichen, eigentlichen Sinn sein,
oder das Menschenlos wird zu einer unerträglichen
Farce.
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Dieser Einwand ist entsprungen aus einer Denk-
art, die auf die Grundposition der Herderschen Ge-
schichtsschau zurückgreift: jede Gestalt hat ihren
Mittelpunkt in sich selber. Dass sie es hat, das be-
weist sie auch und gerade dadurch, dass sie sich
ihren Sinnhorizont bildet und innerhalb
dieses Horizonts sinnt und handelt. Diese Indi-
vidualität wäre zum Schein und Blendwerk er-
niedrigt, wenn ihr Horizont nur Illusion, Selbst-
vorspiegelung wäre und der echte Sinn sich in ihrem
Rücken verwirklichte. Es lässt sich feststellen, dass
auch Herder an eine relativ., Sinndeu-
kein
tung, die weder absolut-göttliches Wissen, aber
auch nicht Illusion ist, geglaubt hat. „Kant u. Herder“
S. 249.
Einwand: Einheit des Sinns zersplittert!
Einheit und Zusammenhang des Sinns wird
durch Anerkennung der individuellen Sinnperspek-
tive nicht zerstört. Wir betrachten dies zunächst
an der Vielheit der Sinn perspektiven, die einem und
demselben geschichtl. Subjekt, sei es nun Einzelper-
son oder Gemeinschaft, beschieden sind: also an dem
Wandel der Sinnhorizonte. Zum Wesen des Lebens
gehören die fortgesetzte Verschiebung der Situationen,
damit der Bedingungen des Handelns, damit der
Sinnperspektiven. Dargetan an dem schon vor Her-
der herangezogenen Beispiel des Einzellebens. Nicht
nur der Mensch als solcher wandelt sich im Heran-
wachsen, sondern auch seine Lebenssituation. In
jeder Lebenssituation gehört der bestimmte Sinnho-
rizont, mit Rückblick in die Vergangenheit und Vor-
blick in die Zukunft. Letzteres nicht nur im Sinn blos-
ser Betrachtung (Vermutung, Hoffnung, Befürchtung), sondern
vor allem deshalb, weil d. Wille des Handelnden sich als
diese Zukunft mitbestimmenden Faktor weis. So ist im-
mer das Ganze des Lebens in diesem Horizont vertreten: eben
deshalb „Geschichte“ u. nicht bloss Erleben eines Einzelfaktums
oder einer Einzelphase. Indem nun das Le-
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immer das Ganze des Lebens! (= „Geschichte“).
blick in die Zukunft. Letzteres nicht nur im Sinne blos-
ser Betrachtung (Vermutung, Ahnung, Hoffnung), sondern
vor allem deshalb, weil der Wille des Handelnden sich
dieser Zukunft entgegenstreckt und sich als mit bestimmen-
den Faktor diese Zukunft weiss. Indem nun das Le-
ben vorrückt, Zukunft Gegenwart und Gegenwart Vergan-
genheit wird, wandeln sich die Situationen, die Ausgangs-
lagen des Handelns und damit die Sinnhorizonte,
Aber ist dieser Wandel einem kaleidoskopartigen Wechsel
unverbundener Bilder gleichzuachten? Fällt das
Leben auseinander? Nein: Streitigkeit im Wandel auch
bei stärksten Umschlägen. Und zwar schon aus dem
immer dasselbe Ganze, nur in veränderter Perspektive!
Grunde, weil alles in die Vergangenheit Übergetretene
als ein unverändertem Bestand v. „Tatsachen“ in der Er-
innerung beharrt. Wenn mit d. Vorrücken d. Leben in
die Zukunft hinein der Sinnhorizont sich verschiebt,
so bleiben diese Tatsachen als solche bestehen; was sich
an ihnen wandelt, das ist nur die Beurteilung ihrer
Bedeutung im Ganzen dieses Lebens. Vergleich mit
einer Landschaft in wechselnder Beleuchtung. Wir
Älteren, die wir den Wandel uns. Daseins seit 1914
erfahren haben, wissen um diesen Wandel der Deutung.
Sollen wir „hinter“ diesem von uns selbst erlebten
und tätig verwirklichten Sinn noch einen uns unbe-
kannten „eigentümlichen“ Sinn unseres Lebens annehmen?
Einen Sinn, der „einer“ wäre im Unterschiede von den
vielen von uns erlebten und vollzogenen Deutungen?
Aber in diesen Deutungen lag und liegt doch der tiefere
Gehalt unseres Dasein, und dass sie viele und nicht
ein einziges sind, das liegt eben im Wesen des Lebens,
das keine Monotonie kennt, sondern sich ewig er-
neut; dass manche dieser Deutungen durch die Entwick-
lung d. Dinge über d. Haufen geworfen wurde, dass der
Wille so oft die Zukunft nicht die von ihm erstrebte Ge-
stalt ausprägte – das ist ebenfalls adäquat er Aus-
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druck menschl. Daseins, das niemals gottgleich ist.
Mein Lebenssinn ist das stetige Gefüge der in mir
sich fortund fort erzeugenden Lebensdeutungen, ein-
geschlossen die Bestätigungen und Wiederlegungen, die
meinen Deutungsversuche erfahren haben, die ich doch
auch immer wieder in meine neuen Deutungen auf-
zunehmen habe. Also: nichts „hinter“ dem Er-
lebten suchen! „In“ mir lebt und wirkt sich d. Wirklichkeit.
Übertragung dieser Ergebnisse auf die grossen
Gesamtsubjekte d. Geschichte: die Völker! Gleichfalls
immer dasselbe Ganze.
Wandel der Sinnhorizonte im Fortrücken des
Geschehens, zumal in allen kritischen Wendungen
und Umschlägen. Gleichfalls das Vergangene als
beherrschender Bestand fester Daten – wechselnde
Sinndeutung und Beleuchtung. Gleichfalls zu-
sammenhang mit der im Vorgriff des Wollens
erfasten Zukunft. Wechselbeziehung v. Zukunftswollen
u. Vergangenheitsdeutung. Vergangenheit als Vorbereitung
und Anbahnung erstrebter Zukunft. Und auch hier
ist nicht hinter dem erlebten und erkämpften Sinn
ein „eigentümlicher“ Sinn anzunehmen. Das Leben des
Volks besteht in diesem Ringen von Sinnverwirkli-
chung. Stetigkeit im Wandel ist Leben des Volks.
Wir haben bisher von d. Vielheit der Sinnperspekti-
ven gesprochen, die sich im Leben eines und desselben
Subjekts anreihen. Aber die Geschichte umfasst ja
eine unabsehbare Vielheit v. Subjekten, persönlichen
und überpersönlichen. Und entsprechend vervielfälti-
gen sich die Sinnperspektiven. Jedes Subjekt hat sei-
nen besonderen Standort und mit ihm seine eigenen
„Sichten“. Sie weichen nicht nur voneinander ab, sie
stehen vielfach in direktem Widerspruch zueinander.
Demonstriert am Enzelleben. Wie oft treten einander
Deutungen und Wollungen gegenüber, von denen die
einen nur der anderen, durch Überwindung
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