Bestand:Privatarchiv Litt, Theodor
SignaturNA Litt, Theodor V 0059
TitelDer Fortschritt und der Mensch
Enthälta) hs; 5 Doppelblätter + 2 Blätter 10,5 x 14,9 cm (S.9/10 verlängert auf 10,5x26,2cm) = Tittelblatt + S. 1-22 b) ms; 1 Blatt 10,4 x 16,5 cm = S. 1-2 c) Zeitungsausschnitt: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 3.12.1958; S. 11-12, darin: S.11 - "Vier Mächte besetzten die Hauptstadt Deutschlands. Dokumente zum völkerrechtlichen Status Berlin; S. 12 -Aug' in Aug mit unserer Geschichte. Deutschland zur Zeit der nachgeholten Prozesse von Gerd Kalow. d) ms; 16 Blätter A4 = S. 1-16
Zeitvon1958
Zeitbis1958
Bemerkungenzu V 0059c - laut alter Findkartei lag Zeitungsausschnitt ursprünglich zwischen "Unsere Verantwortung für die Freiheit des Einzelnen" (1960) und "Der Fortschritt und der Mensch" (1958) und wurde letzterem Vortrag zugeordnet.; Dokumentenabschrift: V 0059a (1958) Titelblatt Der Fortschritt und der Mensch (Brüssel 1958) 1 Der Leitgedanke, unter welchen diese Ausstellung von ihren Veranstaltern ge- spricht stellt worden ist, regt sich in einen aus Wortlaut vor, der schon durch seine Mehrdeutigkeit zu lehrreichen Betrach- tungen Anlass gibt. „Der Fortschritt und der Mensch“! Wie kann dieser Leitspruch verstanden werden? 1) Er kann erstens verstanden werden als Hinweis auf eine Tatsache. Er will dann besagen: Mensch sein heisst so viel wie in der Bewegung des Fort- schritts begriffen sein, ungeachtet aller Zweifel, die der Blick auf die menschl. Geschichte hervorrufen könnte, heisst es unverbrüchlich daran festhalten: in ihrer Entwicklung schreitet die Menschheit vorwärts und aufwärts in einer Richtung, die durch ein zu erreichendes Endziel, das Ziel einer vollkommenen Gesamtver- fassung der menschlichen Angelegen- heiten, bestimmt wird. 2) Der Leitspruch kann zweitens verstan- den werden als Frage: haben wir Recht und Anlass, die Gesamtbewegung der Menschheit als eine trotz allem fort- 2 1) Eine Tatsache? 2) Eine zu begründende Tats.? schreitende zu interpretieren, oder liegen Gründe vor, diese Annahme zu bezwei- feln, wohl gar zu bestreiten? 3) Der Leitspruch kann drittens verstan- den werden als Aufforderung: sorgt dafür, dass die Gesamtbewegung, die mit dem Wort „Fortschritt“ gemeint ist, dem Menschen zu gute kommt, zum Heile ist und nicht ihn beeinträchtigt, ruiniert wo nicht verbraucht. Wir stellen zunächst fest, dass die drei hier unterschiedenen Deutungen im Le- nicht aus d. Luft gegriffen! nicht konstruiert! ben unseres Zeitalters charakteristisch und einflussreich vertreten sind. 1) Fortschritt als unanzweifelbare Tatsache das ist die Grundthese der kommunis- tischen Doktrin. Sie besagt, dass der Mensch nicht nur die Möglichkeit habe, nicht nur den Auftrag und die Verpflichtung habe, die Gesamtentwicklung gemäss vorwärts zu treiben dem Prinzip „Fortschritt“ zu lenken - , dass die Entwicklung mit unablenk- baren, allem menschlichen Wollen u. Wärme über- legenen Notwendigkeit den Gang ein- halte, den das Wort „Fortschritt“ bezeichnet – den Gang dessen Ziel bezeichnet ist durch 3 jener Zustand der Vollendung die Vollendung der „klassenlosen Gesell- heisst schaft. Durch seine Lehre wird der Kom- minsimus zum modernen Erneuerer der „Aufklärung“, die der ratio die gleiche Vollendung zutraute. 2) Fortschritt als Gegensatz der Frage und des Zweifels. So in der mit Rousseau anhebenden, heute weit ausgebreiteten kulturkritischen Bewegung. Extrem ist die harte Verneinung: was sich „Fortschritt“ nennt und als solchen , das ist nichts weiter als die sog. „Zivilisation“. Diese aber ist nicht nur verschieden von dem, was wir „Kultur“ nennen: sie ist ihm gerade entgegenge- setzt. Mit dem zivilisatorischen Fortschritt geht Hand in Hand das Absterben der Kultur, und das heisst: die Verkümme- rung des Menschen als solchen. Dem Fortschrittsoptimismus des Kommunismus stellt sich die Untergangsprophetin des kulturkritischen Pessimismus gegen- über Spengler 3) Die an dritter Stelle genannte Interpre- tation ist, wenn ich recht sehe, diejenige, durch welche dasjenige getroffen wird, was der Leitung der Ausstellung vorschwebte: 4 es wird die Forderung ausgesprochen, der „Fortschritt“ möge si gelenkt und ausge- wertet werden, dass der Mensch bei ihm nicht zu Schaden kommt, sondern erst recht er selbst werde. Wobei hinzuzu- fügen ist, dass dies „er selbst“ wiederum verschiedene Auslegungen zulässt („Glück“, „Tugend“, Persönlichkeit“) Hält man diese drei Auslegungen des Leit- spruchs vergleichend zusammen, so sieht man als bald zwei von ihnen näher zusammenrük- ken und sich gemeinsam der dritten entgegen- stellen. Es kommt so zum Gegenüber von zwei Parteien. Auf der einen Seite steht die bedingungslose Bejahung des Fortschritts, und zwar nicht nur als einer nicht Tatsache. Auf der anderen Seite steht die Denkweise, die von einer so bedingungslosen Bejahung des Fortschritts nichts wissen will, sondern in ihm zu- mindest ein Problem erblickt. Ein Problem ist er auch für die an dritter Stelle genannte auffassung. Denn wer die Forderung aufstellt, den Fortschritt mit den wahren Interessen des Menschen in Einklang zu bringen, der rech- 5 doch offenbar mit der Möglichkeit, dass dieser Einklang auch verfehlt werden könne, dass mithin der Fortschritt sich auch gegen den Menschen kehren könne. Die damit hervorgetretene Grunddifferenz setzt sich nach einer bestimmten Richtung fort. Wer den Fortschritt in dem angegebenen Sinne bedingungslos bejaht, der kann nicht anders als in ihm ein Prinzip erblicken, das sich über die ganze Breite des geschichtl. Le- bens hin ausdehnt. So mit Entschieden- heit die kommunistische Doktrin. E. Bloch „Differenzierung im Begriff Fortschritt“, 1956. Auf der Gegenseite wird zwar gleichfalls nicht bestritten, dass es im Ganzen des geschichtl. Lebens irgendwo u. irgendwie so etwas wie „Fortschritt“ gebe, aber die Infragestellung dieses Fortschritts überhaupt macht die weite- re Frage unumgänglich, ob denn der Fortschritt wirklich die ganze Breite des geschichtl. Le- bens übergreife oder ob vielleicht die Proble- matik des Fortschritts darauf beruhe, dass er zwar in bestimmten Bereichen des menschl. Strebens die Herrschaft führe, hingegen in an- deren, anders gebauten Bereichen durchaus nicht das Bewegungsgesetz bilde. Wo so ge- fragt wird, da wird nicht nach „Differenzierun- gen im Begriff Fortschritt“, sondern nach solchen Differenzierungen des geschichtl. Lebens gefragt, 6 durch welche die allseitige Anwendbarkeit des Begriffs Fortschritt fraglich gemacht würde. Eine solche Fragestellung würde sich auf dem Boden der geistesphilosophischen Be- trachtung bewegen, die mit Hegel in mo- numentaler Form einsetzt und jüngst etwa in der Kultursoziologie Alfred Webers eine lehrreiche Neugestaltung erfahren hat. Fragen wir uns, von dieser Voraussetzung ausgehend, in welchem Sonderbereiche manche Tätigkeiten der Begriff „Fortschritt“ seine glor- reichste Erfüllung erfährt, so kann die Ant- wort nicht zweifelhaft sein. Notwendig fällt der Blick auf denjenigen Bereich des äusse- ren Lebens, dem man bei uns unter dem Titel „Zivilisation“ auszugrenzen liebt. Auch bei Weber finden wir ihn unter dieser Bezeich- nung angesondert. Aber nur zu leicht ver- bindet sich mit diesem Ausdruck eine Vorstellung, der wirschon hier entgegentreten müssen, damit nicht unser Problem heil los verdunkelt werde. Äusserst beliebt ist die ausschliessende Entgegenstellung von „Zivilisation“ und „Kultur“. Sie ist richtig und falsch zugleich. Richtig insofern, als es in der Tat eine kulturlose Zivilisation als blosse Äusserlichkeit der Daseinsgestaltung gibt. Falsch 7 insofern, als es keine Zivilisation gibt, die nicht, bis zu ihren letzten Wurzelgrün- den hin verfolgt, bis in die Tiefen der Kul- tur hinabführte. Wenn man die Zivilisation mit Bezeichnungen wie „Nützlichkeit“, „Lebens- behagen“, „Komfort“, „Luxus“ zu disqualifizieren versucht, so vergisst man, dass es nichts von diesen äusseren Verschönerungen des Da- seins geben würde ohne die geistigen Anspan- nungen, durch deren Erfolg sie erst möglich geworden sind. Die „fortschrittlichen“ Errungenschaften neuzeitlicher „Zivilisation“ haben zur Voraussetzung den Höchststand der in- dustriellen Produktion, durch welche die Mittel der Lebenshebung und –verschönerung hervorgebracht werden. Diese Produktion hat zur Voraussetzung die Erfindungen der Technik. Diese Technik ihrerseits ist in ihren tragenden Fundamenten identisch mit der sie ermöglichenden Wissenschaft: der ma- thematischen Naturwissenschaft. Keine Gabe der „Zivilisation“, die nicht zurückführte in die Tiefen der Naturwissenschaft, durch die sie erst möglich geworden ist. Die Unauflösslichkeit dieses Zusammen- hangs wird – ungewollt – auch von denen be- 8 stätigt, die der „Zivilisation“ ein so abschät- ziges Prädikat erteilen. Sie verfahren durch- aus folgerichtig, wenn sie in ihre abschätzige Beurteilung nicht nur die Technik, sondern auch die math. N.-W. einbeziehen. Nam- Lebensphilosophie! hafte Denker wie Klages, Bergson, Croce, Scheler +) meinen uns klar machen zu sol- len, das auch diese Wissenschaft in den Bereich der „blossen“ Zivilisation hineingehöre. Sei sie doch entsprungen nicht aus dem Drang nach Wahrheitserkenntnis, sondern aus dem Willen zur Beherrschung der Natur, und dieser Wille sei doch eben nur ÄUsserung eines bloss „zivilisatorischen“ Bedürfnisses. Ein ledig- lich subjektiv bedingtes Arragement ohne Wahrheitswert, d. h. im Grunde nichts weiter als „Technik“. Ich stehe nicht an, zuerklären, dass diese Degradierung den math. N.-W. eine radikale Selbsterkennung des Menschen im Gefolge hat. Diese Wissenschaft ist im vollen Sinne Wissen- schaft, d.h. Erkunderin der Wahrheit. Nicht von der einen Seite, vom Menschen her dekre- tiert, sondern von beiden Seiten her – Mensch u. Welt – vorgezeichnet und gefordert. Eine der grossen Grundformen der Auseinander- setzungen von Mensch und Welt. +) Heute: Existenzphilosophie. 9 Unser Ergebnis: die Fundamente, auf denen die sog. „Zivilisation“ , liegen in je- nen Tiefen des Daseins begegnen, denen der Titel „Kultur“ nicht vorenthalten werden kann. Die ausschliessende Entgegensetzung von „Zivilisation“ u. „Kultur“ ist nicht zu halten. Das alles hat wieder seine Konsequenzen für das Prinzip „Fortschritt“. Dieses Prinzip ist nicht bloss in der Region der äusser- lich abgetrennten „Zivilisation“ seine Stätte. Der zivilisatorische Fortschritt hat zur not- wendigen Voraussetzung und Grundlage die geistige Bewegung, die sich in der math. N.W., also in einer unterhalb der Zivilisation gelegenen Schicht, vollzieht. Nur deshalb kann sich die Zivilisation im Sinne des ihr Gang „Fortschritts“ vorwärtsbewegen, weil diese dur durch die Technik vorgezeichnet ist, die ihrerseits mit d. math. N.-W. identisch ist. xxx Im letzter Ableger! zivilisatorischen Fortschritt spiegelt sich der Fortschritt der math. N.-W. So ist der Fortschritt bis in die Fundamente des Menschseins zurückverlegt. Durch die denkende Begegnung mit der Natur, nicht durch rein subjektive Impulse wird der Mensch auf die Bahn des „Fortschritts“ gestellt. Wenn also der Kommu- nsmus dem Prinzip „Fortschritt“ eine in die in die Tiefe des Menschlichen herabrei- chende Bedeutung beilegt, so ist ihnen im Umfang des bisher Erörterten Recht zu ge- ben. Allerdings erheben sich an dieser Stel- le zwei Fragen. 1) Ist das, was dem Menschen widerfährt, in dem er die Bahn diseses Fortschritts betritt, so vorbehaltlos zu bejahen und zu preisen, wie es der kommunistischen Ideologie selbst- verständlich ist? 2) Beschränkt sich das als „Fortschritt“ zu bezeichnende Bewegungsgesetz auf die besondere Sphäre, in dem wir ihm bisher nachgegangen sind, oder lässt es sich so auf die Gesamtbewegung des menschheitlichen Werden übertragen, wie es der kommunistischen Ideo- logie selbstverständlich ist? Beide Fragen können wir nur dann an- 10 gemessen beantworten, wenn wir näher zusehen, in welcher Weise unter welchen Bedingungen sich der „Fort- schritt“ auf dem Boden v. Naturwissen- schaft – Technik – industrieller Produktion vollzieht. Rückblick auf die letzten drei Jahr- hunderte. Die „Logik der Sache“. Die Ver- tretbarkeit der Individuen. Die Ubiquität der Geltung. „Schreitet“ der Mensch wirklich auf dem Wege „fort“ – oder wird er nicht durch die Sache fortgezogen? Die Steige- rung des Tempos. Das Gefühl des Mitge- rissenwerdens. Entpersönlichung. Man wird „Sach-Walten“, „Funktionär“, „Robo- ter“. Die „Mechanisierung“, „Kollekti- vierung“. Die Sache „wächst uns über den Kopf“. Der Fortschritt „Hat“ den Men- schen, nicht macht der Mensch den Fortschritt. +) So auch über das Gebiet der theoret.-praktischen Arbeit hinaus. Ein Getriebe, das uns im Genuss nicht weni- ger als in der Arbeit mit sich reisst. Eine weitestgehende Entpersönlichung, Kollek- tivierung. In dem Festgestellten liegen die Antwor- ten auf die beiden von uns gestellten +) Schreite ich fort oder werde ich fortgeschritten? 11 Fragen enthalten: 1) In dem der Mensch, den Schritt zur math. Naturerscheinung hinüber tut, betritt er eine Bahn, auf der fortzu- schreiten zugleich ungeheuren Gewinn in theoretischer Welterschliessung und praktischer Weltbemeisterung und Bedrohung des personalen Seins be- deutet. Wie stets, so muss auch und erst recht hier der Gewinn mit neuer Selbst- gefährdung bezahlt werden. Ohne Fra- ge gehört der „Fortschritt“ zum Wesen des Menschen, ist nicht Fehltritt oder Sün- denfall, aber auch über ihm liegt der Schatten der Ambivalenz. +) 2) Es ist die Dominanz der „Sache“, die sowohl das Wesen als auch die Bedroh- lichkeit des „Fortschritts“ bedingt. Dieselbe Dominanz muss ins Auge gefasst werden, wenn wir die Frage der Übertragbarkeit stel- len. Wenn die Geradlinigkeit des Fort- schritts darauf beruht, dass der Mensch dem Leitfaden einer von ihm zu resfaktie- +) Dies der Sachverhalt, den die Kulturkritik richtig gesehen hat! 12 renden „Sache“ folgt, so würde die Mög- lichkeit der Übertragung davon ab- hängen, dass auch anderwärts eine ebenso streng gebietende Sache als Leitfaden aufzufinden wäre. Gibt es das ausserhalb d. Sphäre von Naturw. – Technik – Industrie? Dass dieser Parallelismus in der Tat bestehe, ist die Behauptung der kommunist. Doktrin. „Naturgesetze“ der Seele, der Gesellschaft, der Geschichte. Auf ihre Kenntnis gründet sich eine Praxis der Menschenbehandlung u. –ordnung, die d. technik analog ist und die daher den gesellschaftlichen „Fortschritt“ in Gang Verallgemeinerung erhält. Daher die Universalisierung des Fortschritts-Prinzips. Unsere Frage: ist dem also – und kön- nen wir wünschen, dass dem also wäre? Im Bereich von Natur u. Technik ist die Sache das Aussermenschliche, ja Gegenmenschliche, d.i. die unlebendige Natur. „Sache“ als Gegenpol der „Person“! Also im vom Menschen Geschiedenes und Verschiedenes. Eben deshalb zum „Leitfaden“ 13 geeignet. Natur die grosse Unparteiische, vor der Leidenschaften u. Gegensätze zu verstummen haben. Eben in dieser Unbe- zu der rührbarkeit als Leitkraft und zum organisie- renden Prinzip prädestiniert. Die Natur hilft die menschlichen Tätigkeiten „orga- nisieren“, weil sie vom Spiel d. menschl. Leidenschaften und Gegensätze unbe- rührt ist. Sachbestimmende Interpretation der Personen. Wie alle, wenn der „Fortschritt“ sich an u. in menschlichen Leibern und Seelen realisieren soll? Gibt es da auch eine von menschl. Leidenschaften unberührte über „Natur“, eine gegen menschl. Gegensätze erhabene „Sache“ die dem „Fortschritt“ zum Leitfaden dienen könnte? Aber hier geht ja nicht um die Arbeit am Ausser- menschlichen, es geht um die Führung, Ordnung, Gestaltung gerade des Menschli- chen, und dieses Menschliche hat seinen Kerngehalt gerade an den Strebungen, Lei- denschaften, Gegensätzen, die dort durch das Gebot der aussermenschl. Sache, die wir „Natur“ nennen, zum Schweigen ver- urteilt wurden. Aussermenschl. Natur u. Menschenwelt: das sind zwei 14 verschiedene Dimensionen menschlichen Handelns. Nur dort der Leitfaden der aussermenschl. Sache. Hier muss d. Fortgang der Dinge immer wieder aus der lebendigen Bewegung menschlicher Strebungen, Leidenschaften, Gegensätze herausgearbeitet werden. Hier gibt es keine „Naturgesetze“, die „Ingenieure“ der menschlichen Gesell- schaft den „Fortschritt“ manipulieren könnten. Es fehlen also im Bereich des Mensch- lichen gerade die Bedingungen, die es im Umgang mit dem Aussermenschlichen den Menschen möglich machen, die Linie eines <....klaren> „Fortschritts“ einzu- halten. Es fehlt der vom Menschen un- abhängige „Leitfaden“. Die vom Kommu- nismus postulierte und äusserlich ma- nipulierte Übertragung widerstreitendem Wesen der zu ordnenden Dimension. Man ist zunächst geneigt, in dieser Einsicht die Nötigung zu einem schmerz- lichen Verzicht zu finden. Wie schön wäre es doch, wenn d. Kommunismus recht hätte, wenn also auch in d. Sphäre der menschl. 15 Dinge der „Fortschritt“, nicht nur möglich, nicht nur gefordert, sondern durch un- ablenkbare „Naturgesetze“ garantiert wäre! +) Allein das Recht dieser Klage muss uns fraglich werden, wenn wir uns an das erinnern, was der Mensch auf sich neh- men muss, um im Umgang mit der Natur den „Fortschritt“ so grossartig reali- sieren zu können: der drohende Verlust der Person an die die Führung überneh- mende Sache! Angenommen, dass der Mensch auch im Umgang mit der Menschenwelt, d. i. seiner eige- nen (!) Welt, die Führung an eine zu respektierende Sache abzugeben hätte: würde damit nicht die Preisgabe seiner selbst als Person perfekt werden? Würde er sich nicht endgültig in den „Sach- Walter“ transformieren? Müsste er doch das, was in ihm als Person lebt, zu gunsten der ermittelten „Naturgesetze“ das Menschliche unterdrücken. Die „Person“ weicht der „Sache“! Seien wir glücklich, dass es nicht so ist – das derselbe Mensch, der sich in frei- willigem Gehorsam dem Gebot der „Sache“ +) Blick auf d. Wirrsal d. menschl. Geschichte. Er- lösungssehnsucht! Propagandawirkung! 16 unterstellt und damit die Bahn des sach- geleiteten „Fortschritt“ betritt, ausserhalb die- ser Zone eine personale Freiheit geniesst, die nicht an ein Sachgebot gebunden ist, sondern sich in Taten und Werken geniesst, die deshalb im vollsten Sinne des Wortes Produkt der „Freiheit“ heissen dürfen, weil sie nicht durch die Logik des Sachfortgangs vorgezeichnet sind, sondern der Inspiration der schöpferischen Augen- blicke entspringen, mithin etwas ande- res und mehr sind als das Weiterziehen einer durch die Sache vorgezeichneten Entwicklungslinie. Mit Recht hat man seit je in den Schöpfungen der Kunst die prägnantesten Zeugnisse dieser sich jeder Einreihung entziehenden Freiheit der Gestaltung erblickt. Wer liesse es sich einfallen, die Werke der Kunst in die Linie eines durch die Sachlogik bestimmten Fortschritts einstellen zu wollen! Unbeschadet aller Kontinuität der künstlerischen Über- lieferung darf von jedem Kunstwerk ge- sagt werden, dass es selig in sich selber ruht, eine geschlossene Welt, die alle 17 Verbindungslinien nach rückwärts und nach vorwärts abgebrochen hat und nur als es selbst und durch sich selbst zu uns spricht. Daher beglückt es uns durch das Gefühl des Ausruhens; wir sind herausgenom- men aus der des unaufhörlichen „Fortschreitens“. Aber auch von dem gestaltenden Tun, das sich in der Führung und Formung der Menschenwelt auslebt, darf gesagt werden, dass es widerum unbeschadet der Kontinuität des geschichtl. Fortgangs, zuletzt aus Inspiration entspringt, die die Logik eines zwingenden Sachzusam- menhangs tief unter sich lassen. Nicht gründlicher könnte eine Sphäre miss- verstanden und entstellt werden als es durch eine Doktrin geschieht, die, wie die kommunistische, hier nicht weiter zu behandeln glaubt als das Entlangge- hen am Faden einer angeblich wis- senschaftlich feststellbaren naturgesetz- lichen Notwendigkeit. Die Menschen- geschichte wäre eine sehr langweilige Sache, gäbe es nicht auch in ihr ein menschengestaltendes Schöpfertum. 18 Freilich: hoch ist der Preis, den der Mensch für die ihm hier geschenkte Frei- heit zu zahlen hat. Das er sich hier nicht an den Leitfaden eines sachbe- stimmten Fortschritts halten kann bzw. halten muss, das eröffnet ihm zwar das Reich der schöpferischen Freiheit – aber diese Freiheit ist als solche auch die Freiheit zu Irrtum. Fehltritt, ja zu grauen- hafte Selbstentstellung. Die Ambivalenz in höchster Potenz. Zum geringeren Preis als den der permanenten Selbstbedro- hung ist die Freiheit nicht feil. +) Kein Wunder, dass die Geschichte, dies Feld der freien Selbstgestaltung des Menschen- geschlechts, und das Schauspiel von so viel grauenhaften Verirrungen u. Katastro- phen bietet. Es gehört schon ein hohes Mass v. Selbsttäuschung dazu, auch auf diesem Felde die aufsteigende Linie eines durch die Logik der Sache bestimmten Fortschritts aufzeigen zu wollen! So die Aufklärung, Hegel, d. dialekt. Materialismus. Es ist demnach nicht an dem, dass das Prinzip des Fortschritts von dem Gebiete her, in dem es zu Hause ist, +) Vgl. das naturgegängelte Tier! 19 auf das Ganze des menschheitlichen Wer- dens übertragen werden könnte. Seine Geltung ist strengstens beschränkt auf diejenige Sphäre, in der die Wissenschaft vom Aussermenschlichen die Leitlinie des Fortschreitens herausarbeitet und so die menschl. Leidenschaften u. Gegensätze zum Verstummen nötigt. Aber gewinnen wir damit nicht den Eindruck, als sei das menschl. Leben dem Dualismus verschiedener, ja entgegen- gesetzter Bewegungsprinzipien ausgeliefert? Hier Fortschritt, dort Freiheit regellosen Schöp- fertums? Ein schwer ausgleichbarer Gegen- satz! Das würde dann der Fall sein, wenn die bei den hier unterschiedenen Sphären menschl. Tuns einander koordiniert wäre, wenn sie gleichberechtigt nebenein- anderständen. Denn dann wäre das Le- ben des Menschen ein stets Herüber und Hinüberwechseln zwischen völlig hetero- genen Sphären des und Handelns. Aber diese beiden Sphären sind einander nicht gleichgeordnet. Sie stehen zu einan- derim Verhältnis einer leicht aufzeig- baren Rangabstufung. 20 Alles, was in der Sphäre des sachbestimm- ten Fortschritts zu Tage gefördert, gehört wenn man es im Rahmen des menschl. Gesamtlebens betrachtet, dem Reich der „Mittel“ an. Es sind die Mittel der Daseins- erhaltung und Daseinshebung, in deren Besitz der Mensch durch den Ausbau dieser Sphäre gelangt. Der Fortschritt, der hier geschieht, ist v. Standpunkt des prakt. Lebens aus gesehen, ein Fortschritt in der Mittelbereitung und Mittelvervollkomm- nung. Mittel aber sind vielfältig verwend- bar. Ihre Ambivalenz. Der Mensch in der Wahlsituation. Die Notwendigkeit der Entscheidung, durch welche der „Zweck“ ge- setzt wird. Extreme Darstellung durch die Wahlsituation, in welche der Mensch durch die Freisetzung der Atomkraft versetzt worden ist. Die Zwecksetzung aber ist das, was sie ist, weil sie nicht sachgebunden ist wie das mittelbestimmende Denken, sondern Äusse- rung der personalen „Freiheit“ – eben jener Freiheit, die ausserhalb und jenseits der Sphäre des „Fortschritts“ ihren Ort hat. So weist 21 der „Fortschritt“, weil er nur Fortschritt in der Mittelbestimmung ist, über sich selbst hinaus, in die Sphäre der zweckbestimmenden Freiheit, die ihrerseits durchaus nicht nach dem Prin- zip des Fortschritts gebaut ist, sondern alle jene zu berechenbaren des menschl. Stre- bungen und Leidenschaften in sich schliesst. Es ist also nicht so, dass die Sphäre des sachbestimmten Fortschritts und der nicht an die Sache zu bindenden Freiheit einander äusserlich koordiniert wären. Was mit den durch die ersten enthüll- ten Sachen und bereits gestellten Mittel an- gefangen wird, darüber fällt in der zweiten die Entscheidung. Der Fortschritt nimmt die dienende Stellung ein im Verhältnis zu der sich Freiheit des Menschen. Ob der Fortschritt Segen oder Fluch aus sich gebiert, das hängt, heute wie stets, an der Freiheit des sich für das Eine oder das Andere entscheidenden Men- schen. Eine gestufte Lebensordnung. Was die Ausstellung uns zeigen will: den Fortschritt, über dessen Gaben der Mensch diejenige Entscheidung fällt, die unserem 22 Geschlecht zum Heil und nicht zum Fluch ist. Der Fortschritt, gezähmt und bewacht durch eine Freiheit, die ihn vor selbst- mörderischen Exzessen bewahrt und dem recht verstandenen Wohle unseres Ge- schlechts dienstbar macht. Eine Gesin- nung, gleich ferne von gedankenlosem Zivilisationsoptimismus und verzwei- felndem Kulturpessimismus. Dieser lähmt die Schaffensenergien, jener (Kommunismus!) schläfert die Wach- samkeit gegenüber möglichen Ausar- tungen des „Fortschritts“ ein. Skylla und Charybdis.