Bestand:Privatarchiv Litt, Theodor
SignaturNA Litt, Theodor V 0056
TitelFachbildung und Menschenbildung
Enthälta) hs; 8 Doppelblätter 10,5 x 14,8 cm = Titelblatt + S. 1-25 b) hs; 1 Blatt 10,4 x 14,7 cm = S. 1-2 c) ms; 2 Blatt A4 = S.1-2 (Leitsätze zum Vortrag) d) gedruckt; 1 Blatt A4 = S. 1-2 (Leitsätze + Literaturhinweise)
Zeitvon1958
Zeitbis1958
BemerkungenDokumentenabschrift: V 0056a Titelblatt Fachbildung u. Menschenbildung (Bad Soden 1958) 1 In der ganzen Kulturwelt wird heute mehr über Fragen der Erziehung, Bildung und Aus- bildung verhandelt denn je. Der Grund ist offenkundig. Im Gefolge der rapiden Ent- wicklung von Naturwissenschaft, Technik und Industrie verwandeln sich die Formen des staat- lichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen Lebens mit einer derartig atemberaubenden Geschwin- digekeit, dass das allgemeine geistige Leben mit dieser Entwicklung Schritt zu halten die grösste Mühe hat. Wir klucken gleich- sam hinter der uns davonlaufenden Ent- wicklung her. Die Erziehung aber, zumal die in Form der Schule organisierte Erziehung ist dasjenige Teilgebiet des gemeinsamen Lebens, in dem sich das besagte Zurückbleiben besonders stark fühlbar macht und in dem zugleich das Bemühen, den Abstand aufzuholen, die besten Ansatzpunkte findet. Man muss eben die Jugend, die bildsame, so erziehen, dass sie sich in den rapiden Fortgang der Dinge besser hineinfindet als die am Gewohnten festhängenden Alten. Insoweit ist also die Lage in allen Völ- kern und Staaten, die im Zuge dieser Ent- wicklung stehen, die gleiche. Und so kön- 2 nen wir denn auch feststellen, dass die pädago- gischen Fragen und Sorgen, von denen die Allgemeinheit bewegt wird, allerwärts die gleichen sind – ohne dass deshalb die Antworten und Lösungsversuche allerwärts die gleichen sein brauchten. Merkwürdiger Weise gilt das aber nicht von der pädagogischen Sonderfrage, über die ich zu Ihnen zu sprechen habe: „Fachbildung und Menschenbildung“. Von ihr ist zu sagen, dass sie eine nur die Deutschen beschwerende Frage ist. Dadurch wird uns die Frage aufgedrängt, ob es nur eine deutsche Idiosynkrasie ist, die diese Frage brennend macht, oder ob die Deut- schen ver,öge einer besonderen Empfind- lichkeit ein Problem verspüren, das auch die anderen bedrängen sollte, aber vor ihnen Kraft einer robusteren Konstitution nicht verspürt wird. Beides ist denkbar. Bemerkenswert ist, dass es in der heuti- gen Welt einen Kreis von Völkern und Staa- ten gibt, der nicht nur nicht von dieser Frage bedrängt wird, sondern ihr in aller Form Recht und Sinn abstreitet: das ist der 3 Kreis der dem kommunismus verfallenen Völker und Staaten. Wo die allgemeine Hal- tung durch den Geist des „Diamat“ bestimmt wird, da gibt es keinen Unterschied zwischen Fachbildung und Menschenbildung, ge- schweige denn einen Gegensatz zwischen bei- den. Fachbildung ist als solche zugleich die vollkommenste Menschenbildung. Mensch- lich gebildet wird der Mensch um so mehr, je vorbehaltloser er sich in das „Kollektiv“ einstellt, je williger er seinen Lebensrhyt- mus mit demjenigen des Kollektivs in eins „Spezialist“? schwingen lässt. Das „Fach“ aber bezeichnet für den Menschen genau den Kreis von Tätig- keiten, die er zu verrichten hat, um sich als vollkommenes Glied des Kollektivs zu be- währen. Das Kollektiv erwartet von ihm die Leistungen, die er zum Bestand und zur Fort- bildung des Ganzen beizusteuern hat, und diese Leistungen werden eben bestimmt und umgrenzt, durch das dem Einzelnen zugewiese- ne Fach. Daher die offenkundige Tendenz des gesamten sowjetischen Bildungswesens, die Schu- len zu reinen Fachschulen zu gestalten, an- gefangen mit der „polytechnischen Bildung“ in den Mittelschulen und sich vollendend 4 mit der Verfachlichung der Hochschulen. Anpassung an die Forderungen des technisch- industriellen Processes trifft zusammen mit den Grundtendenzen eines durchaus kol- lektivistischen Gemeinwesens. Wenn demgegenüber wir Deutschen es uns mit der Frage „Fachb. u. Menschenb.“ so schwer machen, so bilden wir damit recht eigentlich die Antipoden zu den Sowjet-Pädagogen. Wir gewahren dort Spannungen und Gegensätze, wo die kommunistische Pädagogik eitel Har- monie statuiert. Wir sind es in viel hö- herem Masse als etwa Engländer u. Ameri- kaner, denen das genannte Problem so viel weniger Beschwernisse bereitet. Aber woran liegt es denn, dass gerade an dieser Stelle unser pädagogisches Gewis- sen so empfindlich ist? Es liegt an der Eigenart der besonderen geistig-pädagogischen Überlieferung, in deren Zeichen wir heute noch stehen. Beachte die Zählebigkeit pädago- gischer Grundauffassungen, zumal wenn sie in einem „klassischen“ Zeitalter ihre Wurzeln haben. Die Tradition der „Humanität“. W. v. Humboldt als Archeget des deutschen Bil- dungswesens. Wir stehen im Strom dieser 5 Überlieferung, wenn wir uns durch das Verhältnis v. „Fachbildung“ und „Menschenbildung“ so sehr beunruhigen lassen. Diese Zweiteilung ist damals statuiert und gleich zu äusser- ster Schärfe auch gebildet worden. Die Idee der Humanität formiert sich und begründet sich in ausgesprochener Frontstellung gegen die werdende arbeits- teilige Gesellschaftsordnung. „Individua- lität“ und „Totalität“ sind polemische Begriffe, geformt im Angriff auf die nivel- lierenden und einflüsse der werdenden modernen Welt. Wer sich in dieses arbeitsteilige Gesellschaftsleben hinein- begibt, gefährdet sein Menschentum. Not- wendige Folgerung: echtes Menschentum kann nur gedeihen ausserhalb und jen- seits dieses Gesellschaftslebens. Dabei ist dies Gesellschaftsleben nicht nur um seiner Ar- beitsteiligkeit willen zu beanstanden. In ihm herrscht auch der Geist der Nützlich- keit, der zweckgebundene Geist. In doppel- ter Hinsicht hat sich also die Menschenbil- dung von dieser gesellsch. Welt abzusondern: sie verwirft die arbeitsteilige Aufspaltung und die Zweckgebundenheit des Menschen. Der Mensch als Mensch gedeiht nur in der zweckgelösten Sphäre als um seiner selbst wil- 6 len und gepflegten Guten, Wahren und Schönen. Und diese Sphäre ist zugleich die Sphäre der Aufhebung aller arbeitstei- ligen Zerrissenheit. Der Mensch reift zu In- dividualität und Totalität heran im zweckfreien Kultus der hohen Güter des Gei- stes. Ästhetisch-literarisch. Idealisiertes Griechen- tum. Man sieht: in dem die Menschenbildung sich so von der arbeitsteiligen Gesellschaft ab- sondert, sondert sie sich auch und erst recht von der Fachbildung. Denn die Bildung durch das Fach und für das Fach ist ja der rein- ste Ausfluss eben jener Arbeitsteilung, die als das Gegenteil und Hindernis echter Menschenbildung angesehen und verurteilt wird. Zwischen Fachbildung und Menschen- bildung besteht das Verhältnis des aus- schliessenden Gegensatzes. Keines der anderen als führenden Kulturvölker hat daran gedacht, einen solchen Gegensatz zu statuieren, geschweige denn zu solcher Schärfe herauszuarbeiten. Zumal den Angelsachsen ist diese Pro- blematik ferne geblieben. Es lohnt sich, zuzusehen, worauf dieser Unterschied be- ruht. Der Grund ist nicht allein in der subli- 7 men Geistigekeit zu suchen, zu der sich das literarische Leben der Deutschen damals em- porgesteigert hat. Gewiss hat die Erhabenheit der Ideen, von denen damals die Köpfe der Besten erfüllt waren, das Ihre dazu getan, die Menschenbildung in eine Sphäre von fast überirdischer Herrlichkeit zu erheben. Aber dass diese Tendenz so obsiegen konnte, das hatte seinen Grund doch auch in den politisch-gesellschaftl. Zuständen des damaligen Deutschland. Die bürger- liche Welt, die die Trägerin des geistigen Aufschwungswar, war ausgeschlossen von der aktiven Teilhabe an den Ange- legenheiten des öffentlichen Lebens. So fanden sich die in ihr drängenden pro- duktiven Energien darauf angewiesen, in einer „idealen“ welt Unterkunft und Tätigkeit zu suchen. Vgl. das Gegenbild der angelsächsischen Völker, deren Staat staatl.-gesellsch. Ordnung sich gerade durch die Aktivität der nämlichen Schicht gestalteten. In ihnen gab es nicht Anreiz u. Versuchung, in ein Jenseits derGesell- schaft zu flüchten, damit dem Menschen sein Recht werde. Identität von polit.-gesellsch. und bildnerischem Leben. 8 Von unserer deutschen Entwicklung aber muss gesagt werden, das der Dualis- mus, zu dem in der Epoche der „Humani- täts“-Bewegung der Grund gelegt worden ist, seit dem nicht aus unserem Bildungs- leben verschwunden ist, so viel auch die rechten Entwicklungen in Wirtschaft und Ge- sellschaft dazu getan haben, ihn aufzu- lockern. Der beste Beleg dafür ist – das The- ma, über das zu sprechen mir aufgege- ben ist. Denn in seinem Hindergrunde steht soch die Überzeugung, das das Verhältnis von Fachbildung und Menschenbildung – zumindest eine problematische Angele- genheit und nichts weniger als selbstver- ständlich ist. Allein obwohl das Problem als solches das gleiche ist, mit dem ausserklassiscehn Zeitalter sich abmühen, so ist doch, was die Umstände seiner erörterung angeht, eine höchst bemerkenswerte Wendung ein- getreten. In unserem klassischen Zeitalter wa- ren es die Kreise der „Dichter und Denker“, die das Problem sahen, durchdachten und durch die aufgezeigte Trennung zu lösen versuchten. Die Träger der geschichtlichen Entwicklung, die 9 ihre Abwehraktion provozierte, waren von solchen Sorgen unbeschwert und galten den Propheten der Humanität in sofern als die Gegenpartei, der das um der Menschlichkeit willen zu Fordernde abzuringen sei. Das ist heute ganz anders geworden. Unter denen, denen die Relation Sorgen bereitet, stehen die Führer der geschicht- lich-wissenschaftlichen Bewegung in vorder- ster Linie. Gerade sie sind es, die durch die Erfahrungen ihres ureigensten Arbeits- gebietes dahin gedrängt werden, sich das Verhältnis der „Fachbildung“, deren Wesen und Notwendigkeit ihnen in ihren eigensten Le- benskreise tausendfältig begegnet zu der allgemeinen „Menschenbildung“ zum Problem werden zu lassen. Ja, man kann fragen, ob dies Problem irgendwo sonst als so dringlich empfunden und so ernstlich durchdacht wird wie in den Kreisen der Wirt- schaft. Beispiel: die vom „Stifterverband für die deutsche Wissenschaft“ veranstaltete Ausspra- che von Wirtschaftsführern und Hochschul- lehrern. (Wiesbaden 1957) Merkwürdiger Umschlag: das Problem wird aufgegriffen gerade von denen, die nach der Auffassung unseres klassischen Zeitalters für die 10 Verkümmerung der „Menschenbildung“ ver- antwortlich zu machen waren! Wie ist es zu diesem Umschlag gekommen? Die Äusserungen der Wirtschaftsführer lassen über das, worauf es ankommt, kei- nen Zweifel. Wir bekommen von den Hochschu- len genug Berufsanwärter zugeschickt, über deren fachliche Qualifikation kein Zweifel ist. Aber die fachliche Beschlagen- heit ist uns nicht das primär Wichtige. Wir wünschen uns Menschen, die über die Grenzen des bloss Fachlichen jinaus blik- ken, Menschen mit Weitblick, Weltkennt- nis, Überschau, Menschen befähigt zu wohlbegründeter Entscheidung. Meist fasst man das Gewünschte unter dem Titel „Persönlichkeit“ zusammen. Schicke uns Persönlichkeiten! das ist der Impe- rativ, der an die wissenschaftlichen Bildungsanstalten gerichtet wird. Dass man auf der Seite der so angere- deten wissenschaftlichen Bildungsanstalten der Meinung ist, mit diesem Imperativ nehme die Wirtschaft die Parole der Hu- maitätsbewegung wieder auf, und dass man hier das so interpretierte Be- kenntnis überaus gerne vernimmt, ist 11 deshalb sehr begreiflich, weil im Grunde die Hochschule an dem klassischen Bildungsideal unentwegt festgehalten hat. Schwerer begreiflich ist es, dass es auch unter den Wirtschaftsführern nicht an solchen fehlt, die die von ihnen ausge- gebene Parole den Imperativen dr Klassik meinen gleichsetzen zu sollen. Bei näherer Prüfung muss es ungemein zweifelhaft erscheinen, ob die Gleichsetzung des Einen mit dem Anderen zu Recht besteht. Erinnern wir uns doch: die Bildung zur Hu- manität, also das, was heute als Bildung zur „Persönlichkeit“ gefordert wird, geschieht in ausgesprochenem Gegensatz zu der ar- beitsteiligen Gesellschaftsordnung. „Bildung“ beginnt erst da, wo der Mensch sich der Umklammerung dieser Gesellschaftsordnung entschwindet und sich dem um seiner selbst willen gepflegten Gaben, Wahren und Schö- nen zuwendet. Ist etwa diese doppelte Buchführung dasjenige, was den besag- tenWirtschaftsführern als Ideal vorschwebt? Wollen auch sie die „Persönlichkeit“ aus- serhalb und jenseits der von ihnen ver- walteten Wirtschaft, ja geradezu in Front- stellung gegen sie verwirklicht sehen?! ästhetisch-literarisch! 12 Aber sie verlangen doch nach diesen „Per- sönlichkeiten“ gerade um dieser Wirtschaft willen. Weil diese Wirtschaft nach Men- schen mit Führerqualitäten geradezu schreit – deshalb ist ihnen die fachliche Ausbildung nicht genug. Aber die Persönlichkeiten, die sie verlangen, sollen doch gerade innerhalb der Wirtschaft, in Gestaltung und Lenkung dieser Wirt- schaft, ihre Überlegenheit zeigen! So ist also in der fragl. Forderung die Wirtschaft nicht verneint, abgewehrt, draussen ge- halten – sie ist bejaht, bejaht als das ei- gentliche feld der Beweährung für die er- hofften und geforderten „Persönlichkeiten“. Nun könnte sich diesem Einwand ge- genüber die klassische Bildungslehre mit dem Gedanken verteidigen, der in allen ein- schlägigen Erörterungen immer wieder laut wird: indem die Bildung des Menschen sich in das Reich des Guten, Wahren und Schönen zurückziehe und sich jedes Hinüberschielen zur Welt der praktischen Interessen versage, erweist sie in Wahrheit dieser Welt den denk- bar besten Dienst. Denn gerade durch diese bewusste Abschliessung, gerade durch dies 13 ausschliessliche Hinblicken auf die selbst- zeitüberlegenen wertigen Güter des Geistes erwarbe der Mensch die innere Freiheit, die Souveränität, die Überlegenheit des wägenden Urteils, die ihn befähige, hinterher auch im Angesicht der praktischen Lebensforderungen, der gegen- wärtigen Nötigungen das rechte zu sehen und mit Entschiedenheit durchzuführen. Gerade die vorzeitige Einmengung praktisch- gegenwärtiger Lebensbedürfnisse müssen den Menschen daran hindern, zur „Persönlichkeit“ auszureifen. Die Frucht des Nützlichen und Zweckentsprechenden falle dem am sichersten zu, der am wenigsten daran denke, sie um ihrer selbst willen zu erstreben. Man sieht: in diesem Gedankengang wird die Trennung der Sphären strengstens aufrecht- erhalten, aber nicht aus Gleichgültigkeit ge- gen das Nützliche, sondern gerade im Interesse des Nützlichen. Man glaube nicht, dass die hier reprodu- zierten Gedanken nur in der Blütezeit des Humanitätsgedankens vertreten worden seien. Dass sie auch heute noch leben, trat gerade im Gespräch des Stifterverbandes deutlich hervor. Dort war der klassische Humanis- 14 mus durch W. Schadewaldt vertreten. Er griff das Verlangen der Wirtschaft nach Per- sönlichkeiten beifälligst auf und glaubte den Sinn dieses Verlangens mit Hilfe einer Parallele aus dem zeitalter der italien. Renaissance erläutern zu können. Allgemeinbildung gewährleistet auch die beste Ausgangsstellung für die Bewäl- tigung praktischer Lebensaufgaben. Der italienische Staatmann, der heute in der Kanzlei seines Fürsten das beste cicero- (ästhet.-literar.) nianische Latein schreibt und übermorgen mit gleicher Meisterschaft eine Galeere kommandiert. Man sieht: die Trennung des Einen vom Anderen ist so gründlich wie möglich, und doch hat das Andere den Vorteil davon! Ich frage: ist mit diesem Beispiel die Vorstellung jener Wirtschaftsführer ge- troffen, die nach „Persönlichkeiten“ für die Lenkung des Wirtschaftslebens schrei- en? Konkreter gesprochen: kann eine „Allgemeinbildung“, die von den Anliegen des praktischen Lebens so weit abliegt wie das literarische Latein von der Füh- rung der Galeere – kann sie „Persönlichkei- 15 ten“ hervorbringen, die dann in dies praktische Leben verantwortlich führend einzugreifen qualifiziert sind? Wir erhalten die antwort, wenn wir ansehen uns fragen, für welche Zeiten eine solche dualistische Trennung von Allgemein- bildung und Berufsbildung allenfalls dis- kutabel war. Sie war es in denjenigen Zeiten, in denen die Berufsausübung Sache einer durch feste Traditionen geleiteten prakti- Routine schen Erfahrung war – in denen sie, nega- tiv ausgedrückt, noch nicht „rationali- siert“ war. +) In solchen Zeiten läuft alles wie selbstverständlich in den Bahnen des Herkömmlichen weiter und braucht die „Bildung“ sich um die Lebenspraxis wenig odr gar nicht zu kümmern. Allein diese Trennung hebt sich durch den Lauf der Dinge um so mehr auf, je mehr die Lebenspraxis sich von der Tradition unab- hängig macht und nach den Anweisungen der ratio organisiert und durchstruktu- riert. Je rationaler die Berufstätigkeit wird, um so unerlässlicher wird die plan- mässige Berufsausbildung. Die Rationalisierung ihrerseits dringt +) z.B. kommandieren einer Galeere 16 um so mehr zur Perfektion durch, je mehr die ratio sich zur wissenschaftlich diszipli- nierten ratio emporarbeitet. Aus der Ratio- nalisierung der Praxis wird die Verwissen- schaftlichung der Praxis. Mit dieser Wandlung nimmt das Pro- blem „Fachbildung und Menschenbildung“ ein völlig verändertes, von der die Praxis sich in ständig zunehmendem Masse berauben lässt, ist selbstverständlich auch ein Grundelement der allgemein-menschlichen Bildung. Das will nicht heissen, dass Bildung sich in Wis- senschaft erschöpfte, wohl aber, dass ohne sie menschliche Bildung nicht sein kann. Die Wissenschaft greift also als ein Gemeinsames durch die beiden Teilrichtungen bilden den Bemü- hens hindurch. Beide werden einander spür- bar näher gerückt. Angesichts dieser Annäherung fragt es sich: kann es trotz ihrer dabei bleiben, dass die Fach- bildung sich als eine nachträgliche Ange- legenheit an die in sich geschlossene und vollendete Allgemeinbildung anschliesst? Kann, darf die Allgemeinbildung ohne jede Rücksicht auf die im Fach sich stelenden Auf- 17 gaben durchgeführt wird, obwohl doch die- selbe Wissenschaft, die im Hinblick auf All- gemeinbildung gelehrt und gepflegt wird, auch in der Gestaltung und Ausübung des Fachs am Werke ist? Man sieht: die Tren- nung der beiden Aufgaben wird widersinning. Die doppelte Buchführung wird durch das Leben Lügen gestraft. Die Allgemeinbildung würde sich selbst der besten Wirkungen auf den Menschen und in das Leben hinein berauben, wollte sie sich den Ausblick auf die im Fach zu lösenden Aufgaben, wollte sie sich überhaupt den Ausblick auf die die Wissen- schaft im Leben zufallenden Funktion ver- sagen. +) Im Gegenteil: Bindeglied zwischen dem einen und dem anderen muss die Frage sein: Wo und wie fügt sich die Wissenschaft dem Getriebe unseres Lebens ein? Wo und wie kommt sie insbesondere dem von mir erwählten besonderen Fach zu Hilfe? Beleg: Programm dieser Tagung! Damit wird die in Rede stehende Unter- scheidung nicht aufgehoben, aber sie nimmt einen durchaus veränderten Sinn an – nämlich jenen Sinn, den sie in dem Ver- langen der Wirtschaftsführer nach „Persönlich- keiten“ hatte. Mit dem Wort „Allgemeinbildung“ unbeschadet aller „Nützlichkeit“! 18 ist, wenn es heute recht verstanden wird, das Verlangen nach Menschen gemeint, die nicht in ihrem speziellen Fach auf – und unterge- hen, sondern es in weitere, überfachliche Lebens- horizonte einzustellen, die es dem umgrei- fenden Ganzen einzuordnen fähig und ge- willt sind. Wo dies Verlangen sich recht versteht, da wird das Wissen und Können, das den Fachmann ausmacht, nicht als sekundär und hin- terherkommende Angelegenheit hinter die Allgemeinbildung zurückgestellt. Im Ge- genteil: dies Wissen und Können ist not- wendige Bedingung, die weil das Fach nun einmal das Zentrum ist, von dem her der Blick auf das Ganze gesucht und die Ein- ordnung in das Ganze erstrebt wird. Es ist eine rechte Wechselbeziehung, die hier zu realisieren ist: blicke vom Standort des fachs her ins Ganze – blicke vom Ganzen her auf die Sonderfunktion deines Fachs! Aus der äusseren Anreihung des Hetereoge- nen ist die innere Verknüpfung des auf- einander Angewiesenen geworden. Der tren- nende Dualismus ist aufgehoben. Fachli- che Tüchtigkeit und universales vermögen sind als zusammenge- 19 hörig erkennt. Ich habe zunächst die Wandlung der Lage dargestellt, ohne auf den konkreten geschichtlichen Verlauf einzugehen, in dem sie sich vollzogen hat. Ich hole das jetzt nach. Für die wissenschaftliche Rationalisierung der Lebenspraxis ist in erster Linie be- stimmend gewesen der Ausgang der mathe- matischen Naturwissenschaft im 17. Jhdt. und der Siegeszug der Technik, der mit dem ausge- henden 18. Jhdt. anhebt. Es handelt sich also um eine, zeitlich gesehen, relativ junge Entwicklung. Kein Wunder also, dass die tradi- tionellen Vorstellungen von Menschenbildung sich ihr gegenüber so zäh behauptet haben. Den auf die Natur bezüglichen Wissenschaften sind die auf den Menschen bezüglichen erst allmählich nachgefolgt. Besonders wichtig dafür die Epoche der Aufklärung – Aber auch hier ist es dann so gekommen, das die auf den Menschen bezügliche Lebenspraxis sich mehr und mehr rationalisierte und schliess- lich verwissenschaftlichte. Das Ergebnis steht uns heute klar vor Augen: Staat, Recht, Gesell- schaft, Wirtschaft, Erziehung könnten heute ohne die Beratung durch die Wissenschaft nicht 20 durchkommen. Auch in diesem Bereich besteht der Wechselbezug von Allgemein Fachbildung und Menschenbildung, nicht ein äusserliches Ne- ben- oder Nacheinander des Einen und des Anderen. Allein ist mit der Anerkennung dieser Wandlung die Bildungslehre der klassischen Humanitätsbewegung als in jeder Hinsicht erledigt und abgetan anzusehen? Ich glaube, dass sie in einer bestimmten Hin- sicht aktueller ist denn je. Wie sehr sie es ist, das bezeugt sich gerade in den Klagen und Forderungen der Wirtschaftsführer, die der Ausgangspunkt für die Behandlung unseres Themas gebildet haben. Wenn das Verlangen nach „Persönlichkeiten“, d.h. nach weitblickenden, urteils- und entschei- dungsfähigen Menschen sich so unwider- stehlich Bahn bricht, so wird dadurch bewirkt, dass an solchen Persönlichkeiten Mangel ist und dass man ihr Fehlen beklagt und als verhängnisvoll ansieht. Wenn aber dieser Mangel sich schmerzlich fühlbar macht, dann kann doch der Frage nicht ausgewichen wer- den: sollte etwa dieser Mangel mit dem ge- 21 schilderten Vorgang, mit der fortschreitenden Rationalisierung und Verwissenschaftlichung der Lebenspraxis zusammenhängen? Liegt etwa in diesem Vorgang, was dem Aufkom- men von Persönlichkeiten, wie wir sie wün- schen, abträglich ist? Und damit ist nun die Stelle erreicht, an der uns eine bereits erwähnte Mahnung und Warnung unserer klassischen Denker vernehm- lich in die Ohren klingt. Sie glaubten einen Wirderspruch zu bemerken zwischen den Forde- rungen der Humanität (Individualität, To- talität) und den Ansprüchen der arbeitstei- ligen Gesellschaftsordnung zu entdecken. Sie glaubten der letzteren, modern gesprochen, eine „ent-persönlichende“ Wirkung nach- sagen zu sollen. Hatten sie damit Unrecht? Oder ist es nicht vielmehr wirklich so, dass die fort- schreitende Rationalisierung der Lebenspra- xis den blossen Fachmenschen heranzuzüch- ten offenkundig tendiert? Gerade sie ist es ja, die die Möglichkeit schafft, ja den Anreiz hervorbringt, sich in das erwählte Fachgebiet zurückzuziehen und so wohl die übrige Welt als auch das übrige Selbst so zu behan- deln. Beachten wir wohl: vor dem Durchdringen 22 der Rationalisierung hatte diese Möglichkeit nicht bestanden! Mochte die Lebenstätigkeit des Einzelnen so umgrenzt sein wie sie wollte, er lebte im Ganzen, in Anschauung des Gan- zen, und verstand sie als Teiläusserung des Ganzen. Erst die rationale Durchformung und Abgrenzung der Tätigkeit ermöglicht ihre Isolierung im Bewusstsein des sie Ausü- benden. +) Der blosse Fachmensch ist die typische Lebens Ausgeburt des modernen Menschen in der durch- rationalisierten Gesellschaftsordnung. Der Schrei nach Persönlichkeiten ist der Hin- weis auf diese Fehlbildung. Nun, dass dieser Schrei erschallt, das be- weist, dass der Mangel nicht bloss faktisch besteht, sondern auch als solcher verspürt wird. Diejenigen, die ihn ausstossen, nehmen, ohne es zu wissen, die Klage unserer Klassi- ker wieder auf. Sie geben ihnen Recht mit ihren humanen Bedenken gegen die ra- tionalisierte Arbeitsordnung. aber sollen wir deshalb auf den Standpunkt der klas- sischen Humanität zurückkehren? Sie haben die den Menschen in menschenbe- drohender Gefahr gesehen, aber sie haben sich die +) Perfekte Rationalisierung = perfekte Arbeits- spezialisierung 23 Ab- und Gegenwehr zu einfach vorge- stellt. Sie haben gemeint, es gebe auf dem Wege der fortschreitenden Rationalisierung noch eine Möglichkeit der Umkehr. (Schiller) Wir wissen es besser. Wir wissen: es ist unser unabwälzbares Schicksal, den Weg der fortschreitenden Verwissenschaftli- chung weiter und weiter zu verfolgen. Damit wissen wir aber auch: es ist unser unabwälzbares Schicksal, unser Men- schentum in eben dem Masse der Gefahr der Austrocknung und Verkümmerung aus- gesetzt zu sehen, wie die wissenschaftliche Versachlichung und Verfachlichung sich perfektioniert. Die „Mechanisierung“ ist die uns dauernd überschattende Gefajr. Was hilft dagegen, da die Auskunft der Klassiker als illusorische anerkannt ist? Eine Gefahr sehen heisst zur Gegenwirkung aufgerufen sein. Wenn wir wissen, das die fortschreitende <..ienti- fizierung> uns Fachmenschen auszu- leeren droht, so heisst es eben, vor dieser Bedrohung auf der Hut sein, sich gegen sie wappnen. Was uns not tut, das ist die Tugend einer permanenten Wachsam- 24 keit gegenüber der Versuchung, um als Menschen im Fach, in der Sache untergehen zu lassen. Und erst damit vervollständigt sich das Bild dessen, was „Menschenbildung“ heute, in der uns umfassenden Welt, bedeutet. Sie bedeutet auf der einen Seite jene Er- weiterung des innern Horizonts, die uns befähigt, das Fach in das Ganze des Le- bens hineinzuschauen und aus dem Ganzen dieses Lebens heraus zu verste- hen. Sie bedeutet auf der anderen Seite die misstrauische Wachsamkeit gegen all den Einflüssen, durch welche der täg- liche Umgang mit dem Fache jene Ho- rizonterweiterung verhindern oder rück- gängig machen könnte. „Halte die offen“ – so lautet der Imperativ, durch dessen Be- folgung heute die Humanität allein ge- wahrt werden kann. Man muss es fertig bringen, die durch das Fach vorgeschriebenen Obligenheiten mit sicherer Kennerschaft zu erfüllen und sich doch vor dem Untergehen in diesen Obligenheiten zu bewahren. 25 Doppelt tut die Einschärfung die- ser Wachsamkeit not angesichts der Apotheose der rationalisierten Lebens- ordnung durch den Kommunismus und der relativen Blindheit, mit der die anderen Völker des freien Westens der Bedrohung ihres Menschentums gegen- überstehen. Hier tritt das auszeichnende Verdienst gerade der deutschen päda- gogischen Überlieferung hervor. „Hu- manität“ wird in ihrer Bedrohtheit gesehen. V 0056b 1 Erziehungsnöte. Umschwung. Gemein- sam. Spezifisch deutsche Frage. Gegenpol: Kommunismus. „Kollektiv“. „Fach“. Deutsche pädagogische Überlieferung. Zäh- lebig. Klassische „Humanität“. Front gegen arbeitsteilige Gesellschaft. „Indi- vidualität“ und „Totalität“. Polemisch. Zudem: Nützlichkeit! Entfremdung. Menschentum im Jenseits. Kastaliens. Sonderung von Fachbildung. Dua- lismus. Nur bei uns. Soziologische Gründe. Gegenbild: die Angelsachsen. ------------------------------------------------- Verschärfung des Dualismus. Beweis: mein Thema. Neue Träger: die Wirt- schaft. Dringlich. Beispiel: Wiesbaden 1957. Schrei nach „Persönlichkeiten“. Identisch mit Parole der „Humanität“? Der Hochschule willkommen. Irrtum der Gleichsetzung. Persönlichkeit „in“ der Wirtschaft. Wirtschaft = Feld der Bewährung. Verteidigung: Souveränität des Geistes qualifiziert zur Lebensbemeisterung! Hin- terher! Sphärentrennung bleibt. 2 So noch heute. Schadewaldt. „Ausgangs- stellung“. Meinung der Wirtschaftsführer? -------------------------------------------------- Wann war Dualismus durchführbar? Traditionelle Routine, nicht rationali- siert. Anders mit fortschreitender Ra- tionalisierung. Bis hin zur wissenschaft- lichen Rationalisierung der Praxis. | Neues Ansehen! Übergreifen der | Wissenschaft. Keine nachträgliche | „Fachbildung“. Keine fachfremde Wis- | senschaft. Ausblick auf Fach, Leben, | Gegenwart trotz „Nützlichkeit“. Bindeglied. | Programm! | Unterscheidung umgedeutet. Über- | fachlicher Lebenshorizont. Fach ist | Zentrum. Wechselbeziehung. |------------------------------------------------------- | Konkreter Verlauf: Natur-W. u. Tech- nik. Nachfolgen der Menschen- Wissen- schaften. Staat, Recht usw. Auch hier Wechselbeziehung. Klassische Theorie erledigt? Wie weit aktuell? Mangel an „Persönlichkeiten“ und Verwissenschaftlichung. per- sönlichend. Fach-Mensch. Früher nicht! Mangel verspürt! Kein Zurückfallen. Wachsamkeit. Teil der „Menschenbildung“. Offen!