Bestand:Privatarchiv Litt, Theodor
SignaturNA Litt, Theodor V 0055
TitelDie Existenzphilosophie im Denken der Gegenwart
Enthälta) hs; 2 Doppelblätter + 16 Blatt 10,5 x 15 cm = verschiedene Varianten des Vortrages: 2 Titelblätter, 4 verschiedene Einleitungen - Seiten neu durchgezählt: jetzt S. 1-35 b) ms; 1 Blatt 10,5 x 16,4 cm = S. 1-2 c) ms; 1 Blatt 10,5 x 16,4 cm = S. 1-2 c) + b) zwei Varianten der Stichworte, zeitlich nicht eindeutigzuzuordnen
Zeitvon1950
Zeitbis1951
BemerkungenDokumentenabschrift: V 0055a (verschiedene Varianten des Vortrages: 2 Titelblätter, 4 verschiedene Einleitungen - Seiten sind neu durchgezählt; die ursprünglichen Seitenzahlen sind in [ ] erkennbar) 1 [Titelblatt] Die Existenzphilosophie im Denken der Gegenwart (1950) 2 [1] Existenzphilosophie. (Speyer.) Vielschichtig. Wagnis. 2 Gesichtspunkte. Rückgang auf Kierkegaard. Späte Wirkung. Seismographisch. „Zeit der Auflösung“. Gegen „Menge“, Organisation (Kirche), Wissenschaft und Philosophie. Hegel als Inkarnation. Herr- schaft des Objektiven. Weltprozess, Geschichts- prozess, Staat – Vernunft. Das System. Was wird aus dem Menschen? „Existenz“. Der „exis- tierende Denker“. „Der Einzelne“. Das christ- liche Gewissen. Vor Gott! Der „Sprung.“ Anti- idealistisch, anti-romantisch. Menschenbild: Endlichkeit, Angst, Tod. Seine depressive Persönlichkeit. Lutherisch. Das Geahnte ist Realität geworden. Masse, Organisation, Staat; der „Apparat“. Die Ge- schichte. Die Vernunft. Das System. Bedro- hung des „existierenden“ Selbst. Antiidea- listische Kierkegaard – Renaissance. „See- lenheil“. Theologie und Philosophie. Deutsch- land und Frankreich. Z.T. verschwindet der christliche Hinter- grund. Aber es bleibt d. christl. Lebensstim- mung. Endlichkeit, Ungeborgenheit, Ausge- setztheit. Grunderfahrung: Sorge, Angst, „Grenzsituation“, „Scheitern“, Tod. Selbst- 3 [2] sein wahren angesichts des Nichts. Neuer Sinn von „Freiheit“. „Verdammt, frei zu sein“. „Hineingehaltensein in das Nichts“. Vgl. ide- alistische Freiheit. Kant. Hegel. Heroische Entschlossenheit des „Existierens“. Aufsich- nehmen. Verhältnis dieses Selbst zur „Welt“. Vgl. diese Relation bei Hegel. Das „Andere“! : Keine Verneinung der Welt, keine Flucht. Probe: Relation Ich – Du. Früher vernach- lässigt. Kiereg. sieht Grenzen <..> Gefah- ren. einsamkeit. Bei den Exist.-Phil. Variation von Sarte („Galeerensklaven“) bis zu Marcel („engagement“) und Jaspers „Kommunikation“. Verschlossenheit und Aufgeschlossenheit. Berührungsangst. Bei Marcel: Anruf. Treue. Die gemeinsam-organisierte Welt. Staat. Geschichte. Nicht verleugnet. Bewährungs- stätte. Aber wie weit Eigenwert? Hingabe? „Existenz“ bleibt jenseits. So auch bei Jas- pers. Noch deutlicher Heidegger. „“, „Fürsorge“. „Man“. Neuerdings: Staat ist, wie Wissenschaft, „Betrieb“, „Technik“, blind für sich selbst. „In das Geschick schicken“. „Weltmacht.“ – Aber dies Sehen ist Aufruf. Ambivalenz. Nicht bloss „Scheitern“. Pascal. 4 [1] Das Verhältnis, das zwischen der Philosophie und der allgemeinen Bewusstseinslage ihres Zeitalters besteht, ist von einer sehr wunder- lichen Art und höchst wechselnden Charak- ter. Oft als Beschäftigung von Sonderlingen und Aussenseitern mit Befremden oder verach- tung angesehen, oft ausdrücklich totgesagt – oft aber auch als „Königin der Wissenschaften“ anerkannt und bewundert; oft ohne Einfluss auf die allgemeine geistige Bewegung, oft geradezu represantiv für den Grundzug des innern Geschehens. Dazu der Unterschied der als reine Wissenschaft betriebenen und als Angelegenheit von und Schule an- gesehenen – und der im „Leben“ hineinwir- kenden freieren Philosophie. Merkwürdig verschlungen dunkel oft die Wege, auf denen sich die Ver- bindung zum „Leben“ herstellt. Unter irdisch <......> aber ist es von hoher symptomatischer Bedeutung, ob die Philosophie überhaupt und welche besondere Philosophie das allgemeine Zeitbewusstsein beeindruckt und beeinflusst. 5 Gabriel Marcel, Christliche Existenz- philosophie. 1935 „Ètre et avoir“. (1928, 1933) « Sein als Ort der Gläubigkeit ». Das „onto- logische Wunder“. Vgl. Jacobi! Das „engagement“ des Menschen. „Wir sind im Sein engagiert, es steht nicht in unserer Macht, aus ihm herauszutreten“. Bei Heidegger ist die Aussenwelt nur in der Weise des Vorhandenen und Zuhande- nen gegeben, die menschliche Gemein- schaft nur in der Form des anonymen Mas- sendaseins, von dem sich die einzelne Exis- tenz abheben muss. Bei Marcel werden den Bestimmungen der Lebendigkeit auch auf die äussere Wirklichkeit ausgedehnt. Auch die „äussere“ Wirklichkeit muss grundsätzlich in derselben Art wie die Existenz selber begriffen werden. Dahin gehört das Sein der anderen Menschen und besonders das Sein der Gott- heit. Das Du ist nur im „engagement“ zugänglich – Unterscheidung von „Existenz“ und „Obejektivi- tät“ (allgemeingültig) Gegenwärtigkeit („présence“) des Existie- rens. „Das „Objekt“ als solches ist nicht gegen- 6 wärtig.“ Problem und Mysterium. Jedes echte Sein ist dem Menschen nur als Mysterie ge- geben. Ontologie ist Entfaltung dieses Mysteriums. Gläubigkeit, entwickelt am Versprechen. Der Mensch ist mehr als sein augenblicklicher Zustand. Treue. Das tiefere Ich und sein en- gagement. Nicht nur „Treue zu sich selbst“ (das wäre existentieller Subjektivismus), sondern Treue im Beanspruchtwerden durch den anderen, der sich auf mein Versprechen verlässt. „Jedes engagement ist eine Antwort. Im Versprechen ist ein über das Subjekt hinaus- greifende Wirklichkeit mitgegeben. Das „ontologi- sche Gegenstück“. Treue ist ein Akt der Selbstschöpfung. (Vgl. Satre!) „Schöpferische Treue“. Schöpferische Gläubigkeit. Die übergreifende Ordnung ist etwa, was d. Mensch zugleich „erfindet“ und „entdeckt“. Die Wirklich- keit geht erst im „Glauben“ auf. (Weder Entdek- ken noch Erfinden“) Die Gläubigkeit ist „Zu- gang zur Ontologie“. „Das Sein als Ort der Gläubigkeit“. Auch die Gottheit ist nur in persönlichem En- gagement zugänglich. „Schöpferischer Glaube“. Atheismus hat Verdinglichung Gottes zur Voraussetzung. – Zurücktreten des christlichen Glaubensgehalts. 7 [Titelblatt] Existenzphilosophie (Speyer 1951) 8 [1] Unter welchem Gesichtspunkt ist Existenz- philosophie für Sie wichtig? 1. Für manche Kulturvölker (Frankreich u. besonders Deutschland) ist die Wirkung dieser Philosophie ein charakteristischer Ausdruck der allgemeinen Seelenlage. 2. Eben deshalb ist es wichtig zu wissen, wie sich von dieser Philosophie her das Ver- hältnis des Menschen zu denjenigen Lebens- gebieten bestimmt, die den Gegenstand Ihrer Ausbildung und Ihres Lebensberufs dar- stellen: zu dem öffentlichen, dem geschichtli- chen, dem politischen Leben. Notwendigkeit der Verkürzung und Vereinfachung. Notwendiger Ausgang: Kierkegaard. Und für dessen Verständnis ist massgebend: sein Gegensatz gegen Hegel. Wir finden Grundzüge der gegenwärtigen Lebenspro- blematik bei K. vorgebildet. Begriff der „Existenz“ in Hegels System: das nicht Systematisierbare. „Blosse“ Existenz. Nicht dem Logos der Welt und des Seins einzuordnen. Übermacht des „Objektiven“: zunächst als die logische Ordnung des Systems. Aber das System der philosoph. Vernunft ist identisch mit dem System der Wirklichkeit. Übermacht des „objektiven“ 9 [2] das „Allgemeine“! Geistes“, wie er sich in Organisation der Ge- meinschaft und in Geschichte verwirklicht. Sub specio dieses logisch und geschicht- lich Objektiven und Allgemeinen ist das „bloss“ Existierende belanglos. Protest des christlichen Gewissens. Ge- rade auf den „Einzelnen“ kommt es an. Der Einzelne vor Gott. +) So auch der philosoph. Denker als der „existierende“. Als Träger allgemein gültigen Wissens ist er nicht „existierend“. Nur in der „Lei- denschaft“ seiner „Subjektivität“, nur als Träger eines für ihn als Einzelnen we- sentlichen Erkenntnis „existiert“ er wirk- lich. Abneigung gegen seine Zeit als eine Zeit der Auflösung. Die „Menge“. Ab- neigung gegen die sich in Organisa- tionen sicher wollende Menschheit, vor allem gegen die Kirche, die auch die Existenz in objektiven Sicherungen erstickt. Das Heil kommt durch den „Sprung“, die Annahme des „Paradox“. der christliche Hintergrund dieser Philo- sophie der Existenz. Das Menschenbild: End- lichkeit, Angst, Tod. Anti-idealistisch, anti- romantisch. Seit Kierkegaard hat sich der Druck des Objektiven ungeheuer verstärkt. Aus +) und zwar ausserhalb seines geschichtlichen Seins. 10 [3] der „Menge“ ist die „Masse“, das „Kollektiv“ ge- worden, die Organisationen. politisch, gesell- schaftliche, wirtschaftliche, haben sich unge- heuerlich ausgebreitet und verfestigt, sind „Apparat“ geworden – nie ist das „existierende“ Selbst so bedroht gewesen. Ausserdem haben geschichtl. diese Formen durch die Geschichte polit. Ent- u. deprarierende wicklung eine ungeheuer zerstörende Wir- kung entfaltet; der Glaube an ein in der Geschichte sich durchsetzende Vernunft und damit an ein diese Vernunft enthüllende Systemphilosophie hat einen ungeheuren Stoss erlitten. Die Systematik des Seins und „Wert“-Philosophie: die Systematik der denkenden Vernunft ist mehr als fraglich geworden. So hat die Entwicklung selbst einer Kierkegaard-Re- naissance den Boden bereitet. Seine Opposi- tion gegen Hegel wird zur Opposition gegen das vermusste und verapparatisierte Leben, seine Sorge um das Heil der Seele zur Sorge um das Selbst, das in den Objektivi- täten zu ersticken droht. Sein Hinweis auf die Endlichkeit, und Ausgesetztheit, Verlorenheit des Menschen ist durch die Ereignisse unterstri- chen worden – kein Wunder, dass so wohl in der (protestant.) Theologie als auch in der Philosophie das Erbe Kierkegaards kräftig gewirkt hat. Deutschland und Frankreich. 11 [4] Dabei aber ein Unterschied: bei Kierkegaard gewinnt der „Existierende“ Mensch dasjenige, was ihm die Welt nicht geben kann, durch den „Sprung“, der ihn zum Transzendenten Gott in Beziehung setzt. In einem Teil der mo- dernen „.-Ph. wird zwar der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen, aber er gewinnt nicht den verlorenen Halt wieder in Gott. Er bleibt ganz u. gar auf sich selbst gestellt. Es gibt ein ausgesprochen „atheistische“ Existenzphilo- sophie. Variationen der E.-Ph. je nach ihrem Verhältnis zur christl. Glaubenslehre. Man kann eine Skala aufstellen. Der atheistische Pol: Satre. Der christl. Pol: Marcel. Von den deutschen E.-Ph. steht Jaspers näher bei Marcel, Heidegger näher bei Satre. Gemeinsam ist trotzdem allen Rich- tungen die christliche Lebensstimmung: das Bewusstsein der Endlichkeit, Verlorenheit. Scheitern Der gebrechliche „Adam“. Sorge, Angst, „Grenzsituati.“, Tod... Starker Widerhall bei allen, die ihr Selbst durch die Objektivitäten des Daseins bedroht fühlen wie auch bei denen, in denen das Zutrau- en zur daseinserhellenden und –beherrschen- den Kraft des menschlichen Geistes geschwun- den ist. Daseinsvertrauen und Geistvertrauen sind tief erschüttert. Dabei muss sich aber auch das „existierende“ Selbst in der Welt bewegen und mit der Welt 12 [5] zurechtkommen. In der idealistischen Philo- sophie war die Klärung dieses Verhältnisses einfach, weil die „Welt“ selbst werdender und als solcher zu erkennender Geist ist. In der Ex.-Phil. ist diese Relation sehr viel fraglicher Verhältnis zur Natur, zur organisierten Menschen- welt, zur Geschichte, zum Du. Prinzipiell werden diese Relationen nicht nur nicht verneint, son- dern als notwendig anerkannt. „In – der – Welt – sein“. Aber sie werden mit Misstrauen betrach- tet und nur bedingt im Handeln anerkannt, weil sie die Echtheit der Existenz bedrohen. Dabei im Einzelnen mancherlei Abwandlungen zwi- schen den Polen Satre und Marcel. Probe: Ich Marcels und Du! das „engagement“ Satres, die „Kom- munikation“ Jaspers, das „besorgende“ „MIt- sein“ Heideggers, der vereisende Blick bei Satre („Die Hölle, das sind die anderen“) Aber gemeinsam ist die Überzeugung, dass die organisierten Formen des menschl. Mit- einander für „Existenz“ nicht besagen. 13 [1] Es ist ohne Zweifel eine bemerkenswerte Tat- sache, wenn eine Philosophie, die an das Ver- ständnis erhebliche Anforderungen stellt, zudem die Annäherung durch eine manch- höchst eigenwillige mal barocke Terminologie erschwert, die All- gemeinheit in dem Masse zu beschäftigen und zu erregen vermag, wie es der Existenzphiloso- phie gelungen ist. Es wäre falsch, sich solche Erschliessung mit dem Schlagwort „Modephi- losophie“ ab tun zu wollen, selbst wenn in einzelnen Fällen die Sucht, mit dem, was <à l’ ordre du jo.. ist>, in Fühlung zu bleiben nicht mit beteiligt sein sollte. Diese Philoso- phie muss einen empfindlichen Punkt in der Seele unserer Zeit berühren. Wenn in so weit der Vortragende sich der Gunst erfreuen darf, dass er bei seinen Hörern den Boden einigermassen bereitet findet, so hat mich doch ein gelinder Schrecken erfasst, als der Vorsitzende Ihres Vereins mich auffor- derte, mich vor Ihnen um diese philosophische Bewegung zu äussern. Denn sie ist zu vielfach geschich- tet, zu reich an Voraussetzungen, ausserdem zu stark in divergente Teilrichtungen zerspal- ten, als dass ein Vortrag von naturgemäss begrenzter Dauer ihr auch nur einigermas- sen Genüge zu tun vermöchte. Daher die vor- sichtige Fassung meines Themas. Was ich leisten kann, dass ist nur dies, dass ich aus ihrem Gedankenkreise einige besonders wichti- ge Grundmotive hervorhebe und zu ihnen 14 [2] so Stellung nehme, wie es mir von Standpunkt aus geboten erscheint. Man wolle diese Beschränkung aus den Umständen ver- stehen. Man muss auch heute noch, wenn man Absicht und Grundrichtung der Existenzphilo- sophie recht verstehen will, bis auf die Stunde ihrer Geburt zurückgehen. Man kann sie nur begreifen, wenn man den Gegner ins Auge fasst, der sie durch den Widerspruch, den er herausforserte, ins Leben gerufen hat. Dieser Gegener war der Idealismus in der abschliessenden Gestalt, die ihm vor mehr als hundert Jahren unser grosser Philosoph Hegel gegeben hat, und der den Angriff gegen ihn im Namen der „Existenz“ eröffnete, das war der dänische Religionsdenker S. Kierkegaard. Die Exitenzphilosophie in all ihren Verzweigungen ist nichts anderes als eine umfassende Kierkegaard-Renais- sance. Wir dringen am sichersten in das Problem ein, wenn wir uns den Gegensatz Hegel – Kierkegaard in seinen tragenden Motiven vergegenwärtigen. Denn in ihm tritt ein fortdauerndes Grundmotiv des Fragens exemplarisch hervor. Den Streitpunkt bildet, absichtlich vereinfachend ausgedrückt: der Anteil des vernünftigen Denkens an dem Selbst- verständnis und der Selbstbestimmung des 15 [3] Menschen: ein im Rahmen der christl. Glau- benswelt oft handelnter Gegenstand. Es lag in Wesen und Entwicklung des deutschen Idea- lismus, dass er diesen Anteil immer höher angestrebt hatte. Das Maximum ist in Hegels System, dem „Panlogismus“, erreicht. Die menschl. Vernunft ist imstande, sich das Gefüge der Welt bis auf den Grund durchsichtig zu machen, weil in dem Denken jedes einzelnen Menschen ein allumfassendes, ein überindi- „absolutes Wissen“! viduelles, ein wahrhaft göttliches Denken am Werke ist und weil hier wiederum dieses uni- versale Denken die Welt nicht als ein von ihm Verschie- denes und Unterschiedenes sich gegenüber hat, sondern in ihr nur ein aus ihm selbst Erzeugtes, also im Grunde sich selbst vor Augen hat. Welterkenntnis ist letzten Grundes Selbsterkenntnis des welterzeugenden Geistes. Die Welt wird durch den Geist, mithin auch durch den in diesem Geist befassten Menschen, bis auf den Grund begriffen. Die begriffene Welt ist die nach ihrem „Wesen“, ihrer „essenti- a“ begriffene Welt. Nun ein weiterer wesentlicher Zug: das Begrei- fen der Welt leistet nur dadurch das, was es zu leisten beansprucht, dass es ein Begreifen des Weltwerdens, des Weltprozesses ist. Der welt- identische Geist „macht sich zu dem, dem er ist“. Nur in dem er sein eigenes Werden, sein Emporsteigen zu sich selbst begreift, begreift 16 [4] er das Werden der mit ihm selbst identischen Weltwirklichkeit. Eine Philosophie der „Ent- wicklung“. Was aber stellt sich bei dieser Be- trachtung des Werdens heraus? Sie ist Entwick- nicht „organisch“! lung durch Widerspruch und Gegensätze hin- durch, ist Kampf mit sich selber. Das Negative und sein Schmerz, die Arbeit an sich selbst. Die „Dialektik“. Nun aber die Aufgabe der Philosophie! In dem sie die Gegensätze in ihrer Notwendigkeit, als unerlässlicher beitrag zur Entwicklung erkennt, „vermittelt“ sie sie („meditiert“: Kierkegaard), heilt sie die Wunden, die der Prozess schlug. Sie ist die grosse Versöhnerin. Sie nimmt alles Beson- in seiner Entgegensetzung, unbeschadet seiner Entge- dere mitsamt den ihm immanenten gensetzung, das Unendliche Gegensätzen in das Ganze auf, sie fügt es zum denkgemässen „System“ und nimmt ihm so den Schein der Widerständigkeit, Sper- rigkeit, Feindseligkeit. Der Logos der Welt triumphiert, und sein Triumph vollzieht sich in der denkenden Vernunft des Menschen als des erwählten Organs der Weltvernunft. Wenn nun die Vernunft die ganze Weltent- wicklung dargestalte im Logos der Vernunft „aufhebt“, so ist es klar, welchen Teil dieser Ge- samtentwicklung einen besonderen Akzent erhalten muss, sobald dieser Mensch sich selbst, seinen eigenen Anteil an diesem Ganzen in die Gesamtrechnung einbezieht. Der menschli- che Anteil am Weltprozess heisst: die Geschichte. Sie ist das Werden des Geistes zu sich selbst in 17 [5] seiner höchsten bewussten Form. Wenn ir- gend ein Stück werdender Weltwirklichkeit durch die Vernunft begriffen werden muss, dann ganz bestimmt dieser höchste und bewussteste Teil des Weltwerdens: die durch den Menschen selbst sich wirkende Geschichte. So kulmi- niert das Sichselbstbegreifen des Weltprozesses im Sichselbstbegreifen der Geschichte: der Ge- schichtsphilosophie. Auch und hier: Durch- gang durch Gegensätze, härteste Antithetik, schärfster Widerspruch. In der Welt des be- wussten Geistes entwickelt das <....> <....> seine letzte Kraft. Aber je bitterer der Widerstreit, je schmerzlicher die Wunden, um so glorreicher und herrlicher dann auch die Versöhnung, die der alles durchleidende Geist in Gestalt der Philosophie vollzieht. Indem er alles Leid der Weltgeschichte als logisch notwendig begreift, nimmt er ihm den Stachel, ja verherrlicht er es. So ist auch die Geschichte in das System des begreifenden Geistes aufge- nommen, gleichsam bis auf den Grund transparent geworden. „Die Wunden des Geistes heilen ohne Narben“. An diesem Punkte nun setzt Kierkegaards bohrende Kritik ein. Wenn der Mensch derge- stalt die gesamte Weltwirklichkeit, die eige- ne Geschichte eingeschlossen, im System birgt und „Beisetzt“ – als was ist er alsdann tätig? Nun, selbstverständlich als universaler Welt- denker, als Philosoph. Was ist es an ihm, was diese Leistung vollbringt? Es ist die „Vernunft“, d.h. ein Vermögen, das für seine Ergebnisse allge- 18 [6] meine Geltung beansprucht und insofern „über individuell“ ist. Ein allgemeines Ver- mögen. Beispiel der Mathematik. Gerade He- gels Philosophie beansprucht in diesem Sinne als allgemeingültig enerkannt zu werden. Aber ist denn nun dieser denkende Mensch nichts weiter als allgemeine Vernunft? Erschöpft sich sein Wesen in dieser Funktion? Hegel selbst belehrt uns über das Gegenteil: „Ich“ ist die Vereinigung absoluter Allgemeinheit mit ebenso absoluter Besonderheit. Jedes Ich ist zugleich dieses besondere Wesen, an diesem besonderen Ort, in dieser besonderen Zeit, in dieser besonderen Lage. Es „existiert“ in dieser einen Faktizität. Auch der sublimende univer- nicht = Gott! salste Denker ist in diesem Sinne ein „existtie- render“ Denker. In ihm ist Beides verkoppelt. Was aber wird nun aus dieser Existenz des Menschen im Rahmen der Hegelschen Philo- sophie? Sie zählt nicht, bzw. sie wird in das universale Schweinen des Systems aufgenom- men und damit zum Verschwin- den gebracht. +) Das zeigt sich am deutlichsten in demjenigen Teil des Systems, in dem der Mensch als Mensch voll zur Geltung kom- men müsste: in der Geschichtsphiloso- phie. Als existierender Mensch finde ich mich auf dem Boden der Geschichte, an einem be- stimmten Punkt der Geschichte. Auch der existierende Denker findet sich so in der Ge- schichte. Er schwebt nicht in den Wolken, ist nicht Gott. Als geschichtlich Existierender finde +) „wie man einen Stock wegstellt“. 19 [7] ich mich bestimmten Lagen ausgesetzt, vor bestimmte Fragen gestellt, zu bestimmten Ent- scheidungen aufgefordert. Was aber sagt mir darüber die Geschichtsphilosophie? Nicht ich als Einzelner habe die Entscheidung zu fällen, den Gang zu bestimmen. Im Logos jener vom Philosophen in ihrer Notwendigkeit durch- schauten Gesamtentwicklung, in dem dia- lektischen Aufbau des Prozesses ist das hier und jetzt zu Tuende bereits bestimmt. Ja habe eine durch den Weltgeist bestimmte Lei- „Stellenwert“ stung zu vollbringen, nicht aus eigenem freiem Entschluss die Lage neu zu bestim- men. In mir und durch mich handelt der Welt- geist. Das gilt selbst von den Herren der Ge- schichte, wie viel mehr von mir als dem Namenlosen. Auch ich bin in Welt- und Ge- schichtsprozessen aufgehoben und im System untergebracht. (Was ich als vereinzelte Existenz ausserdem noch bin, <....> ab, ist belanglos.) Sollte ich in irgend einem Gegensatz oder Widerspruch stehen, der mir vielleicht unauf- lösbar scheint, sollte etwas „Negatives“ in mir sein oder wider mich sein, so weiss ich: im Gan- zen ist dieser Widerspruch „aufgehoben“, seine „Versöhnung“ ist durch den Weltlogos garantiert. Was aber an mir etwa nicht in den Logos ein- geht, was blosse „Existenz“ an mir ist, dass ist damit seiner Belanglossigkeit und Uner- heblichkeit überführt. In meinem Wesentlichen bin ich Glied am Weltlogos, bin ich in die Unend- lichkeit aufgenommen. Dem Schmerz des „Akzidenz“. 20 [8] Negativen, den ich vielleicht in mir verspüre, ist damit der Stachel genommen. Auch er ist der versöhnenden Aufhebung gewiss. „Identität“! Wider diese logische Einordnung der einzel- menschlichen Existenz erhebt sich Kierkegaards leidenschaftlicher Widerspruch. Er erfolgt nicht bloss aus dem Grunde, weil er der einzelmenschl. Existenz eine Eigenbedeutung beilegt, die nicht im Weltlogos untergehen darf – er er- folgt vor allem aus den Tiefen des christl. Ge- wissens. Hier wird der Endliche mit dem Unendlichen, und das heisst: der Mensch mit Gott so versöhnt und in eins gesetzt, dass gerade das dem Christenmenschen We- sentliche, der Abstand von Schöpfer und Ge- logische unio ! schöpf, verschwindet. „Identitäts“-Philosophie! Es sind aber zunächst philosophische, Kri- tisch-philosophische Gedanken, durch die K. auf die Glaubensposition hinführt. Welche Stellung nehme ich den eigentlich mir selbst gegenüberein, wenn ich mich in der bezeichneten Weise in den Weltprozess, ge- nauer den Geschichtsprozess hineindenke? Wie für mich als Philosophen das Ganze des Weltprozesses Gegenstand der Betrach- tung, der deutenden, verknüpfenden, ein- ordnenten Betrachtung ist, so rücke ich auch mich selbst in die Fläche dieser Be- trachtung ein. Dasselbe zeitlich genau um: wie die gesamte Vergangenheit des Welt- prozesses für mich Gegenstand der Betrach- 21 [9] tung, ist, ja überhaupt nur als gegenstand möglicher Betrachtung für mich in Betracht mitsamt dem kommt, so rücke ich auch das Jetzt oder gar auch das Demnächst in die Fläche der Betrach- tung hinein. Ich stelle mir mein mit- samt dem Jetzt seines lebendigen Daseins wie ein beliebiges Stück der Betrachtung sich darbietenden Weltprozesses gegenüber. Aber verträgt er denn eigentlich mein lebendiges und der Zukunft Ich in seinem lebendigen Jetzt, dergestalt in die Stellung des zu betrachtenden Gegenüber gerückt zu werden? Es mag sein, dass alles was nicht mein Ich ist, alles, was nicht meinem aktuellen Jetzt mit Zukunft angehört, nicht zu Schaden kommt, wenn es zum Objekt d. Betrachtung wird. Aber ich selbst, darf ich mir die Behandlung widerfahren lassen? Beraube ich mich nicht gerade meines Wesentlichsten, meines Selbstseins, wenn ich mich so in den und geordneten Ab- Ebenso: gegenwart u. Zukunft! lauf des Weltprozesses hineingestellt denke? Kierk. nennt die Haltung, in der das Selbst der Mensch sich selber zum Gegenstand der Betrachtung herabsetzt, die „ästhetische“. Er meint damit die Haltung dessen „der sich an den Dingen eben nur als der draussen- stehende Betrachter interessiert fühlt, +) der nicht mitten inne steht. Indem er sein „existie- rendes“ Selbst in der Objektivität des zu betrach- tenden Weltprozesses verschwinden lässt, hat er +) wie an einem Kunstwerke 22 [10] Es ist wie ein Vergangenes geworden. es „ästhetisch“ verharmlost, beruhigt, ja sich aus den Augen gerückt. Das „Selbstseins“ (Jaspers) ist verloren. Einhalten, um einen Blick auf die Erfah- rungslagen werfen, die den Verlust des „Selbst- seins“ durch die „ästhetische“ Haltung xxx bestätugen. Man sieht sich selbst als blossen nicht mehr: „Natur“ – sondern: „Apparaten“, Massenbewegg.) Teil von Kollektivitäten, von Gesamtprozessen, von „historischen Notwednigkeiten“ sei es kau- saler sei es theologischer Art. Man sieht sein eigenes Verhalten wie das schon vergange- ne Verhalten eines Anderen. „Der Einzelne kann da nichts machen.“ Für Kierkegaard ist die Kritik an der ästhet. Geisteshaltung nur die Vorbereitung zum „Sprung“ in die Welt des Glaubens. In- dem es sich zeigt, dass die „Vermittlung“ des Endlichen Unendlichen Einzelnen mit dem Ganzen, die „Versöhnung“ der Gegensätze, die „Aufhebung“ des Negati- ven -| nur so lange gelingt, wie die „ästheti- sche“ Geisteshaltung festgehalten, das Seien- de wie ein Vergangenes betrachtet wird, er- gibt sich für das wirkliche und gegenwärtige, das wahrhaft „existierende“ Selbst die Unmög- lichkeit all dieser Ausgleiche und Ver- harmlosungen. Für dieses Selbst wird „die Wunde der Negativität“ offengehalten, bleibt der Gegensatz unaufgelöst bestehen. An die Stelle der Versöhnung durch das dialektische Den- -| die Systematisierung des gesamten Seins 23 [11] ken tun die willige des unaufheb- baren Widerspruchs im Dasein des Menschen, tritt der „Sprung“ in die ganz andere Sphäre des Glaubens und die Kapitulierung des Denkens, keine Vermittlg. v. Mensch u. Gott! Nicht – identisch! vor dem „Paradox“ des Glaubensinhalts. Nur in dem das Ich sich seinem ent- sagend, der Überwirklichkeit Gottes öffnet, er- wacht es zu seinem echten Selbst. +) Wir verfol- gen diese Wendung nicht weiter, da es uns nicht um Theologie, sondern um Philosophie geht. Und dieser Fortgang ist möglich, da die Kritik der „ästhetischen“ Geisteshaltung nicht bloss zur Glaubensposition weiterführt, sondern auch philosophische Fortbildungen offenlässt. Und diese liegen eben in der mo- dernen Existenzphilosophie vor. Diese Existenzphilosophie hat mit der in den Glauben mündenden Philosophie Kierk. ein Entscheidendes gemeinsam, obwohl sie den Glaubenshintergrund zum Ver- schwinden bringt. Da Kierk. jede Kontinuität vom Menschen zu Gott verneint, ihren Dualis- mus mit äusserster Schärfe herausarbeitet, so muss er am Menschen alles das her- vorheben und unterstreichen, was ihn v. Gott unterscheidet, alles das zurückdrän- „Schöpferische“! Geist, Kultur usw. gen, was ihn Gott annähert („analoque an- tis“! Luther, nicht Thomas) Daher nicht nur das Pochen auf die Grenzen der denkenden Ver- nunft, sondern auch auf alles, was die „Endlich- +) überwindet er den Nihilismus! 24 [12] keit“ des Menschen ausmacht. So ist das Bewusstsein des Menschen, das hier entsteht, das Gegenteil des „idealistischen“ Menschen- bildes, die die göttliche Schöpferkraft des weltbildenden Geistes im Menschen trium- phieren sieht. In dieser Hinsicht bleibt die Existenzphilosophie auf den Spuren Kierkg. Was den Menschen seine Existenz vergessen macht, um sein Selbstsein betrügt, das sind gerade diejenigen Erfahrungen, erlebnisse, gewiss- heiten, in denen idealistisches Denken, umge- kehrt die höchste Gewissheit seines Wesens findet: die Erlebnisse seiner Geistesmächtigkeit, seiner schöpferischen Kraft, seiner Teilhabe am Göttlichen. Umgekehrt wird er auf sein Selbst- sein gerade dann am unerbittlichsten zurück- gestossen, wenn er des genauen Gegenteil Schuld, Verzweiflung, erfährt: die „Sorge“, die „Angst“, zumal die Angst zum Tode sind die „Grundbefindlichkeiten, sein Selbstsein ergreift in denen der Mensch von seiner Existenz die nicht zu bewältigenden erfährt. Dazu Jaspers „Grenzsituationen“: Kampf, Schuld, Leid, Tod. Überhaupt: das „Scheiter“! Eine durch und durch christliche Lebens- stimmung unter Wegfall des christlichen Glaubenshintergrundes. der Mensch als der durch und durch Ungöttliche“ +) Allein obwohl die Existenzphilosophie so die überlieferten Ansprüche des Menschen mitleidlos beschneidet, hält sie ein Privi- leg von ihm mit äusserster Entschiedenheit. Das Selbstsein, das er in den „Grenzsituationen“ +) Vgl. die Negativität d. Menschenbildes in d. dialekt. Theologie! u. der Haltung Gottes! 25 [13] erfährt, ist Sein aus Freiheit. Allerdings ist nun andererseits diese Freiheit etwas anders als was sie bei Kant, Fichte, Hegel sein will. Sie hat mit dieser nur das Negative: das Fehlen einer äusserlich zwingenden Notwendigkeit voraus. Hier wiederum dringt sie in Abweisen jeder Art von Notwendigkeit bis zum Äussersten vor. Bei xx xxx Kant etwa gewinnt der Einzelne seine Freiheit erst durch Bejahung und Befolgung des ihm einwohnenden Allgemeinen, d.h. mehr als bloss individuellen Sittengesetzes. Bei Hegel erst in Einung mit dem allgemei- nen Geist, wie er sich in den Ordnungen des ob- jektiven und und den Schöpfungen des absoluten Geistes verkörpert. In der Existenzphilosophie ist die Freiheit wirklich die totale Unabhängig- keit des „sich selbst wählenden“ (Kierkegaard), des „sich selbst machenden“ Individuums. Die Freiheit wirkt erst dadurch komplett, dass jede der „existentia“ des Ich voraufliegende „essen- „Geworfenheit“ tia“, jede von ihm zu verwirklichende „Wesensform“ verneint wird. Wenn bei Kierkegaard das Ich von „frei“ ist, weil und wem es . Einsam- keit, Zurückgeworfenheit auf sich selbst, nur Gott gegenübersteht, so fällt in der Existenzphilosophie dieses Gegenüber entweder ganz fort (so im , eigenen Entschei- dung beraubt. Dort ist „Entscheidung“ = Subsumtion unter das allgemeine Gesetz. hier = Einfügung in den Gang des Weltpro- „Aufhebung“ 28 [16] „Ästhetische“ Kultung. „je – meinig“ (Heid.) zesses. Erst die Existenzphilosophie trennt mit scharfem Schnitt den Einzelnen mitsamt der ihm angehörigen Gegenwart von allen über- geordneten Seinszusammenhängen und „eigenstes Seinkönnen“ gibt ihn ganz und gar sich selbst anheim. Zweitens. Die dunklen Seiten der menschl. Existenz erhalten erst in d. Existenzphilosophie ihr volles Gewicht. Sie waren im Idealismus zwar nicht verleugnet, aber doch im Logos des Ganzen „versöhnt“ und „aufgehoben“ wor- den (Ausgenommen vielleicht in Kants Religionsphilosophie!) Wenn demgegenüber die „Wende der Negativität“ offen gehalten wird, und zwar im Einklang mit der christlichen Daseinsdeutung, so werden wir gerade heute den darin liegenden „Realismus“ der Betrach- tung besonders anerkennen. Allein so sehr diese beiden Züge dieses Denkens im Vergleich zum Idealismus als bejahenswerte Berichtigungen anzuerken- nen sind, so wenig vermag ich alle Konse- quenzen zu bejahen, die sich mit dieser Berichtigung verbinden. Die Befreiung des individuellen Selbst- seins wird bis zu einem Punkte vorge- trieben, an dem sie zu einer Isolierung wird +) – zu einer Isolierung, in der die not- wendigen Bedingungen jeglichen Selbstwerdens aufgehoben werden. Der „Entwurf auf eigenstes Seinkönnen“ (Heidegger) schliesst die Mitwir- +) In christl. Deutung („vor Gott“) möglich, in philosoph. nicht! 29 [17] kung über individuell- objektive Seinsmächte nicht aus, sondern kann nur im Verein mit ihnen zustande kommen. Bei Kierkegaard fällt diese Isolierung zusammen mit der Gottbegegnung. Die Existenzphilosophie beseitigt dies Gegenüber und überantwortet das Selbst völliger Einsam- keit. Im Grunde soll es sich aus dem Nichts „machen“ (Satre) Aber in dieser Hinsicht hat Hegel klarer gesehen. Das „Ansich“ des Selbst kann nur Wirklichkeit werden, indem es den Wesen und Erscheinung! Weg über das Andere seiner selbst nimmt. Bei ihm heisst es nicht: „das Ich macht sich selbst“, sondern „der Geist macht sich selbst zu dem, der er ist“. D.h. das Ganze ist ein Sichselbstmachen. Der Einzelne kann nur nicht bloss das „Man“! Abgleiten im Verein mit diesem Gesamtprozess er selbst werden. +)Er braucht deshalb noch lange nicht Auch in Gegenstellung gegen die geschichtl. Objektivität! durch den Logos des Ganzen mediatisiert zu werden. Ich werde ich selbst nicht in der Einsam- keit meiner Innerlichkeit, sondern in stetigem Ringen mit der „Welt“ im weitesten Sinne, angefangen mit der Bewältigung der Natur, gipfelnd in der Durchdringung mit dem „objektiven Geist“. Der Existentialismus tut Unrecht, wenn er dies alles in die Sphäre des Verdeckenden (vorhanden u. zuhanden) dem Selbst Äusserlichen abschiebt, wenn er dem Selbst einen Innenbezirk der unzugäng- lichen Innerlichkeit reserviert. Beispiel: die Durchdringung von Selbstwerden und sprachli- cher Reifung. Mein Selbstwerden ist zugleich Einung mit objektiver Geisteswelt. An anderer totale Geschichtlichkeit. +) Auch heute, nicht „weltlos“! 30 [18] Stelle dieser Welt wäre ich ein anderer geworden. – Schlagendstes Beispiel: die Existenzphilosophie selbst, die geworden ist in Begegnung und Durchdringung denkender Individuen mit dem Erfahrungsgehen einer gegenwärtigen Welt und mit dem aus den Jahrtausenden kom- menden Erbe unseres Kulturkreises, von Hiob und Augustin, Luther, Pascal, bis Kierkegaard. Nur in Durchdringung mit diesen Objektivitäten konnten diese Denker zu ihrem „eigensten Seinkönnen“ durchdringen – (Das ist mehr als Heideggers „Wiederholung“) Jaspers neue Stellung zur Geschichte! Zum zweiten. Die Erhebung wider den Ide- alismus führt zu einer einseitigen Überbe- tonung der negativen und einer Entwer- tung der positiven Inhalte und Erfahrun- gen des menschl. Lebens. Das war begreif- lich unter Voraussetzung der christl. Glau- bensgewissheiten, aus denen Kierkg. dachte (Süne, Gnade, Erlösung) Aber diese christl. Accentuierung darf nicht einfach in die Philosophie übernommen werden, die das Ganze des menschlichen Daseins aus sich selbst deuten will. Sie muss sehen, dass die Grunderfahrungen, in denen der Menschdas Wesen seines Selbstseins erfährt, zwar sicherlich auch, aber nicht nur von ne- gativer Art sind. Ambivalenz des menschl. Lebens. Zwiegesichtigkeit. Man sei nicht so blind gegen die Aufschwünge. Erhebungen 31 zu S. 17. Auch heute, in der Auflösung der „substan- tiellen“ Gehalte, im Zeitalter des Mai, kann das Ich nur Selbst werden in der Einung mit dem trotz allem nicht verschwundenen „objek- tiven Geist“. Neben dem „Apparat“ des Mas- sendaseins stehen noch immer sachliche Gehalte wie Sprache, Wissenschaft, Glaubensin- halte, politische Wirklichkeit usw. Nur an und mit ihnen kann ich werden. Es gibt nicht die totale „Bodenlosigkeit“, das reine „Nichts“. Die „Einsamkeit“ des Selbst ist nicht Abtren- nung von der Geschichte. Sie wird nur in Gegen- stellung gegen und damit in Abhängigkeit von der Geschichte. Es gibt nicht im „Innern“ einen geschichtsfreien Raum („intime Person“) 32 zu S. 18: Jaspers neue Stellung zur Geschichte: Vom Ursprung u. Ziel der Geschichte. Mün- chen 1949. Allerdings: S. 339 „Für das transszendierende Bewusst- sein verschwindet (!) die Geschichte in der ewigen Gegenwart.“ Vorher: „Die Geschichte ist umgriffen (!) von dem weiteren Horizont, in dem die Gegenwärtigkeit als Stätte, Be- währung, Entscheidung, Erfüllung gilt“. Aber diesen Horizont ist eben der Hori- zont der Geschichte! S. 301. „Das geschichtliche Sein zeigt sich nur (!) in der Geschichtlichkeit der Liebe eines Individuums zu einen Individuum“. „Liebende Anschauung“. Das ist eine unerträgliche Verengung des Zugangs zur Geschichte! 33 [19] des menschl. Daseins! „Grenzsituation“ im Sinne der „Existenzerhellung“ kann auch sein: Liebe die Hingabe an die Gemeinschaft und das schöpferische Erlebnis des Werkschaffens. Die „Inspiration“ der göttliche Wahnsinn des Schaf- fenden, der Schwung der erfolgreichen Lösung wesentliche Daseinsaufgaben – sind sie nicht „Chiffre des Untergehens.“ ebenso Grenzerfahrungen wie das „Scheitern“? Man könnte auf Grund der Ex. Ph. gerade – zu zu der Meinung kommen, dass nur das Scheitern im Interesse des Selbstsein zu be- grüssen sei, das Gegenteil den Verlust des Selbst bedeute. Man könnte den Ex. Philo- sophen selbst fragen: ist denn für dich die Vollendung deines Werks, die in ihn geschehen- de Erhellung der Existenz mit ihren Abgründen, die Erleuchtung des Scheiterns – ist sie nicht auch ein Erlebnis von letzter leuchtender Kraft? Oder ist deine Theorie vom Scheitern auch selber wieder ein Scheitern, in dem du untergehend dein Selbst erfährst? Auch der düstere Beurteiler des menschl. Lebens erlebt diese Entlarvung als ein Positives, Wissen der Grenze ist Aufhebung der Grenze! (Hegel) als eine Genugtuung ein wohl geratenes Werk. Wie würde er sonst so viel Mühe, Scharf- sinn, Zeit darauf verwenden, den Menschen über seine Ungeborgenheit aufzuklären. Selbstsein ist Stehen am Scheidewege, Stehen in Ambivalenz, Bereitschaft zur „Angst“, aber auch zur Schöpfung. Die Angst kennen wir zur 34 [20] Genüge, zur Schöpfung wollen wir uns nicht den Mut nehmen lassen. Ablehnung eines philosophischen Defaitismus Mistrabilismus, der im Gegensatz zum christlichen keinen Trost, keine Ausweg in die „Gnade“ zu zeigen weiss – Ablehnung im Interesse auch eine Zeit, die in ihrer rat- und Ziellosigkeit nach einer philosophischen Erhellung wie wenige andere verlangt. Nachweis der „Nichtigkeit“ ist nicht selbst wieder richtig. Nachweis der Grenze ist Grenz- aufhebung. Nachweis des Scheiterns ist nicht selber Scheitern. Heidegger: Moderne Wissenschaft und moderner Staat als Folgeerscheinung der Technik. Die „Welt- macht“. 35 Jasper. „Der moderne Forscher muss scheitern“. So xx Max Weber. „In seiner Forschung brach- te er ein Werk hervor, das doch Fragment blieb; nicht aus Mangel an Kraft, sondern wegen der Wahrheit im Einhalten der Aufgabe: er fühlte sich gerade darum in seinem gren- zenlosen Wissen scheitern, weil es der Sinn des Wissens ist, an Grenzen zu scheitern, um tieferer Wahrheit den Raum im Tun und Sein freizugeben. Er suchte den Punkt, wo das Scheitern das Wahre wird. In der Wissenschaft ist das Wesen die Unvollend- barkeit.“ 1. Frage: ist Unvollendbarkeit = Scheitern? 2. Frage: nimmt Jaspers auch von sich selbst, der er der Anwalt „des Wahren“ ist, an, dass er „scheitert“? dann ist seine Lehre vom „Scheitern“ desavoniert.