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undatiert (ca. 1961)
Titelseite
Die deutsche Universität im Angesicht ihrer Überlieferung
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Die deutsche Universität gehört zu den
wenigen Institutionen unseres Lebens, die
die mancherlei Katastrophen der deutschen
Geschichte ohne tiefere, durch Gewalt bewirkte
Einbrüche überstanden haben und die sich
daher Trägerinnen einer die Jahrhunderte
übergreifenden Überlieferung fühlen dürfen.
Kein Wunder also, dass ihnen ein ausgespro-
chen konservativer Charakter eignen und dass
sie an die Aufgabe einer etwaigen Um- und
Neugestaltung nur mit Zögern und mit man-
cherlei Bedenken herantreten. Das ist selbst
dann der Fall, wenn Umwälzungen von wahr-
haft grundstürzender Art das allgemeine Le-
ben in eine völlig veränderte Gestalt übergeführt
haben und damit die Frage unumgehbar ge-
macht haben, ob und wie weit etwa auch die
Hochschule an dem geschehenden Gestaltwandel
teilhaben müsse.
Wenn die Universität auf ihre eigene Ver-
gangenheit zurückblickt, dann kann es ihr nicht
entgehen, dass sie im Laufe der rund 6 Jahr-
hunderte, über die ihr bisheriger Lebensgang
sich erstreckt, Wandlungen durchgemacht
hat, die nicht durch Eingriffe äusserer Gewal-
ten, sondern durch Veränderungen der allge-
meinen Geisteslage herbeigeführt worden sind.
Unter diesen Wandlungen ist die am tiefsten
einschneidende ohne Frage diejenige, die an
2
die Stelle der im christlichen Glauben wur-
zelnde Sinngebung der hohen Schule der
Geist der „autonomen“, d.h. der von der Herr-
schaft des Glaubens sich emanzipierenden
Wissensch. trat. Es war eine Loslösung, die
schon durch die Bewegungen der Renaissance
und des Humanismus eingeleitet wurde,
die durch das erneute Aufflammen religiö-
ser Leidenschaften zurückgedrängt wurde,
die dann aber mit dem Jahrhundert der
Aufklärung zu einem nicht aufzuhalten-
den Siegeszug einsetzte. Es ist zuletzt noch
der Geist dieser autonomen Wissenschaft, der
der Universität bis heute ihr Gepräge gibt.
Nun lässt freilich der Begriff „autonome
Wissenschaft“ eine Vielzahlt von Ausfüllungen
offen, die sich z.T. aufs heftigste befehden.
Gerade in dem die Wissenschaft sich aus der
Vormundschaft des Glaubens löst, indem
sie also die durch den Glauben gegebene
Einheit und Eindeutigkeit der Interpretation
aufgibt, findet sie sich der Frage gegenüber-
gestellt, wie sie nunmehr sich selbst, ihre
ideellen Grundlagen, ihren inneren Zusam-
menhang, ihre Lebensbestimmung zu verste-
hen habe. Und gerade unsere Gegenwart
macht schlagend offenbar, wie zahlreich und
wie gegensatzreich die Antworten sind, die auf
3
diese Frage gegeben werden können. Ein Phä-
nomen wie der Kommunismus ist nicht zum
wenigsten deshalb von so tieferregender Art,
weil zu seiner ideellen Grundlegung eine
„Theorie u. Praxis“
ganz bestimmte, nicht nur theoretisch ent-
wickelte sondern auch praktisch durchgeführte
Bestimmung der der Wissenschaft im Verhältnis
zum Leben obliegenden Verpflichtung und Auf-
gabe gehört. Schon das Auftreten und die erfolg-
reiche Selbstdurchsetzung dieser Doktrin
würde
müsste, genügen, um der Frage nach Wesen
und Lebensfunktion der Wissenschaft, und
damit auch der wissenschaftlichen Hochschule,
die höchste Aktualität zu verleihen.
Wenn unsere deutsche Hochschule, ange-
sichts dieser vitalen Bedrohung es versucht, ihr
Eigenwesen und ihre aus ihm sich ergebende
Lebensbestimmung zu fixieren, dann hält
sie sich erfahrungsgemäss weit aus in erster
Linie an diejenige Deutung, die ihr im Zeital-
ter unserer Klassik durch Denker wie Fichte,
Schleiermacher, Steffens und vor allem durch
W. v. Humboldt widerfahren ist +) – wobei sie
sich freilich nicht verhehlt, wie sehr sich
durch die Entwicklung, die die Wissenschaft
seit jenem Zeitalter genommen hat, die Ver-
wirklichung damals aufgestellter Ideale
erschwert worden ist.
Ich versuche, die wesentlichen und noch heute
+) Universität Berlin! 1809.
4
als gültig anerkannten Grundzüge des genann-
ten Ideals knapp zusammenefassen.
Göttlichkeit der „reinen“ <....>. Platon u. Aristoteles.
An der Spitze steht die Idee v. der Einheit
alles Wissens.Alles besondere Wissen ist in
dieser Einheit befasst und hat nur als ihr
Glied seine Geltung. Die Krönung dieser Ein-
heit wird gebildet durch die alles Besondere
überschauende Philosophie.
Nur das sich so zur Einheit zusammen-
fassende Wissen kann zum Leben zur
Klarheit über sich selbst und zur Vollen-
dung seiner selbst verhelfen.
Nur das sich so zur Einheit zusammen-
fassende Wissen kann insbesondere dem
Menschen in jener Hebung und Rundung
seines Wesens beistehen, die wir als „Bildung“
bezeichnen. Vereinigung der Wissenschaft – mit
der Humanitätsidee
Alle diese Segenswirkungen gehen dem
Wissen verloren, wenn es sich vereinzelt, d.
h. in Sonderbezirke auseinanderfällt. Dieser
Zerfall muss ganz besonders dann ein-
treten, wenn das Wissen nicht um seiner selbst,
um seiner „Wahrheit“ willen, sondern um sei-
ner Nutzbarkeit willen gesucht wird. Utilitäts-
streben und Horizontverengung gehen Hand
in Hand. Denn nutzbares Wissen ist immer ein
auf dem besonderen nutzbaren Gegenstand ge-
richtetes Wissen. Durch diese Horizontverengung
muss das Wissen, statt dass es das Leben klärte,
es als Ganzes zum Verschwinden bringen – muss es,
5
statt dass es den Menschen als ganzen bildete,
den auf eine Spezialleistung hin geschulten
Funktionär hervorbringen. Aus einer Helfe-
rin des Lebens wird die Wissenschaft zu einer
seine Ganzheit verstümmelnden Gegenmacht.
Deshalb: „reine“ Wissenschaft!
Es braucht nicht ausgeführt zu werden,
wie sehr der Wissenschaft durch ihre unauf-
haltsam fortschreitende Auffächerung das Fest-
halten an der Einheit des Wissens erschwert worden ist,
wie sehr ihre steigenden Bean-
spruchung durch das Leben ihr das Verharren
in der utilitätsfremden erschwert
hat und erschwert. Ebenso wenig braucht der
Gegenmassnahmen gedacht zu werden, die sie
eingesetzt hat, um auch unter den erschwerenden
Bedingungen an dem klassischen Wissenschafts-
ideal festhalten zu können (studium genera-
le usw.) Wesentlicher für uns ist die Frage, ob
das klassische Ideal der Wissenschaft und der
wissenschaftlichen Hochschule von einer so ab-
soluten Gültigkeit ist, dass es auch den Wand-
lungen der Wissenschaft und des allgemeinen
Lebens gegenüber standhält. In dieser Hin-
sicht ist, wie mir scheint, Folgendes zu sa-
gen.
Wenn nach der Einheit der Wissenschaft die
Frage ist, dann kann, wie mir scheint, zwei-
erlei nicht scharf genug unterschieden wer-
den, was in den zeitüblichen Erörterungen viel-
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fach ineinander verfliesst. Auf der einen Seite
steht die Einheit der Wissenschaft als ein ideelles
Gefüge von logisch – methodischen Relatio-
nen, durch welche die besondern Wissenschafts-
gruppen, Disziplinen und Teildisziplinen
zusammengehalten werden, also: das „System“
der Wissenschaften. Auf der anderen Seite steht
die Fähigkeit und Willigkeit der die Wissen-
schaft betreibenden Menschen, sich von dem
Bestehen dieser Einheit Rechenschaft zu geben
und sie sich im Fortschreiten den wissenschaftl.
Forschung im Bewusstsein zu halten.
Was das Zweite angeht, so wissen wir alle,
wie sehr es dem wissenschaftl. forschenden Men-
schen durch die Ausbreitung und die spezialisie-
rende Aufteilung der wissenschaftl. Arbeit er-
schwert wird, sich die Einheit der Wissenschaft
in überzeugender Weise zu vergegenwärtigen. Nur
zu leicht widerfährt es ihm, dass er im Betrieb
seiner Sonderwissenschaft auf – und untergeht.
Aber von allen in dieser Hinsicht zu konstatieren-
den Schwankungen und Abstufungen wird die ideelle
Einheit der Wissenschaft so wenig berührt, wie
die Logik durch die Variationen des faktischen
Denkens berührt wird. Diese Einheit hat in sich
ihren Bestand und fragt nicht darnach, ob
sie gesehen, übersehen oder geleugnet wird.
Von jeder wissenschaftl. Einzeldisziplin lässt sich
zeigen, dass und wie sie seit dem Systemzusam-
7
u. einordnen muss, um gültig zu sein!
menhang der Wissenschaft einordnet. Es gibt
kein vereinzeltes Wissen, das aus sich allein
seine Geltung bezöge.
Entscheidende Probe auf diese These: das
vielerörterte Verhältnis von Natur- und Gei-
steswissenschaft. Die Sinnlosigkeit aller Ver-
suche, sie zu uniformieren (etwa im An-
schluss an die Atomphysik!) +) Siehe: der Sach-
gehalt der Naturwissenschaft und das Ins-
gesamt der geistigen Akte, durch die er pro-
duziert wird. „Geschichte der Naturwissen-
schaft“ zeigt sowohl Verschiedenheit als auch
funktionellen Zusammenhang beider Wis-
senschaftsgruppen. Zweites Beispiel: der Zu-
sammenhang der sog. „dogmatischen“ Wis-
senschaften (Theologie, Jurisprudenz) mit den-
jenigen nicht-dogmatischen Geisteswissen-
schaft, durch welche ihr dogmatischer Cha-
rakter aufgezeigt und als berechtigt bzw.
notwendig erwiesen wird. Nirgendwo klafft
Beziehungslosigkeit. „Wissenschaftstheorie“ als
universale Rechenschaftsablage über dies System.
Warum trotzdem das Versagen des „studi-
um universale“? Es fehlen die Brücken zum
Fachstudium. Das „Universale“ soll äusserlich
beigegeben werden, statt dass es im innern
Gefüge, auch vom Fachstudium her, aufgezeigt
würde.
+) Auch keine nebeneinanderliegende
„Gebiete“ . globus intellectualis
„Seiten“
8
Aber freilich: je konsequenter dieses innere
Gefüge der Wissenschaft durchleuchtet wird,
um so fraglicher wird die andere These der
klassischen Wissenschaftstheorie. Das Ver-
hältnis zwischen der „reinen“ Wissenschaft
und ihrer „Nutzbarkeit“ bedarf erneuter
Durchleuchtung. Und diese Durchleuchtung
ist vor allem gefordert um derjenigen
Wissenschaftsgruppe willen, die am schwer-
sten in den klassischen Wissenschafts- und
Bildungsideal unterzubringen ist. Das ist:
die moderne, die mathematische Naturwissen-
schaft.
Wie schwer sich die klassische Humanitätsidee
mit dieser Wissenschaft abfand, liegt auf der
Hand. Für Goethe war sie der Inbegriff des In-,
ja des Antihumanen. W. v. Humboldt stellte
nicht nur sie, sondern sogar die reine Mathe-
matik weit hinter das durch und durch „hu-
mane“ Stadium der Sprache zurück. Der Geruch
der „Utilität“ haftete ihr an.
Zu ihrer Verteidigung hätte man sagen
können, dass es doch eine „reine“, d.h. eine
nur um der Erkenntnis willen betriebene Wis-
senschaft v. d. Natur gebe, ja man hätte darauf
hinweisen können, dass gearde die grössten
Entdeckungen dieser Wissenschaft von Männern
eingebracht worden sind, in denen nur der
Durst nach Wahrheitsergründung motivie-
rent wirkte. Allein diese auf die historisch-
9
Motivationen
psychologischen Voraussetzungen bezügliche
Feststellung ändert nichts daran, dass in die-
ser Wissenschaft zwischen Wahrheitserkundung
und Nutzbarmachung ein ganz besonderes
und höchst folgenreiches Verhältnis besteht.
Die Nutzbarmachung erreicht, wie wir wis-
sen, ihre Perfektion in der Technik. Nun pflegt
man das Verhältnis zwischen Naturwissen-
schaft und Technik meist dahin zu bestimmen,
dass durch die Technik die Ergebnisse der
theoret. Forschung „angewandt“ würden. Das
klingt so, als würden <....> die Technik sie
in sich fertigen und abgeschlossenen Resultate
der reinen Theorie hinterher zu Handlungsvor-
schriften umgemünzt. Aber durch diese Vor-
stellung wird der wirkliche Zusammenhang
verfälscht. Die mathem. N.-W. ist nicht be-
trachtende, sondern „experimentierende“ Wis-
senschaft. Mit dem Experiment aber siedelt
sich die Praxis schon in der Wissenschaft sel-
ber an. Das Experiment, mag es auch in rein
theoret. Absicht angestellt sein, ist bereits
potentielle Technik, potentielle Handlungs-
vorschrift, wie umgekehrt die technische
Praxis permanente experimentelle Verifizie-
rung ist. Der Forscher, auch der vom reinen
Wahrheitstrieb beseelte, ja selbst der die prak-
tische Verwertung ablehnende, ist zugleich
Lehrer der Technik., Spender der technischen Anwei-
sungen. Umgekehrt wird der Forscher dadurch
10
dass der Gedanke an mögliche Verwendung
ihn mitbestimmt, womöglich sein ausschliess-
liches Motiv ist, durchaus nicht v. d. Mög-
lichkeit der Wahrheitsfindung ausgeschlossen.
Kurz: das Verhältnis zwischen forschender
Theorie und auswertender Praxis ist von einer
Art, das mit dem klassischen Ideal der
„reinen“, der der Praxis abgekehrten Wissen-
schaft nicht vereinbar ist. Es war aber ein
sehr <...iger> Instinkt, der die Vertreter der
klassischen Humanitätsideale dieser Wissen-
schaft gegenüber in die Abwehrstellung brachten.
Ihre vorbehaltlose Zulassung hätte das klassische
Konzept der Humanität in Verwirrung ge-
bracht.
Wenn aber unsere klass. Denker in dieser
Abwehrstellung verharrten – wäre für uns Heuti-
ge, genauer: wäre für die Universität von
heute das Festhalten dieser Abwehrstellung
überhaupt ernstlich diskutabel, geschweige
denn durchführbar? Die Realität der heuti-
gen Hochschule redet in dieser Hinsicht die
deutlichste Sprache. Naturwissenschaftl. Fa-
kultät, Technische Hochschule: wären sie
aus unserem Leben wegzudenken? Ja wäre
auch nur ihre Bedeutung für das Leben und
speziell für die Bildung ernstlich in Frage
zu stellen? In Wahrheit ist durch die Aufnahme
und die volle Anerkennung dieser Wissenschafts-
gruppe die sie ausschliessende Form der Hu-
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manitätsidee defacto bereits aufgegeben.
Aber da dem so ist, so würde es einen un-
erträglichen Widerspruch bedeuten, wollten
wir weiter an einem Begriff der „Humani-
tät“ festhalten, der in seiner aristokratischen
Exklusivität den erörterten Wissenschaften
und den zugehörigen unterrichtlichen Ver-
anstaltungen den Segen der Humanitäts-
idee verweigern. Es heisst sich unverhohlen
eingestehen, dass in der erörterten Sphäre das
Verhältnis von wissenschaftlicher Theorie und
Lebenspraxis eine Gestalt angenommen hat,
die eine Berichtigung der klassischen Hu-
manitätsidee unerlässlich macht. Die
„reine“ Wissenschaft im klassischen Ver-
stande ist zum Idol der Vergangenheit ge-
worden.
Nachdem uns aber durch die Analyse
der modernen Naturwissenschaft der Blick
für die Zusammenhänge geschärft worden
ist, die der Klassik entgangen sind oder durch
sie falsch interpretiert worden, kann es uns
nicht schwer fallen, ähnlich strukturierte
Verbindungen auch jenseits dieses Sonderbe-
reichs zu entdecken. Und zwar brauchen wir
nicht andere, bisher unerörtert gebliebene
Wissenschaftsbezirke aufzusuchen, um die
damit postulierte Erweiterung vorzunehmen:
12
wir brauchen nur auf unsere einzelnen bisher
entwickelten Gedanken zurückzublicken, , dass die postulierte
Erweiterung in Wahrheit – bereits stattgefun-
den hat. Denn wenn wir die Notwendigkeit
aufzeigten, mit der die naturwissenschaft-
liche Forschung als solche zur Anweisung
für die Praxis, genauer für die Technik wird –
waren die Darlegungen, in denen dieser Nach-
weis erfolgte, selbst wieder naturwissenschaft-
liche Darlegung? Waren sie es in dem
bestimmten Sinne, das sie eine Gabe eben
der Methodik des Denkenswaren, deren Werk
die methodische Naturwissenschaft ist?
Sie waren es nicht. Gegen Die Naturwis-
senschaft hat es rein und ausschliesslich
mit dem Kreis von Gegenständen zu tun,
deren Inbegriff wir „Natur“ nennen. Sie ana-
lysiert die Stoffe und Kräfte, die zusam-
mengenommen den Kontext dieser „Natur“
ausmachen. Stellen wir aber die Frage, was
die Erforschung dieser Objektwelt für die
Lebenspraxis bedeutet, stellen wir fest, dass die
Resultate dieser Theorie als solche auch schon
potentielle Anweisungen für die Praxis sind,
dann sind wir zwar nicht aus dem Gesichts-
kreis der Wissenschaft überhaupt, wohl aber aus
dem Gesichtskreis der Naturwissenschaft
herausgetreten, folglich in den Gesichtskreis einer
13
anderen Wissenschaft hinübergetreten – einer
Wissenschaft, in deren Horizont die Frage „Ver-
hältnis von Theorie und Praxis laut wird. Was
ist das für eine Wissenschaft? Sie ist die Wis-
senschaft von dem Fragt man nach dem Ver-
hältnis von Theorie und Praxis, dann fragt
man in die Dimension hinein, in der beide
sich begegnen, und diese Dimension wird
gebildet durch das Wesen, in dem und durch
welches es allein so etwas wie Theorie und
Praxis gibt. Man fragt nach dem Subjekt der
einen wie der anderen Betätigung, und
dieses Subjekt ist uns einzig bekannt in
Gestalt des Menschen. Man fragt nach
dem Menschen als dem Subjekt geistiger
Betätigungen. Man sieht: das ist keine
naturwissenschaftliche Fragestellung. Sie
kann nicht mit naturwissenschaftlicher
Methodik formuliert, geschweige denn
beantwortet werden. Die Frage und ihre
Antwort ist – „geisteswissenschaftlich“ im
weitesten Sinne des Wortes. Wir selbst haben
uns also, in dem wir nach der Lebensbedeu-
tung der Naturwissenschaft fragten, auf dem
Boden der Geisteswissenschaft bewegt. Und
damit haben wir, wie wir uns in hinterher-
kommender Reflexion überzeugen, auch das
funktionale Verhältnis, das zwischen beiden
obwaltete, in der eigenen Denkbewegung
betätigt.
14
Wollen wir aber die Frage, in deren Beleuchtung
wir zunächst die Naturwissenschaft rückten:
die Frage nach dem Verhältnis von Theorie
und Lebenspraxis – wollen wir sie auch an
die Geisteswissenschaft richten, so ist es das
Nächstliegende, das Licht dieser Fragestel-
lung auf das Stück Geisteswissenschaft fallen
zu lassen, das wir in Gestalt unserer eige-
nen Darlegungen bereits zur Hand haben,
nicht aber nach anderen, ferner liegen-
den Leistungen der Geisteswissenschaft wei-
ter zu greifen. Es wird sich zeigen, dass wir
auch bei dieser Beschränkung die gesuchte
Antwort erhalten werden.
Wir fragen uns: war es ein rein theoreti-
sches Interesse, ein blosses Wissen wollen, das
uns veranlasste, zuzusehen, ob es eine
„reine“ Wissenschaft gibt, die gegen die Lebens-
praxis sogleichgültig ist, wie die humanisti-
sche Lehre es von der Wissenschaft als „bilden-
der“ Macht fordert? Weit gefehlt! Wir woll-
ten wissen, ob die Humanitätsidee mit
ihrer dahin gehenden Forderung Recht hat,
und wissen wollten wir dies hier wiederum des-
halb, weil wir im Interesse unseres eigenen,
heutigen Bildungsbemühens Klarheit such-
ten. Unser ganzer Gedankengang entwickelte
sich unter der Herrschaft einer durchaus nicht
rein theoretischen Fragestellung Und der Un-
terschied gegenüber der Situation des naturwis-
15
senschaftlichen Denekns ist nur der, dass das letzte-
re „praktisch“ ist ganz unabhängig von einer da-
hingehenden Absicht des Forschenden, während
bei uns die Absicht, in einer praktischen Frage
zur Klarheit zu gelangen, geradezu leitend
war. Ber hier wie dort blieb die Forderung
einer „rein“ theoretischen, d.h. gegen praktische
Anliegen gleichgültigen Wissenschaft uner-
füllt.
Nun fragt es sich: ist die „geisteswis-
senschaftliche“ Überlegung, auf deren Struk-
tur wir uns besonnen haben, ein Sonder-
fall, aus dem keine verallgemeinernden
Schlüsse gezogen werden dürfen – gibt es
also „geisteswissenschaftliche“ Erkenntnisse, die
wirklich „rein“ sind im Sinne der Gleichgül-
tigekit gegen alle praktischen Anliegen?
In dem wir so fragen, zeigt sich: wenn schon
die Naturwissenschaft, sei es mit sei es ohne
dahingehendes Wollen, notwendig zusam-
men mit ihrer Erkenntnis auch Weisungen für
die Lebenspraxis erteilt, so die
Arbeit der Geisteswissenschaft in solchen
Ein-
sichten, die überhaupt nur als Frucht eines
nicht bloss auf theoretische Klärung bestehenden
Strebens verstanden werden können und deren
Bedeutung sich überhaupt erst im Hinblick
auf ihre mehr als theoretischen Wirkungen,
ja erst im Hinblick auf ihre praktischen Un-
16
entbehrlichkeit ermessen lässt. Und zwar ist es
eine überraschend simple Überlegung, die uns
über das Wie und das Warum diese Steigerung
der praktischen Bedeutsamkeit aufklärt.
Als „Natur“ bezeichnen wir das Ganze der ausser-
menschlichen Wirklichkeit. Weil diese Wirk-
lichkeit eine aussermenschliche ist, darum
ist sie das, was sie ist, aus sich und ohne alles
zutun des Menschen. Das gilt besonders in
Hinblick auf das Bemühen, das der Mensch
darauf verwendet, sie zu erkennen und zu
benutzen. Mag dies Bemühen zum Erfolg
führen oder im Misserfolg endigen, die
Natur fragt nicht darnach, denn alles Be-
mühen des Menschen bleibt ihrem äusserlich. Nie kann der Mensch
sie dahin bringen, sich anders zu verhalten,
als sie es von sich aus und ohne Rücksicht
auf ihn tun würde. Wie aber steht es mit
dem Verhältnis des Menschen zu derjenigen
Wirklichkeit, mit der die „Geisteswissenschaft“
zu tun hat? Kann auch von ihr gesagt werden,
das sie gegen das Bemühen, das der Mensch
ihr , gleichgültig sei, dass sie in
ihrem Dass und ihrem Wer nicht nach ihm
frage? Aber davon kann ja deshalb keine Rede
sein, weil diese Wirklichkeit nicht eine ausser-
menschliche, sondern eine menschliche Wirk-
lichkeit ist, d.h. eine Wirklichkeit, die nicht
in ihrem
17
Dass und ihrem Was vorgefunden wird, folglich
nur als das, was sie an sich schon ist, zur Kennt-
nis genommen und verwandt werden kann, son-
dern erst durch das Tun eben des Menschen zu-
stande kommt, der an ihr einen Gegenstand
der Erkenntnis hat. Anders als im Verhältnis
zur aussermenschlichen Natur, ist hier das Subjekt
der Erkenntnis identisch mit dem Subjekt der
Tätigkeit, durch welche die den Erkenntnis-
gegenstand bildende Wirklichkeit überhaupt
erst wirklich wird.
Nun könnte man versuchen, auch in der so
abgewandelten Situation die Absonderung des „rei-
nen“ Denkens in der Form aufrecht zu erhalten, dass
man scharf unterscheide zwischen dem Tun,
das diese Wirklichkeit schafft, und dem Denken,
das dieses Tun und seinen Früchten den
Gegenstand seines Erkenntnisbemühens hat.
Man könnte sogar diese beiden Funktionen
auf getrennte Menschen verteilt und so die Schei-
dung erst recht durchgeführt denken. Aber in
Wahrheit verhält es sich so, dass die in Rede
stehende menschliche Wirklichkeit nicht ent-
stehen und bestehen würde, wenn nicht das sie
aufbauende und erhaltende menschliche Tun
von der Erkenntnis erleuchtet und geleitet würde.
Ohne sie wäre es ein blindes und entsprechend wirk-
kungsloses Lostappen. Erst durch sie wird es ein einsichtiges
Verhalten. Das Gesagt ist am evidentesten angesichts
18
von menschlichen Schöpfungen wie Staat, Recht,
Gesellschaft, Wirtschaft, Erziehung. Wie sollten
die einschlägigen Tätigkeiten und Institutionen
sein können ohne die Erkenntnis der Bedingungen,
unter denen diese Tätigkeiten auszuüben sind
und denen diese Institutionen angemessen sein
müssen. Aber der gleiche Zusammenhang be-
menschlicher Wirk-
steht auch angesichts solcher Erkenntnisbemes-
lichkeiten
sungen, an denen sich die Beteiligung des er-
kennenden Denkens weniger leicht ablesen lässt.
Etwa das einsame Seelenleben des einzelnen
Menschen. Auch von ihm ist zu sagen, dass es
nicht nur ein möglichen Gegenstand der Erkennt-
nis ist, sondern dass diese Erkenntnis ein integrie-
rendes Moment seiner Wirklichkeit ist. Der
Mensch ist das auf sich selbst reflektierende Le-
bewesen, und diese Reflexion ist nicht die Be-
lichtung eines gegen sie gleichgültigen Sachver-
halts, sondern ein tätiges Mitwirken an der Aus-
gestaltung dieses Sachverhalts. Oder denken wir
an jene Betätigung des Erkennens, die wir die ge-
schichtliche Erinnerung nennen. Ist sie nicht
lediglich die Belichtung einer Vergangenheit, der
diese Belichtung schon deshalb nichts anhaben
kann, weil sie vergangen, d.h. erledigt und un-
abänderlich festgelegt ist. 2 Gewiss vermag sie das
Faktische an dieser Vergangenheit nicht abzuän-
dern. Aber darum bleibt es doch dabei, dass durch
die „Vergegenwärtigung“ dieser Vergangenheit das Bild,
in dem sie sich darstellt, und die , die ihr
19
widerfährt, mit ihnen zusammen aber auch der
Mensch oder der Verband, der diese Vergegenwärti-
gung vornimmt, charakteristische Abwandlungen
erleidet. Auch hier steht die Erkenntnis nicht
in der Haltung des bloss Betrachtenden abseits.
Sie greift in den Prozess ein, der von der Vergangen-
heit her durch die Gegenwart hindurch in die
Zukunft fortschreitet.
Es bleibt also dabei: mit dem Übertritt auf
den Boden der „Geisteswissenschaft“ ist der Zu-
sammenhang zwischen Theorie und Lebens-
praxis nicht nur erhalten geblieben: er
hat sich in eben dem Masse gestärkt und be-
festigt, wie der Mensch die Wirklichkeit seines
eigenen Daseins nicht bloss zur Kenntnis nimmt
sondern selbsttätig aufbaut – und wie er bei
diesem Aufbau auf die ständige Mitwir-
kung der Erkenntnis angewiesen ist. Erst jetzt
sehen wir so recht, was zuletzt die unterscheiden-
de Eigenart jeglicher Geisteswissenschaft
ausmacht. Sie ist nichts anderes als die me-
thodische Vollendung und Abrundung der
erkennenden Tätigkeit, die bei der gesamten Ent-
stehung, Ausbildung und Umformung der mensch-
lichen Gesamtwirklichkeit ohne Unterlass im
Spiele ist. Mag es auch manchmal so aussehen,
als ob die erkennende Tätigkeit der Geisteswissen-
schaft sich mit Gegenständen abgäbe, die von dem
20
diese Tätigkeit Ausübenden ähnlich so abge-
trennt wäre wie die Objekte der aussermenschlichen
Natur: in Wahrheit ist alles geisteswissenschaftliche
Bemühen, auch wenn es sich mit dem zeitlich
und räumlich Fernsten abgibt, ein Beitrag
zu der unendlichen Arbeit, durch die unser Ge-
schlecht sich selbst nicht bloss zu verstehen,
sondern auch zu gestalten unaufhörlich am Werke
ist. Nirgendwo gibt es die Absonderung eines
„reinen“, d. i. sich von der Wirklichkeit distan-
zierenden Erkennens. Nirgendwo gibt es die Reserve
des reinen Zuschauers. Damit ist natürlich
nicht gesagt, dass es vom Streben nach wissen-
schaftlicher „Objektivität“ Abschied nehmen heisse.
Im Gegenteil wird gesagt werden dürfen, dass das
erkennende Denken gerade dann am wirksamsten
in die Wirklichkeit des menschlichen Daseins ein-
greift, wenn es sich (im Sinne der Erhebung über
subjektive Vor-urteile) dem Ideal der objekti-
ven Betrachtung am meisten annähert.
So ist der Zusammenhang geartet ge-
wesen, seitdem es überhaupt eine Natur-
wissenschaft und eine Geisteswissenschaft
gibt. Nun aber haben wir uns klar zu
machen, dass die aufgezeigte Verknüpfung
von Theorie und Lebenspraxis in der gegen-
wärtigen Welt einen Grad und eine Dring-
lichkeit erreicht hat, denen die Vergangen-
20
heit nichts Vergleichbares zur Seite zu
stellen hat. Das gilt von der einen wie von der
anderen Wissenschaftsgruppe. Auf der einen
Seite: die Bedeutung der Naturwissenschaft
(= Technik) für die Gestaltung unseres Da-
seins. Auf der anderen Seite: die Bedeutung der
Geisteswissenschaft (Staat, Recht, Gesellschaft, Wirt-
schaft, Seele, Geschichte) für die Ordnung und
Führung unseres Daseins. In einem unauf-
haltsam fortschreitenden Prozess steigert
sich der Anteil der wissenschaftlichen Erkennt-
nis am Zustandekommen der für unser
Dasein massgebenden Entschliessungen im
Grossen wie im Kleinen.
Mit der Anerkennung dieser Lebensfunktion
wird aber zugleich auch die immer weiter gehen-
de spezialistische Auffächerung der Wissen-
schaft jeder grundsätzlichen Anfechtung
entrückt. Denn dem Leben durch erleuchtende
Aufschlüsse zu dienen und vorwärtszuhelfen
ist die Wissenschaft nur dann im Stande, wenn
sie die spezialisierende Besonderung, sofern sie
durch die Sache gefordert ist, ohne Zögern und
Vorbehalt auf sich nimmt, ja durch ihre ei-
gene Arbeit vorwärts treibt. Jeder Versuch, diese
Zerfächerung im Namen der „Humanität“ zu
hemmen, wo nicht rückgängig zu machen, wäre
nicht nur eine Schädigung der Wissenschaft
Stilllegung
22
sondern auch ein Angriff auf die Integrität des
Lebens. Wir haben keine Wahl.
Es ist also von der gegenwärtige Lage der
Wissenschaft und der wissenschaftlichen Hoch-
schule zu sagen, das durch sie die von der
Humanitätsidee inspirierte Bestimmung der
„reinen“ Wissenschaft und der nur von ihr
zu erhoffenden „Bildungs“wirkung empfind-
lich in Frage gestellt wird. Theorie und Le-
benspraxis rücken, entgegen dem klassischen
Postulat, immer enger zusammen und
im Masse dieses Zusammenrückens erweist
sich auch die spezialistische Auffächerung
als unaufhebbar, ja als bejahungs- und för-
derungswürdig.
Allerdings ist man weithin, sowohl im
Bereich der höheren Schule als auch im Bereich
der Hochschule, ferne davon, sich diesen Sach-
verhalt einzugestehen. Im Gegenteil: man
meint angesichts der dargestellten Erschei-
nungen erst recht an der Humani-
tätsidee festhalten zu sollen. Siehe am be-
liebten Begriff des „Gegengewichts“. Die wissen-
schaftl. Hochschule wird zum Refugium
der Humanität inmitten einer humanitäts-
feindlichen Umwelt. Aber damit kommt
in unser Leben u. auch in unser Universitätsle-
23
ben ein Zug von beschämender Unwahrhaf-
tigkeit. Man treibt de facto die Wissenschaft
genau so, wie der Fortgang dieser Wissenschaft
und des Lebens es fordert, tut aber vor sich und
den anderen so, als ob man immer noch im
Humboldtischen Sinne der Einheit des selbst-
genügsamen Wissens diene. Es ist Zeit, dass
mit dieser Unwahrhaftigkeit Schluss gemacht
wird. Was wäre das für eine Wissenschaft, die
den für sie konstitutiven Wahrheitssinn in dem
Augenblickverabschieden wollte, da ihr eigenes
Wesen und ihre eigene Lebensfunktion zur Dis-
kusion gestellt würde! Unter den Aufgaben
der Wissenschaft steht die Reflexion auf sich
selbst, die Reflexion auf ihr inneres Gefüge und
auf ihr Verhältnis zum Leben, in vorderster
Linie. Was ich im Vorausgegangenen dargelegt
habe, das ist nichts Anderes als der Versuch einer
solchen Selbstklärung und Selbsteinordnung.
Wird aber das Unternehmen einer solchen
Selbsterhellung mit der gebotenen Folgerichtigkeit
durchgeführt, dann sehen wir auch noch eine
weitere Überzeugung der humanistischen Wis-
senschaftsinterpretation in nichts zergehen.
Diese Interpretation war gewiss, dass die im rechten
Sinne betriebene Wissenschaft den Menschen
mit jener Seeligkeit beschenken müsse, die
24
das „reine“, das von niederer Zweckhaftigkeit
gelöste Schauen dem Menschen beschere. Ein
Zustand olympischer Überlegenheit. Die Wis-
senschaft versteht den Menschen in dem Zu-
stand der „Harmonie“ mitder seiner Schau
erschlossenen Welt. Wie sollte es auch an-
der sein, da doch in dieser reinen Schau alle
Begehrungen verstummen, die den Menschen
an diese Welt biden! Die Seeligkeit der
reinen „<....>“. Die griechische Auffassung der
wissenschaftl. Seelenhaltung! Bei Wilhelm
v. Humboldt finden wir am offenherzigsten die
Voraussetzungen ausgesprochen, die im Hinter-
grunde dieser harmonisierenden Wissenschafts-
auffassung liegen. Er gesteht, es sei ihm in
seinem Bildungsstreben stets darum zu tun ge-
wesen, die Welt „in sein Eigentun“ ja in seine
Einsamkeit zu verwandeln. Damit ist auch
der Grundgedanke der humanistischen Wis-
senschaftsinterpretation ausgesprochen. Auch
und gerade im Vollzug der „reinen“ Wissen-
schaft ist der Mensch <....>, die Welt „in sein
Eigentum zu verwandeln“.
Allein in diesem Gedanken ist ein Rich-
tiges und ein Falsches ineinanderge-
schlungen. Dass der Mensch durch wissenschaft-
liche Forschung die Welt „in sein Eigentum ver-
wandlet“, das trifft insofern zu, als sie ihm im
25
Fortgang der Forschung zunehmend durch-
sichtig wird und er auch entsprechend
besser mit ihr fertig wird. Mensch und
Welt rücken gleichsam enger zusammen.
Nicht aber darf der fragliche Satz so ver-
standen werden, als ob der Mensch sich
in dem fraglichen Geschehen die Welt so
aneignete, dass sie sich seinem Bedrän-
gen und Verfügen wie ein widerstands-
los duldendes Material unterwürfe. Nur
zu leicht ist gerade der Verkünder der
Humanitätsidee versucht, die Welt als
einen Nährstoff anzusehen, den das
Subjekt im Prozess der Bildung sich
anverwandle, sich einverleibe. Wäre
es so, dann wäre allerdings die erken-
nende Aneignung der Welt eitel Harmo-
nie, eine Seeligkeit. Das sie das aber nicht
ist, das zu erkennen genügt schon der
Rückblick auf das von uns Dargelegte.
Hadelte es sich wirklich um einen
Vorzug der Assimilation, dann käme
das Fortschreiten der Wissenschaft der
Vervollkommnung des Assimilationsvor-
gangs gleich. Aber dann wäre es auch
vollkommen unbegreiflich, dass sich zwi-
schen der sich immer weiter spezialisie-
renden Wissenschaft einerseits und dem
Bildungsbedürfnis des Menschen anderer-
26
seits sich jene Unstimmigkeiten auftun
konnten, auf denen die Gegenwartsproble-
matik der Wissenschaft u. der Hochschule
beruht. Umgekehrt müsste die Einstim-
migkeit um so vollkommener werden,
je mehr die Wissenschaft durch Ausbau
ihrer selbst sich die Welt zum „Eigentum“
machte.
Dabei handelt es sich bei dem Betrachte-
ten um eine, aber keineswegs um die ein-
zige der Unstimmigkeiten, die die wissen-
schaftliche Ergründung der Welt aufkom-
men lässt. Dass es sich hier um eine höchst
prinzipiell begründete Konfliktsituation
handelt, lehrt am schnellsten der Vergleich
mit der Daseinsform des Tiers. Hier herrscht
in der Tat vollkommene Harmonie, und zwar
sowohl des Tiers in sich auch des Verhältnisses
von Tier und Welt. Tier und „Umwelt“ verhal-
ten sich zueinander wie Gusskern und Gussman-
tel. Bedingung dieser doppelten Harmonie: das
Tier am Gängelband der Natur, von Instinkten
geleitet. Das bedeutet: Verzicht auf Freiheit
und doppelte Harmonie sind zwei Seiten des-
selben Sachverhalt. Beim Menschen umge-
kehrt: dass er das „Freigelassene der Schöpfung“ ist,
involviert den Verzicht auf selbsttätig sich her-
stellende Harmonie. Dass er sich zur Welt als
denkend Erkennender, zuhöchst wissenschaftlicher Er-
27
kennender verhält, ist eine der wesentlichsten Äusse-
rungen jener Freiheit, die dem Ausschluss der
Harmonie gleichkommt. An die Stelle der Tier-
Welt-Harmonie tritt die „Auseinder-set-
zung“ mit der Welt, die in der die Welt objek-
tivierenden Wissenschaft ihre vollendete Form
erreicht. In dieser Auseinandersetzung ist
die Welt Gegenpartei, ist sie der Partner, der sich
nicht in das „Eigentum“ der Gegenseite verwan-
deln lässt, sondern auf sich besteht und in
seiner Eigenständigkeit respektiert sein will.
In der durch die Welt geforderten fortschreiten-
den Spezialisierung der Wissenschaft haben wir
von der Eigenständigkeit und Widerständigkeit
der Welt eine überzeugende Probe: der erkennende
Mensch muss sich ihr fügen, obwohl seine Bil-
dung als „“ durch sie in Schwierigkeiten
.
Dabei ist die Schwierigkeit, an der wir uns
die mit dem Erkennen verbundenen Verwick-
lungen verdeutlicht haben, noch von einer rela-
tiv harmlosen Art. Sie ist es aus dem Grunde,
weil wir es hier noch mit dem normal und <...
.... .....> Erkenntnisprozess zu tun ha-
ben. Hier ist noch alles „in Ordnung“. Aber der
Mensch, als das „freie“ Wesen, ist auch, was sein
denkend-erkennendes Bemühen angeht, Mög-
lichkeiten des Abgleitens und der Entartung
ausgesetzt, deren Bedeutung wiederum gerade
28
durch den Vergleich mit der Situation des
Tiers ins hellste Licht gerückt wird. Das durch
den Instinkt gegängelte Tier hat so
die Möglichkeit das „Wahre“ zu treffen, wie es
zu verfehlen. Denn immer fehlt die Freiheit, die
Voraussetzung des Denkens ist. Der Mensch
aber als das freie Wesen, der deshalb auch
das des Denkens fähige Wesen ist, hat zu-
sammen mit der MÖglichkeit, das Wah-
re zu treffen, auch die Möglichkeit, das Wahre
zu verfehlen, d.h. die Möglichkeit des
Irrtums. Dies die Ambivalenz der Freiheit,
wie sie sich auf dem Boden des erkennenden
Denekns offenbart. Die Möglichkeit des
Irrtums ist nicht eine solche, die weg-
gedacht oder weggewünscht werden könn-
te. Ein Denekn, das nicht der Möglichkeiten
oder der Verlockung des Irrtums ausge-
setzt wäre, würde auch nicht ein der
Wahrheitsfindung fähiges Denken sein.
Wie oft zeigt sich, dass die Wahrheit über-
haupt nur auf dem Wege über den Trrum
ergründet werden konnte.
Nun wäre diese Möglichkeit des Irrtums
zwar nicht gleichgültig, wohl aber relativ
harmlos, wenn der Irrtum nur ein
Irrtum des Betrachters wäre. Denn dann würde
er nicht in die Wirklichkeit eingreifen, sondern
29
nur die Seele des Betrachters verwirren.
Nun aber haben wir von der Notwendigkeit
des Zusammenhangs gehört, der die Theorie
mit der Lebenspraxis verbindet. Folglich
kann es nicht ausbleiben, dass der Irr-
tum Wirkungen hat, die in die Wirklich-
keit eingreifen. Aber hier zeigt sich nun ein
tief eingreifender Unterschied zwischen der
Wissenschaft vom Aussermenschlichen und
der Wissenschaft vom Menschlichen. Die Wirklich-
keit, in die der Irrtum des naturwiss.-exakten
Forschers eingreift, ist die Wirklichkeit des
Experiments. Und dieses praktische Wirken
besteht im Ausbleiben der Verifikation, und
das heisst: in der Aufdeckung des Irrtums,
begangen war.
der mit der Aufstellung der Hypothese. Also:
sofortige Aufdeckung des Irrtums durch ein
Geschehen in einem vollkommen werlossen,
beliebig ersetzbaren Material. Die harmlo-
seste Sache von der Welt! Ganz anders der
Irrtum, der der Wissenschaft vom Menschen
unterläuft, dessen Wirkungen also in die mensch-
liche Wirklichkeit eingreifen. Der „der“ Mensch –
sei es nur ein einzelner Mensch, ein menschlicher
Verband, die Menschheit – ist nicht ein
wertloses, beliebig ersetzbares Material: er ist
ein Einmaliges, Unwiederholbares Eigenwerti-
ges, und deshalb richtet der Irrtum, der dem
30
auf ihn bezüglichen Denker unterläuft, durch
Spät erkennt!
seine praktischen Wirkungen einen Schaden an,
der nie repariert werden kann. Ich greife gleich
zu dem monumentalsten und gleichzeitig
aktuellsten Beispiel: dem Kommunismus.
Bekanntlich leitet der Kommunismus alle von
ihm geschaffenen Institutionen und alle von
ihm vollzogenen Handlungen aus einer Dok-
trin als die nicht nur überhaupt Wissen-
schaft, sondern die einzige, allumfassende,
alleingültige Wissenschaft zu sein behauptet,
ohne Zweifel in weitesten Umfange <.... .....>.
Also ein durch wissenschaftliches Streben wider-
fahrener Irrtum, dessen Wirkungen so tief in
die menschliche Wirklichkeit eingreifen, wie
es noch kein theoretisch vergleichbarer Irrtum
bisher vermocht hat. Ein „Experiment“ am
Leibe der Menschheit, das, wie es auch verlau-
fen möge niemals wiederholt werden kann,
dessen Wirkungen, wie sie sich auch ausgestal-
ten mögen, niemals werden kön-
nen.
Gibt es für die Wahrheit der These,
dass die in der Arbeit der Wissenschaft sich
betätigende Freiheit eine im tiefsten Sinne
„ambivalente“, eine das Leben so gut zur Fratze
verzerrende wie nach seinem Wesen erhellende,
missleitende
eine das Leben so gut verführende wie führen-
de sei, einen unwiderleglichen Beweis als
31
die kommunistische Theorie u. Praxis? An ihr
sehen wir, in welcher Gestalt die fehlgehende Wis-
bona fides?
senschaft vom Geist die verheerendsten Wirkungen
anrichtet. Sie tut es dadurch, dass sie zuhöchst
die Selbstinterpretation des Menschen, seines We-
sens, seiner Lebensbedingungen, seiner Bestimmung
ist. Das Bemühen um Selbstverständnis ist ein
ewiges Attribut des Menschen. Seine metho-
disch vollendete Form erreicht es in der (in wei-
testen Sinne verstandenen) „Geisteswissenschaft“!
Indem aber die Geisteswissenschaft gerade in ihr
prinzipiellen Aufstellungen allen Drohungen
der Ambivalenz ausgesetzt ist, kann sie sich
in fehlgehende Selbstauslegungen verlieren, die durch
ihre praktischen Auswirkungen das Leben verwir-
ren, wo nicht ruinieren. Dabei ist festzuhal-
ten dass wie jede Wissenschaft so auch die Wis-
senschaft vom Geist nur deshalb das Wahre zu
ergründen im Stande ist, weil sie, eine Betäti-
gung der Freiheit, auch in den Irrtum zu verfallen
die Möglichkeit hat, ja ständig versucht ist
(wie viel Ablenken und Trügerisches mischt
sich ein, wenn der Mensch sich selbst zu ver-
stehen bemüht ist!) Der Mensch könnte nicht
sich selbst erkennen, wenn er nicht sich selbst
zu verkennen ständig versuchr wäre. Man darf
also auch nicht sagen: was braucht sich die echte
Wissenschaft um die Pseudo- und Afterwissen-
schaft zu kümmern! Sie muss sich um sie küm-
mern, und zwar nicht nur deshalb, weil sie
ein wahrlich beachtliches menschliches Phäno-
men, sondern weil sie ein solches Phänomen ist,
in dem sie die Entartungsmöglichkeiten ihrer selbst,
in dem sie ihre eigene Labilität in klassischer
Gestalt vor Augen hat. Es genügt nicht nach-
zuweisen, das die kommunistische Anthropo-
logie „falsch“ ist, und ihr die „richtige“ gegen-
überzusteuern. Es heisst auch einsehen, dass es
keine „richtige“ Anthropologie geben würde,
32
wenn nicht der sie entwickelnde Mensch auch
den Versuchungen, die auf eine „falsche“ hin-
drängen, ausgesetzt wäre.
Macht man sich die Unvermeidbarkeit
dieser Ambivalenz klar, dann vergeht die
Vision von der Seeligkeit der weltüberlegenen
<.....>. Kraft ihrer permanenten Weltver-
flochtenheit ist sie ebensogut Versuchung
und Gefährdung wie Erleuchtung und Leitung
des menschlichen Geites. Nur um den Preis
dieser Labilität war die Emanzipation von
der Vormundschaft der Natur feil. Das Tier
ist nur deshalb von Exzessen, die denjenigen
des Menschen vergleichbar wären, vollkom-
men frei, weil es, nicht einen Moment aus
der Führung der Natur entlassen, sich mit
der Welt als Gegenstand auseinander – zu-
setzen nie die Möglichkeit hat und in Versu-
chung kommt. Wenn die Wissenschaft sich zu der
„Reinheit“ entwickelt, als welche man das Durch-
drängen zur Wahrheit bezeichnen kann, dann be-
ruht das nicht auf der Überlegenheit der Stellung
göttergleich
die das Subjekt der <....>, das göttergleiche,
einnimmt, sondern auf dem siegreichen Be-
stehen der Versuchung zum Irrtum, die den
Weg der Forschung umlagern. So schlüpfrig ist
der Boden, den der Mensch betritt, in dem er sich
33
auf die Erschliessung zuhöchst die wissen-
schaftliche Erschließung der Welt und seiner
selbst einlässt.
Dies alles sind , die die humma-
nistische Deutung der „reinen“ Wissenschaft
nicht nur nicht sieht, sondern geradezu aus-
schliesst. Wie ihr Ideal der „harmonische“
Mensch ist, so gilt ihr auch die rechte, die
im humanistischem Geiste betriebene Wis-
senschaft als Beitrag zu dieser Harmonie.
Das das Bemühen um diese Wissenschaft
den Menschen auch in höchst disharmonische
Verwirrungen und Verwicklungen hineinfüh-
ren kann, das ist ein Gedanke, der im Bereich
des humanistischen Denkens nicht aufkom-
men kann.
Und doch ist es gerade dieser Gedanke, der
heute wie kein zweites in das Bewusstsein der
geistig Führenden und zumal der wissenschaftlich
Arbeitenden und wissenschaftlich Auszubilden-
den aufgenommen zu werden verlangt, und
zwar nicht nur um der theoretischen Klarheit
des Selbstverständnisses willen, sondern auch
und gerade im Hinblick auf die geradezu ka-
das
tastrophalen Wirkungen willen, die der Irrtum
Sichselbst
und das Selbst verkennen im Gefolge haben
kann. Will man überhaupt von einem Gemein-
34
bewusstsein derer reden, die an Deutschlands
hohen Schulen lehrend tätig sind, dann wird
man sagen dürfen, dass diesem Gemeinbewusstsein
Erwägungen der ausgeführten Art weltenfern
liegen. Man ignoriert oder verachtet den Kom-
munismus und sieht nicht, dass man in
ihm die monumentale Darstellung einer
Verirrung vor sich hat, in die alles, auch da
eigene, wissenschaftliche Streben verfallen kann.
Damit ist die Abkehr von der humani-
stischen Wissenschaftsidee bezeichnet, die, wie ich meine,
in der gegenwärtigen geistigen Lage geboten
ist. Was nottut ist, mit einem Wort, Wach-
samkeit – Wachsamkeit gegenüber der
Möglichkeit und Versuchung des Abglei-
tens und der Selbstverkehrung, die alles
wissenschaftliche Bemühen überschatten.
V 0035b
1
Dauerhaftigkeit d. Universität. Konservativ.
Trotzdem Gestaltwandel. 6 Jhdte. Umschlag
zur „autonomen“ Wissenschaft.
Mannigfaltige Ausfüllung. Evident in der
Gegenwart. Kommunismus. Frage nach Lebens-
funktion. Festhalten klassischer Deutung.
Die Vorgänger. Erschwerung. Grundzüge:
Einheit des Wissens. Philosophie.
Klarheit des Lebens. Menschliche „Bildung“.
Verloren durch Vereinzelung und Nutzbar-
keit. „Reine“ Wissenschaft!
Schwierigkeit durch Auffächerung. Gegen-
massnahmen. Absolute Geltung?
--------------------------------------------------------
Unterscheide: idelle Einheit, „System“,
und menschl. Umfassungsvermögen.
Erschwerung zugegeben. Idee unberührt.
Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaft,
„dogmatischer“ und vordogmatischer Wissenschaft.
„Geschichte der Naturwissenschaft“.
Versagen des „studium generale“.
Fraglich die These von der „Reinheit“. Sie-
he mathem. N.-W. Goethe u. Humboldt.
Auch die “reine” Naturwissenschaft ist
praktisch Experiment und Technik. Mit
klassischem Ideal unvereinbar. Instinkt.
Abweisung heute undenkbar. Realität.
Widerspruch. Berichtigung nötig.
-------------------------------------------------------
Geschärfter Blick. Jenseits! An unseren
eigenen Gedanken nachzuweisen. Sie wa-
ren nicht Naturwissenschaft. Theorie und
Lebenspraxis. Mensch. „Geistes“-Wissen-
schaft. Nachfolgende Reflexion.
„Rein“ theoretische Reflexion? Kritik der
Klassik im Interesse der Bildungspraxis.
2
Absichtsvoll.
Nur Sonderfall? Verallgemeinerung: Mehr
als theoretische Wirkungen. Unentbehrlich.
Aussermenschliche – menschliche Wirklichkeit.
Gleichgültigkeit jener Angewiesenheit dieser.
Erkennendes und tätiges Subjekt identisch
Aufteilung möglich? Wille und Einsicht.
Staat, Recht usw. Auch einsames Seelenleben.
Reflexion. Geschichte.
Zusammenhang noch enger. Geisteswissen-
schaft als Vollendung. Auch das Fernste.
Wohl aber: „Objektivität“.
-------------------------------------------------------
Maximum in der Gegenwart. Technik –
Gesellschaftswissenschaften. Auffächerung
unausbleiblich. „Humanität“ verstummt.
Nicht eingestanden. „Gegengewicht“.
Unwahrhaftigkeit. Selbstreflexion der Wissenschaft.
-----------------------------------------------------------------
Seligkeit der „reinen“ <....> „Harmonie“
. „In mein Eigentum verwandeln“.
Recht und Unrecht. Nicht: assimilieren!
Rückblick auf das Obige. Fortschritt und Dis-
harmonie.
Relativ harmlos. Konfliktsituation. Vgl. Tier.
Seine doppelte Harmonie. „Freiheit“ = Verzicht
auf Harmonie. „Auseinander-setzung“. Wider-
ständigkeit. Bisher Normalverlauf betrachtet.
Jetzt: Ambivalenz der Freiheit. Vgl. Tier!
Irrtum. Nicht wegwünschen!
Nicht nur Betrachter-Irrtum. Wirkung!
a) Schnelle Korrektur bei Wiederholbarkeit
b) Inkorrigibel im Menschlichen. Zu spät
erkannt. Ambivalenz. Siehe Kommunismus!
Selbstverständnis u. Lebensordnung. Die
„Seligkeit“ verschwindet. „Reinheit“?! Schluss
mit „Harmonie“!
Ins Bewusstsein aufnehmen! Nicht igno-
rieren an den Hochschulen! Wachsamkeit!
V 0035c
Titelblatt
Bremen 1962
1
Vor Jahren: kein Gedanke an Bremer Uni-
versität. Heute: alles auf sie bezogen. Ein
neuer Typus von Universität! Denkschrift
von H. W. Rothe. Das Neue: Öffnung gegen-
über den Sorgen der Zeit. +) Bewusstsein, dass
darin eine Abkehr vom Hochschul- und
Wissenschaftsideal der Humboldt-Ära
liegt. Dabei aber Überzeugung, dass der
Kern der überlieferten Universitätsidee festge-
halten werden könne, vielmehr müsse. „Nicht
auf einem völlig neuen Fundament begin-
nen, sondern auf den vorhandenen Fundamen-
ten aufbauen, aber diese unter Bewahrung
des Kerns verbreitern und ergänzen.“ (S. 44)
Heimpel: „Alle Hochschulereform ist ergän-
zende, den Kern bewahrende Reform“. „Bildungs-
idee des deutschen Idealismus ist vielleicht
erschüttert, nicht bestritten“....“Bildung des
Menschen durch Wissenschaft ....welche als
Einheit von Forschung und Lehre besteht“.
Die Ergänzung besteht darin, dass „zu den
beiden Wesensmerkmalen von Forschung und
Lehre die Erziehung als drittes Wesensmerk-
mal der Hochschule gefügt werden soll.“ „Eine
+) S. 31 „Wissenschaftliches Erfassen gerade des
Gegenwärtigen“. „Verbindung mit dem Leben“.
2
ausserhalb der Wissenschaft erstrebte päda-
gogische Einwirkung auf die Studenten.“
(S. 45/46) So die „allgemeine und staats-
bürgerliche Erziehung und Bildung“ (S. 52)
Aufgabe ist die „harmonisch alle Kräfte
menschlichen Kräfte entwickelnde Persön-
lichkeitsbildung“ (S. 61) So im Einklang
mit C. H. Becker: Idealbild: eine Art
Gralsburg der reinen Wissenschaft“ (S. 25)
„Suchen nach der reinen Erkenntnis“ ...“für
den Deutschen eine heilige Angelegenheit“
(S. 26) Im Einklang auch mit K. Jaspers:
„Die Wahrheit zu suchen auf den Wegen
der Wissenschaft“ (S. 35) „Die Universität als
der Ort, an dem die Wahrheit in jeder ihrer
Gestalten offenbar und zugleich von den Stu-
denten mitergriffen werden soll.“ (S. 36)
Das ist wirklich das Ideal der „Gralsburg“!
Erneuerung in der Universitätsidee der
Humboldt-Ära. Universität Berlin
Grundzüge:
Reinheit und Seligkeit der <....>.
Olympische Überlegenheit.
Einheit des Wissens. Philosophie als
Krönung. Nur so: „Bildung“. Zerstört
durch Gedanke an „Nützlichkeit“ („Berufs
3
Die Frage ist, ob die Wendung zu dem neuen
Typus, ob die Hinwendung zur Aktualität des
Gegenwärtigen den Kern des überlieferten Ideals
so unberührt lässt, wie angenommen wir. Es
ist meine Absicht, zu zeigen, dass die vermeint-
liche „Ergänzung“ auf den Kern zurückgreift.
Grundzüge des überlieferten Wissenschafts-
ideals. Herkunft aus d. Antike. Reinheit und
Seligkeit der <....> Vorzug des <.... ...-
...>. Olympische Überlegenheit.
Erneuerung in Humboldt-Ära. Berlin.
Einheit alles Wissens. Philosophie als
Krönung. Nur so: „Bildung“. Zerstört
durch Gedanke an „Nützlichkeit“ ( „Be-
rufsbildung“) Auch Zuwendung zur Aktua-
lität ist Abkehr von der überzeitlichen
Reinheit der Idee. Verzweckung. Die
zeitliche Fruktifizierung kommt hinterher.
Die Entwicklung seit der Humboldt-
Ära. Spezialisierung. Einheit verloren?
Das „System der W.“ besteht auch dann, wenn
es nicht gewusst wird. Aufgabe der Be-
wusstmachung bleibt bestehen.
Schwieriger das Verhältnis zur „Nütz-
lichkeit“. Die faktische Lage:
Die mathem. N.-W. Ihr Verhältnis zur
4
Technik. Identität, auch wenn nicht ge-
wusst und gewollt. Und doch: Wissen-
schaft! Nicht Arrangement.
Wissenschaft vom Menschen. Sind sie
„rein“? Identität in Selbstbestimmung.
Sichselbstgestalten – schon in Theorie,
erst recht in Praxis. Wissenschaft = Höchst-
form. Staat, Recht usw. Der „Sich-selbst-
Wissende“. Auch das zeitlich Fernste.
Also: keine reine „<....>“. Theorie
und Praxis.
Wissenschaft soll sich das eingeste-
hen! Nur dann wissende Selbstkontrolle.
Gefahr der Grenzüberschreitung. We-
sentliche Seite der „Bildung“ durch
Wissenschaft.
Früher Grenzüberschreitung nur
in Theorie, am Schreibtisch. Heute an-
ders. Der „totalitäre“ zuhöchst der kom-
munistische Staat! Knechtschaft der
Wissenschaft. Maximal, wenn diktiert
durch angebl. „Wissenschaft“. So der
Kommunismus. Radikalste Selbstver-
verführt
kehrung. After-Wissenschaft „ver-bildet“ den
5
Menschen, zu Missverstehen seines selbst
Missverstehen und Fehlkonstruktion sei-
ner Lebensordnung.
Extreme Erprobung eines allgemei-
nen Sachverhalts: dasselbe menschl.
Grundvermögen, das der echten Wissen-
schaft das Durchdringen zur Wahrheit
ermöglicht, ermöglicht das Aufkommen,
die Wirkung, den partielen Sieg der Pseu-
do-Wissenschaft, die den Menschen theo-
retisch täuscht und praktisch misslei-
tet.
Revision der überlieferten Wissenschafts-
idee! Zur Seligkeit der reinen <....>
gehört die Unseligkeit der theoretisch und
praktisch in die Irreführenden . Begriff der „Pervertierung“.
Allgemeiner Hintergrund: der revi-
dierte Begriff der Freiheit. Ambivalenz der
Freiheit. Der frühere und der spätere Kant.
Freiheit = „Auto-nomie“. Freiheit = Mög-
lichkeit so gut des Normwidrigen wie
des Normgemässen. Freiheit der Wissen-
schaft als Spezialfall.
6
Konsequenzen für das Problem der
Menschen – „Bildung“ durch Wissenschaft.
Für die Klassik ist Wissenschaft, recht be-
trieben, reine „Bildungs“-Macht. Am
klarsten ausgesprochen in Humboldts Be-
stimmung des Verhältnisses zwischen dem
auf seine „Bildung“ bedachten Menschen
und der „Welt“. Sie ist ihm nötig als
„Stoff“ der Kräftebildung, der Wesensein-
prägung. „In sein Eigentum“, „in seine Ein-
samkeit verwandeln“. „An sich reissen“.
Gegenstand des Bildungskonsums, „Mittel“
Daher: „Harmonie“!
der Selbstbildung. Welt rückt ins zweite
Glied. Sublimiertester Egoismus.
Scheinbar zutreffend in der deutschen
Humboldt-Ära. In der weiteren Entwick-
lung tritt immer mehr die „Auseinander“
-„Setzung“ v. Mensch und Welt hervor. Un-
terschied von tierischer „Um-Welt“. Ein
eigenständiger Widerpart, um den gerun-
gen werden muss, der sich nicht „konsumieren“
lässt. „Wider-Ständigkeit“. Gerade die Wis-
bekommt
senschaft setzt der Anerkennung dieser Wider-
ständigkeit voraus. die „Freiheit“ des erkennen-
zu spüren
den Ich hat zum Korrelat des Gewährenlassen
7
des als eigenständig anerkannten Ge-
genüber. Daher nicht Harmonie sondern „Antinomie“
Und diese Parteiung v. Ich und Welt
und die durch sie geforderte „Auseinander-
setzung“ ist auch die Voraussetzung für
die Ambivalenz jener „Freiheit“, die sich in
diesem verhältnis denkend – erkennend
betätigt. Ein konsumbereiter, d.h. der Ei-
Welt -
genständigkeit entbehrendes Gegenüber
hätte eine „Freiheit“ zum Korrelat, die
nicht die Möglichkeit der Perbersion in
sich schlösse. Diese Freiheit hätte ja nichts
weiter zu tun, als sich den passiven Welt-
Harmonie!
stoff souverän anzuverwandeln. Sie könnte ein-
seitig verfügen. Aber eine Freiheit, die sich
einer
mit d. Mögli auf sich bestehenden und
nicht willig nachgebenden Welt „aus-
einanderzusetzen“ hat, kann in dem Vor-
gang dieser auseinandersetzung zwar
der Wahrheit inne werden, aber auch die
Wahrheit unwissentlich verfehlen oder wis-
sentlich verfälschen. Die Pervertierung ist
als Möglichkeit, ja als Versuchung ständig
gegenwärtig. Monumentale Demonstration
8
dieser Möglichkeit ist der Kommunis-
mus. Bildung und Ver-bildung untrennbar
Universitäten = Brandherde! Überall.
Scheinbar eine Beeinträchtigung des
Bildungsstrebens, gemessen an dem hum-
boldtischen Bildungs- und Wissenschafts-
Ideal. Wie sehr wäre eine restlos assi-
milierbare Welt vorzuziehen! Statt
dessen Mühsal und zweideutige Gefähr-
lichkeit der Auseinander-Setzung!
In Wahrheit nicht nur Schicksal,
sondern auch Grösse des Menschen! Wag-
nis des Menschseins in universalster
Form. auch „Bildung“, mit der Perver-
sion der „Ver-bildung“ unlöslich gekop-
pelt, zeigt, dass der Mensch das an sich
selbst verwiesene, das sich selbst überant-
wortete, das sich unaufhörlich riskierende
und unter Umständen sich selbst zer-
störende (physisch u. moralisch) Wesen ist,
is nur um d. Preis der Flucht
(„Kastalien“, „Doppelleben“) zu haben. Aber
diese ist immer Rückzug ins Treibhaus.
Wenn wir die Situation des Menschen
so „realistisch“ sehen – was ist aus der Selig-
9
keit der reinen <....> geworden? Nicht ein
Naturschutzpart des reinen Geistes, in den man
sich wie in eine abgeschirmte Institution des
gesicherten Friedens zurückziehen könnte, son-
dern eine selten erreichte innere Lage, in der
man sich nur in unausgesetzter Abwehr den
Geist missleitenden Betörungen und um-
garnenden Versuchungen behaupten kann.
Demonstriert an a) Wissenschaft v. d. ausser-
menschlichen Natur b) Wissenschaft v. der
menschl. Welt. Dort: Gefahr der Selbstver-
nichtung durch „richtige“ Wissenschaft. Hier:
Gefahr der verderblichen Missleitung durch
betörende Afterwissenschaft. Verbindung:
die durch b) benebelte Doktrin vom Menschen
erzeugt die Motive, die zur Verwirklichung der
durch a) erschlossenen Möglichkeiten
führen.
Was ist dann aber „Bildung“ durch Wissen-
schaft im höchsten Sinn? Es ist das vollbe-
wusste Wissen um die mit der „Freiheit“ der
Wissenschaft mitgegebene Selbstgefährdung
des einzig zur Wissenschaft qualifizierten
Wesens: des Menschen. Es ist das Wissen
der in der Wissenschaft sich vorbildlich spezi-
fizierenden Ambivalenz der Freiheit.
10
An diesem übergreifenden Wissen aber hat
dann auch dasjenige seinen Kern, was die Denk-
schrift als die „allgemeine und staatsbürger-
lich Erziehung und Bildung“ als dritte
Aufgabe den Aufgaben der Forschung und
Lehre meint „ergänzend“ beifügen zu
sollen. Als „Ergänzung“ können gelten
die Veranstaltungen zur musischen und
leiblichen (sportlichen) Ausbildung. Aber die
„allgemeine und staatsbürgerliche Bil-
dung“ ist nicht ein nur wissenschaftl.
Bildung äusserlich Hinzugegebenes. Sie
wird nur dann echt und wirksam sein
wenn sie (im Übereinstimmung mit d. klass.
Wissenschaftsidee) mit d. wissenschaftl. Aus-
bildung völlig eins ist. Falsche Abtrennung
des „Intellektuellen“. Siehe die Wissenschaf-
ten von Staat, Recht usw. Der ganze Mensch
ist angefordert! Aber damit diese Einheit
sich herstelle, muss eben die Wissenschaft
sich anders verstehen und einsetzen, als
die klassische Wissenschaftsidee es nahelegt.
11
Aus das Ausgeführte ist ein Beitrag
zur „Universitäts-Reform. Aber freilich
keiner, der sich durch organisatorisch-
institutionelle Massnahmen bewirken oder
auch nur fördern lässt. „Innere Re-
form“. Abhängig v. d. Denkart der in der
Institution Tätigen. Verlangt ist eine
innere Umorientierung, d .i. der Abschied
von liebgewordenen Vorstellungen und
hochgehaltenen Überlieferungen. Gerade, wenn
wir im Geist der Universität denken, ist
diese Umkehr eine Sache der Freiheit
und nicht der Verordnung. Eine Frage an
all die, die den Geist der Institution
mit bestimmen.
V 0035d
1
„Grundlage“? Oder bloss „technisch“?
Olympische <....>>. Göttlich!
Klassische Idee der Wissenschaft. Einheit
alles Wissens. Philosophie. „Bildung“.
Zerteilung durch „Nützlichkeit.“ „Reine W.“
1) Spezialisierung und 2) Lebensdienstbarkeit.
Einheit verloren? Das „System“ d. W.
Z.B.: „Natur“ – u. „Geistes“ – Wissenschaften.
Geschichte der N.-W.
Keine „Nützlichkeit“? Prüfstein: math.
N.-W. Goethe. N. und Technik. Heute!
Realität der Hochschule. Nicht „human“?
Sind die G.-W. „rein“? „Theorie und Pra-
xis“. „Aussermenschliches“ und „Menschliches.“
Identität in Selbstbesinnung. Sichselbst-
gestalten, v. Erkenntnis erleuchtet. Wis-
senschaft = Höchstform. Staat, Recht usw.
Mensch = „d. auf sich selbst reflekt. Wesen“.
Auch das zeitlich Fernste.
Kulmination in der heutigen Welt.
Technik – Selbstbesinnung Spezialisie-
rung notwendig. Zusammenrücken von
Theorie und Praxis. Nicht verleugnen.
Kein „Gegen-gewicht“! Unwahrhaftig
Re-flexion auf „Wissenschaft u. Leben“
nötig!
2
„Bildung“!
Weitere Berichtigung. Seligkeit der
<....>. Griechen. Humboldt: „Eigentum“.
Bloss Material? Siehe heutige Spannung!
Tier und Mensch. Der Mensch ist „frei.“
„Auseinander-setzung“. Gegenpartei.
Ambivalenz der Freiheit. Irrtum u.
Lüge. Nicht wegwünschen! Irrtum in
N.-W. und G.-W. Irreparabler Schaden.
Das Phänomen: Kommunismus
„Wissenschaft“ +) Gutgläubig. Ambivalenz
auf der Höhe. Wahnhafte Selbstinter-
pretation als geschichtliche Macht.
Illegitimer Halbbruder Re-flexion auch
hier. Wo bleibt Seligkeit der <....>?
Labilität.
Aufgabe der Hochschule! Wachsam-
keit. „Antikomm. Komplex“?!
+) Nicht bloss „technisch“. Universale
Deutung des Weltganzen. Genealogisch. Hegel! |