Bemerkungen | Dokumentenabschrift: V 0022a
1960
Titelseite
Betriebliche Berufserziehung und Menschenbildung im modernen Wirtschaftsleben
(Essen 1960)
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Es ist ungemein bezeichnend, dass in
dem Programm dieser Tagung den Ver-
handlungen, die sich auf die Berufsausbil-
dung beziehen, ein Vortrag vorangestellt
wird, der das Verhältnis der Berufsausbil-
dung zur Menschenbildung zum Gegenstand
hat. In der Hervorhebung dieses Themas
spricht sich eine erzieherische Sorge aus,
die den Deutschen von heute schwer zu schaffen
macht. Aber es ist gleich hinzuzufügen:
es sind nur die Deutschen, deren erzieherisches
Gewissen durch sie so sehr belastet wird. Jeder
Gedankenaustausch mit den Erziehern der
anderen Kulturvölker, zumal der angelsächsi-
schen, uns darüber, dass diese Frage
bei ihnen zwar nicht gerade <..> übergangen, aber doch
nicht entfernt so schwer genommen wird,
wie in der deutschen pädagogischen Welt.
Man könnte fast auf den Gedanken kommen,
es sei eine spezifisch deutsche Idiosyn-
krasie, die sich in dieser fragestellung aus-
spreche.
Dabei begegnet man bei uns vielfach der
Vorstellung, die Unterscheidung von Berufs-
ausbildung und Menschenausbildung sei mit
der Grundstruktur alles pädagogischen Wirkens
gegeben. <...> über stets und überall <...> das päd-
agogische Gewissen beschwert, wo es überhaupt
Berufe und mit ihnen berufliche Ausbildung
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gegeben habe. Damit sind wir auf einen
Irrtum gestossen, der zunächst ausgeräumt
werden muss, wenn wir überhaupt unserem
Thema gerecht werden wollen. Wie sehr die
wiedergegebene Meinung irrt, das tritt
schon dann hervor, wenn wir das Wort „Be-
ruf“ auf seine Herkunft und seinen ur-
sprünglichen Sinn befragen. Beruf, vocatio
- das ist seiner primären Bedeu-
tung nach die „Berufung“, durch welche
Gott einem jeden seinen Platz im Ganzen
des gemeinschaftlichen Lebens anweist und
damit diejenige Tätigkeit zu bestimmt,
die er im Rahmen dieses Ganzen auszuüben
hat. Das gliedliche officium oder ministe-
rium, dessen Erfüllung der Gehorsam ge-
Ständische Gesellschaft
gen Gottes Gebot ist. Die „organische“ Lebens-
auffassung des christl. Mittelalters als
Voraussetzung. Diese göttliche Sinngebung
des Berufs überträgt sich aber selbstverständlich
auch auf die Berufsausbildung. Wie aber könnte
diese unter den genannten Voraussetzungen von
der Menschenbildung getrennt oder gar zu ihr
in Gegensatz gestellt werden! In dem er den
Mensch sich in den Beruf hineinbildet, erfüllt
er das an ihn ergangene Gottesgebot. Damit
ist aber das Berufliche über all das Enge, Be-
schränkte, Einseitige hinaus gehoben, so das
so leicht mit dem Begriff des Berufs
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verbindet. Ein Beruf, in dem Gottes Wille erfüllt
wird, auf dem also der Segen Gottes ruht, muss
doch notwendig mehr sein als eine Special-
funktion; in ihm und durch ihn muss doch
gerade der Mensch, d.h. der ganze Mensch
zur Erfüllung seiner Bestimmung heranrei-
fen. Berufsausbildung ist, weil gottgewollte
Tätigkeit, als solche zugleich Menschenbil-
dung.
Wir brauchen also in der Geschichte nur
weit genug zurückzugehen, um auf einen
Zustand der abendländischen Kulturwelt
zu stossen, dem nichts ferner lag, als zwi-
schen der Berufsausbildung und der Men-
schenbildung einen Trennstrich zu zie-
hen. Dieser Zustand ist derjenige der abend-
ländischen, im christlichen Glauben geein-
ten Menschheit des Mittelalters. Aus die-
ser christlichen Einheitskultur ist die Kul-
tur sämtlicher neuzeitlicher Kulturvöl-
ker hervorgegangen. Sie ist unser aller ge-
meinsamer Mutterboden. Diese Einheit
des Ursprungs muss in uns die Frage hervor-
rufen: wie kommt es, dass unter den aus
dieser Einheitskultur hervorgegangenen
Völkern gerade und um das deutsche in
den Verhältnis von Berufsausbildung und
Menschenbildung ein so belastendes Pro-
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blem gefunden hat?
Wer die auf dieses Thema bezüglichen
Verhandlungen in Wort und Schrift genau
verfolgt, dem kann es nicht verborgen blei-
ben, wo diese und Entgegensetzung
ihren letzten Ursprung hat. Wir begegnen
ihr zuerst in dem pädagogischen Denken
unseres klassischen Zeitalters – jenem
, dass in der Idee der „Humanität“
seine Zentralsonne hat. Es ist dieser Idee,
in durch Zeichen der fragliche Gegensatz
zuerst bemerkt und nach seiner Bedeu-
tung gewürdigt wird. Und zwar verhält
es sich, genauer gesehen so, dass diese
Idee nicht etwa bloss die Unterscheidung
und Entgegensetzung, von der wir sprechen,
als Folgerung oder Anwendung nach sich
zeiht, sondern überhaupt erst im >Bemerken>,
Erfahren, Durchdenken dieses Gegensatzes
selbst zu ihrer klaren Vergewisserung und
Profilierung durchdringt. Die Idee der
Humanität formiert sich in der Gegen-
stellung gegen diejenigen Erscheinungen
des Zeitalters, in denen sie eine Gefähr-
dung der Humanität meint erblicken zu
sollen, und diese Erscheinungen gelangen
in der beruflichen Gliederung der Zeit und
folglich auch in der am Beruf orientierten
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Erziehung zu besonders präzisem Ausdruck.
Nachweis an „Individualität“ und „Totali-
tät“, Begriffe, die sich bilden in Gegenstellung
zu den niveliernden und vereinseitigenden
Wirkungen der werdenden arbeitsteiligen Pro-
duktionsordnung, in Gegenstellung auch zu
dem in dieser Produktionsordnung waltenden
Geist der „Nützlichkeit“. Zweckfreie Hingabe an
das „Gute, Wahre, Schöne“.
So formiert sich die deutsche Idee
der „Bildung“ in Frontstellung gegen
die Welt der „Ausbildung“, der wenn nicht
die Notwendigkeit so doch die bildende
Wirkung abgesprochen wird. Fortwirkung
bis in die pädagogischen Debatten unserer
Tage.
Wenn nun dieser angebliche Gegen-
satz von den anderen Völkern unseres Kult-
turkreises nicht bemerkt oder, falls bemerkt,
nicht entfernt so schwer genommen
wird, so erhebt sich notwendig die Frage,
ob wir Deutsche durch die Denker und Dich-
ter unseres klassischen Zeitalters dahin
gebracht worden sind, uns mit der Lö-
sung seines Gegensatzes zu plagen, aber nicht
in der Wirklichkeit, sondern nur in unserer
Einbildung besteht, oder der doch zumin-
dest in unserer Einbildung weit über das ihm
gebührende Mass emporgesteigert worden
ist. Sind wir im Gefolge unserer Klassiker
die Opfer einer das Gemüt verdüsternden
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Hypochondrie, die wir abschütteln müssen?
Die Unbeschwertheit der anderen Kulturvölker
könnte uns diesen Verdacht nahe legen.
Um diese Frage beantworten zu kön-
nen, müssen wir zusehen, ob und wie
sich das Verhältnis v. Mensch und Be-
ruf seit den Zeiten der „organischen“ Welt
und Berufsauffassung geändert haben
möchte. Tun wir das, dann müssen wir
allerdings eine in die Tiefe greifende Ab-
wandlung dieses Verhältnisses festellen.
Worin besteht sie und wie wirkt sie?
So lange der Beruf in das Ganze eines
„organisch“ geeinten Gesamtlebens eingebet-
tet und aus der dies Ganze erfüllenden und
zusammenhaltenden „Weltanschauung“ beseelt
ist, lebt und atmet er im Element einer
allumfassenden Tradition. Traditionalis-
mus der Berufe und Stände: Bauern, Hand-
werker, Kaufmann, Ritter, Kleriker. Diese
Tradition gibt dem Beruf im Ganzen seinen
Sinn und trägt auch die besonderen Berufs-
praktiker. Siehe z.B. die hochmittelalterliche
ZUnft. Der Geist der „Einnung“.
Der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit
vollzieht sich in der +) zunehmenden Ablösung und Verselbstän-
digung der einzelnen geistigen Funk-
tionen. Die „Autonomie“ der Sonderbetäti-
gungen. In diesem Prozess der Differenzierung
+) Auflösung dieser Einheit, bewirkt
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aber geht führend voran eine Grundfunktion
des Menschen, die zunächst sich selbst verselbständigen
muss, um diese führende Stellung einneh-
men zu können. Diese führende ist:
die ratio. Die Emanzipation der ration ist der
zentrale Vorgang im Prozess der Auflösung der
„organischen“ Lebenseinheit. In ihr trium-
phiert der Geist der radikalsten Emanzipation.
Die ratio hört nur auf sich selbst, traut nur
ihren eigenen Argumenten, verweigert allen
ausserhalb ihrer entstandenen Meinungen u.
Behauptungen die Zustimmung, entsagt allem
ausserhalb ihrer heimichen Stützen und Be-
gründungen, also vor allen Inhalten
der Tradition. Mit alledem ist sie das Muster
vollkommener „Autonomie“ und der ent-
schlossenste Widerpart aller „organischer“
Bindungen. Und sie treibt den Emanzipa-
tionsprozess vorwärts, in dem sie in allen
Lebensphären ihr Wort, das schwer wider-
legliche, mitredet.
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