Bestand:Privatarchiv Litt, Theodor
SignaturNA Litt, Theodor V 0009
TitelDem Atomzeitalter entgegen. Naturwissenschaft – Segen oder Fluch?
Enthälta) hs; Doppelblatt + 6 Blatt 10,4 x 14,8 cm = Titelseite + S. 1-12 b) ms; 1 Blatt 10,5 x 16,5 cm = S.1-2
Zeitvon1956
Zeitbis1956
BemerkungenDokumentenabschrift: V 0009 a 19.2.1956 Titelblatt Dem Atomzeitalter entgegen. Naturwissenschaft – Segen oder Fluch? 19.2.56 Das Atomzeitalter – Schicksal und Forderung. 1 Name „Atomzeitalter“ gibt zu denken. Ein Zeitalter benannt nach einem naturwissen- schaftlichen Begriff! Geschichte des Begriffs. Zum ersten Male! Kein „Zeitalter der Schwer- kraft“, der „Dampfkraft“, der „Elektrizität“. Viel- mehr: Zeitalter der Reformation, der Gegen- reformation, der Aufklärung, des Absolu- tismus, des Nationalstaates. Benennung nach führender Bewegung. Offenbar wird aber heute die Naturwissenschaft als die füh- rende, mithin das Zeitalter prägende Macht empfunden. Ist sie das? Kann sie oder soll sie es sein? Scheinbar ja! Rückblick auf den Aufstieg während dreier Jahrhunderte in Theorie und Praxis. Wir Heutigen kön- nen die Tragweite des mit diesem Auf- / Geschehenen stieg ermessen, weil wir auf einem Kul- minationspunkt angelangt sind. Diese Wissenschaft hat der Menschheit die Mög- lichkeit der totalen Selbstvernichtung in die Hand gegeben. Ein kaum zu über- schreitender Grenzfall. Von dieser Höhe aus überschauen wir den Gesamtprozess, der zu ihr hinführt. Nur so Deutung der 2 „Entwicklung“ möglich. Knospe, Blüte, Frucht. Der Rückblick: die noch im Pro- zess Stehenden ahnen nicht, wohin die Reise geht. Die grossen Naturforscher des 17. Jhdts. waren zwar von der wissen- schaftl. Bedeutung ihrer Entdeckungen durchdrungen – und doch: was würden sie sagen, wenn sie das sähen, was sich heute als Konsequenz ihrer Entdeckungen heraus- gebildet hat, und zwar sowohl wissen- schaftlich als auch menschlich geschicht- lich? Otto Hahn über die Unvorausseh- barkeit dessen, was sich aus seiner Uran- spaltung in weniger als 20 Jahren ent- wickelt hat. Wie vollends, wenn es sich um eine Entwicklung handelt, die sich über drei Jahrhunderte erstreckt! Eigentümlichkeit dieser Entwicklung dargelegt an Hand eines verbreiteten Schlagworts: „industrielle Revolution.“ Passt das Wort? Fehlen alles dessen, was die Explosivität sowohl politisch als auch geistiger Revolutionen ausmacht. Observatorium Ausgang v. Studierstube s. Observatorium. Mathematik in der Natur ? Kepler, Galilei. Bewunderung dieser „geistigen“ Ordnung natürlichen Geschehen. Gottes Werk! 3 Von vorne herein Verbindung mit praktisch- technischen Konstruktionen, wie schon bei L. da Vinci. Beides ist vereint im Experi- ment. Zur Studierstube tritt das technische Konstruktionsbüro. „Anwendung“ der natur- wissenschaftlichen Ergebnisse. Geht es bei alledem irgendwo „revolutionär“ zu? Geräuschlose Arbeit an der theoretisch zu erforschenden, praktisch zu benutzenden „Sache“. Der Leitfaden der Sache führt vom einem zum Anderen weiter. Nirgendwo der Eigenwille sich ein. Wenn er es versuchte, würde die Arbeit an der Sache ins Stocken kommen. Sie setzt sich durch, nicht mit Gewalt, sondern ihre un- widerlegbare Evidenz. Die „Vernunft“ kann nicht anders als sich an ihre Weisung halten. So in den Anfängen der fragl. Ent- wicklung. So aber auch weiterhin. So ge- waltig die Veränderungen waren, die sich im Zuge dieser Entwicklung herausgestellt haben, sie alle geschehen in der gleichen geräuschlos – selbstverständlichen Führung durch die Sachen. Siehe die erste grosse Veränderung, die durch die Maschine ein- trat. 1769 erfindet Watt die Dampfmaschine. Die primitiv! Und doch Ausgangspunkt des 4 Prozesses, der heute bei dem mit Atom- kraft betriebenen Motor angelangt ist. 1769 – 1956! Und doch ist dieser ganze Weg mit derselben unrevolutionären „Sach- lichkeit“, mit „Taubenfüssen“, begangen wor- den, wie die Strecke von Galilei bis Watt. „Revolutionär“ waren die gesellschaftl. polit., geschichtlichen Wirkungen, die sich an diese Entdeckungen anschlossen, nicht aber der Fortgang, in dem sie sich nach strengen Sachgebot aneinander anschlossen. Aber selbst unter diesen gesellschaftl. Wirkungen sind solche, die sich kraft derselben Sachnotwendigkeit vollzo- gen. Die „industrielle Gesellschaft“ ist nicht durch einen Willensakt – etwa wie eine neue politische Verfassung – ins Le- ben gerufen worden. Sie hat „sich“ im Gefolge der Produktionsveranstaltungen (die ihrerseits auf Naturwissenschaft und Tech- nik zurückgehen) „entwickelt“. Sie stand einfach da als Ergebnis von Vorgängen, die der Fortgang der Sache hervorrief. Bevöl- kerungsvermehrung, Menschenballung, Gross- stadt usw. Wer hat dies alles gerade so gewollt? Die Sachnotwendigkeit hat es bewirkt! Beispiel aus unseren Tagen ist 5 der neue Akt der „industriellen Revoluti- on“, der mit dem Übergang zur „automa- tisierten“ Maschine einsetzt. Die voraus- sehbaren, weil durch die Sache bedingten gesellschaftlichen Umlagerungen werden Zukunfts- in die industrielle Planung mit einge- setzt. Die Sache führt nach wie vor. Weil der dargestellte Vorgang sowohl gesellschaftlich als auch politisch (innen- und aussenpolitisch) die Menschheit in schlimme Verwirrungen gestürzt hat, sind die Ankläger nicht aus-geblieben, die dies Ganzevon theoret. u. prakt. Bemühungen als einen riesenhaften Fehltritt meinen verdammen so sollen. Von I. G. Hamann bis zu M. Heidegger, von Goethe bis St. George. Die Klage ist abzuweisen, weil das, was in der v. Mensch und Welt angelegt und vorgezeichnet ist, was in der Mathematisierg der Natur einen hoch- geistigen Triumph feiert, nicht einseitig auf das Schuldkonto des Menschen gesetzt werden darf. Eine speziellere, aber deshalb auch über- zeugendere Form nimmt der nämliche Vor- wurf dann an, wenn er sich nicht gegen das Ganze der diesen Vorgang realisierenden 6 Menschheit, sondern gegen die bestimmten einzelnen Menschen richtet, die Kraft ihrer Stellung innerhalb seiner angeblich in der Lage gewesen wären, seine verderblichen Wirkungen hintan zu halten. Das sind die naturwissenschaftlichen Forscher, deren Ent- deckungen ja die notwendige Grundlage des Gesamtvorgangs bilden. Sie hätten, so sagt man, voraussehen können und sollen, welche selbstzerstörerische Wirkungs- möglichkeiten sie dem Menschen mit ihren Funden in die Hand legten. Sie hätten in dieser Einsicht entweder mit ihren For- schungen am kritischen Punkt Halt ma- chen oder zumindest die Ergebnisse ihrer Forschung, so weit sie zu gefährlichen Wir- kungen führen konnten, der Welt vorenthal- ten sollen. M. a. W.: der durch die Sache vorgezeichnete Fortgang soll an einem bestimmten Punkte durch die der Sache kundigen gestoppt werden! Unterlassen sie dies, so machen sie sich des Frevels schul- dig, der vorher der Menschheit als Gan- zem angekreidet wurde. Antwort: durch dieses Haltesignal würden auch die positiven Möglichkeiten der Menschheit entzogen werden, die die neuen Entdeckungen in sich schliessen. Die sich 7 rapid vermehrende Menschheit ist auf die dieser Möglichkeiten angewiesen. Die Ambivalenz der Sachent- deckung tritt hervor. Aber dieselbe Ambi- valenz fordert eine noch prinzipeller Erwiderung heraus. Wann ist der Punkt er- reicht, wo liegt er, an dem die harmlose u. bejahenswerte Naturwissenschaft – Tech- nik in die bösartige und verdammenswerte übergeht? Diesen Punkt gibt es nicht. Er ist überall und nirgend. Ambivalent ist das „Werkzeug“ von Anfang an. Siehe den „Erfinder“ des Faustkeils, des Messers. Man überfordert die Wissenschaft, wenn man ihr (bzw. ihren Vertretern) zumutet, als sogenannte Gouvernante das ahnungslose Kind Mensch- heit vor dem Spielzeug fernzuhalten, an dem es sich wehtun könnte. Vielleicht glaubt man, betrübt sein zu sollen, dass es diese Behütung vor schmerz- haften Selbstverletzungen nicht gibt. Das Leben wäre doch so viel sicherer und behag- licher, wenn es vor der Möglichkeit der Selbst- schädigung, ja Selbstvernichtung bewahrt würde. Allein mir scheint, dass gerade die heutige Lage, die uns die Ambivalenz der Möglichkeiten im unüberbietbaren „Grenzfall“ vor Augen stellt, die vernehmliche Aufforderung enthält, den so bitter beklagten Mangel an Sicherheits- 8 garantien als negative, aber gleichzeitig notwendige Kehrseite höchst be- grüssenswerter Sachverhalte zu interpre- tieren. Rückblick auf die Sachbedingtheit des Prozesses, in dem Forschung, Technik, industrielle Produktion, Gesellschaftsglie- derung vorwärtsschreiten. Ist diese Sach- bedingtheit nicht = Aufhebung der Frei- heit? Gefühl des Getriebenwerdens, des Nichtändernkönnens in Führenden und Geführten. Und schreitet diese Aufhebung der Freiheit nicht um so weiter fort, je vollständiger und allseitiger sich das System der sachbedingten Forschungen, Er- findungen, Produktionsveranstaltungen. Ge- sellschaftsgliederungen ausbaut? Zuneh- nemende Verengung des Atems von uns? Wird der Mensch sozusagen mehr und mehr mitgeschleift, also seiner selbst beraubt? Vgl. „Mechanisierung“, „Kollektivierung“, „Nor- malisierung“, „Funktionäre“, „Roboter“. Die Ambivalenz der Situation, in die sich die Menschheit von heute gestellt findet, ist der schlagende Beweis des Gegenteils. Steht es so, dass die Sache, die sich bis zur Verfügung über die Atomkraft empor- gesteigert hat, die Freiheit des Menschen 9 so reduziert hätte, dass er mit Notwen- digkeit zu einem bestimmten Verhalten getrieben würde? Und welches wär dann dieses Verhalten? Wäre es der Entschluss (wenn es noch „Entschluss“ heissen darf) diese Kraft zur Selbstvernich- tung der Menschheit einzusetzen? Oder wäre es der Entschluss, auf diese Weise der Verwendung Verzicht zu heissen, besser: sie systematisch auszuschliessen, und lieber die besagte Kraft zum Heil der Menschheit einzusetzen? Indem wir die Alternative so formu- lieren, haben wir schon zum Ausdruck ge- bracht: es ist nicht so, dass wir durch die Zwangsläufigkeit der Sachentwicklung zu dem einen oder dem anderen Ver- halten gezwungen würden – sondern es ist so, dass wir durch die Sachentwicklung vor die Notwendigkeit der wählenden Ent- scheidung gestellt werden, dem Inhalt wie eben als Alternative formuliert ha- ben. Wir stehen im Angesicht der zwei sich bietenden Möglichkeiten, genötigt, und in einem Akt der Wahl für die eine oder die andere zu entscheiden. Wir ste- hen im Angesicht der Ambivalenz als der Voraussetzung der Freiheit! Alle Per fektionierungen der Sachwelt hat von dieser Freiheit nicht nur nichts wegzunehmen ver- 10 mocht, sondern ihr Bestehen, ihre Trag- weite, ihre Verantwortlichkeit ins hellste Licht gerückt. Dennoch nie hat an einer menschlichen Entscheidung so viel ge- hangen wie heute, da es die Entscheidung über Sein oder Nichtsein. Warum das so ist, ist leicht einzusehen. Alle Perfekti- onierung der Sachwelt ist und bleibt eine Perfektionierung der Mittelwelt. Im Ver- hältnis zu ihr ist dieZwecksetzung „frei- bleibend“! Und das die Freiheit des Menschen sich bis in diese „Grenzsitua- tion“ vorgetrieben findet, das ist nicht zu beklagen, sondern trotzalledem zu begrüssen. Denn es ist Schicksal und Bestimmung des Menschen, dass er in der letzten Gewagtheit der Lebenssituation dasjenige, was ihm als Träger der Freiheit vor der ge- samten aussermenschlichen Wirklich- keit auszeichnet, in letzter Zuspitzung, und das heisst: in letzter Bedrohung le- bendig erfährt. Wir Menschen von heute nicht blasphemisch! sind dadurch ausgezeichnet, dass uns <....> letzte Perfektionierung der Sach- und <...welt> die Freiheit und die Verant- wortung des die Zwecke setzenden Wirkens mit nie dagewesener Wucht auf die Seele gelegt wird. Wir sollen stolz sein, dass wir wie keiner der vorangegangenen Geschlechter 11 auf die Probe gestellt werden. Weil dem so ist, darum ist die Wissen- schaft, der die Perfektionierung der Sach- welt zu danken ist, nicht nur nicht be- rufen oder verpflichtet, dem Menschen von heute die Entscheidung dadurch abzuneh- men, dass sie ihm die Mittel vorenthält, deren Besitz die Voraussetzung für die Not- wendigkeit der besagten Entscheidung ist – wie: sie soll ihn nicht vor der Notwendigkeit dieser Entscheidung durch den Entzug der Mittel bewahren. Sie würde sich selbst eine ihr nicht zukommende Vormund- schaft über die Menschheit anmassen, ja sie würde sich zur menschheitslenkenden Gottheit erhöhen, wollte sie so die Regie der Menschheit in ihre Hand nehmen. +) Wenn aber die dem Menschen von heute obliegende Entscheidung in einen Entschluss einmündet, der durch seine Fol- ausläuft gen in Selbstverni-chtung einmündet, dann tritt die Schuld dafür nicht die Wissen- schaft und die Technik, die ihm die Mittel möglicher Selbstvernichtung in die Hand gaben, sondern den wählenden Willen, der die wirkliche Selbstvernichtung in fre- velnder Vergessenheit des ihn Verpflich- tenden heraufführte. +) An der Entscheidunghat der Wissenschaftler nicht weniger, aber auch nicht mehr teil als alle Anderen. 12 Weil aber so zuletzt auf den die Entscheidungfällenden Willen nicht weniger als alles ankommt, darum muss die Bezeichnung „Atom-Zeitalter“ unge- achtet alles dessen, was für sie zu spre- chen scheint, als irreführend fallen gelassen werden. Denn sie ruft, wenn sie ernst genommen wird, den Anschein hervor, als seien wir jetzt an dem Punkte angelangt, an dem die durch die Wissen- schaft Sache dem Men- schen die Entscheidung aus der Hand nähme. Auch für die <...gebildete> Atom- wissenschaft und die durch sie ermög- lichten Anwendungen gelten unverkürzt alle die Einschränkungen durch die die Welt der Mittel eingegrenzt wird. Aber mehr als dies: weil es gerade die Perfektion in der <...> ist, durch die der Entscheidung ein niemals dafewesenes Mass von Verantwortung aufgebürdet wird, darum muss das Zeitalter der Atomwissenschaft lieber das Zeitalter des durch die Atom- wissenschaft an sich selbst zurückverwiesenen Menschen heissen. V 0009 b undatiert 1 Atomzeitalter „Atomzeitalter“. Wissenschaft führende Macht? Scheinbar ja. Rückblick vom Kulminationspunkt. Mög- lichkeit totaler Selbstvernichtung. „Grenzsituation“. Nichtwissen der Fort- schreitenden. O. Hahn. Eigenart der Entwicklung. „industri- elle Revolution“? Ausgang von Wissen- schaft. Mathematik in Natur. „Vergei- stigung“. Verbindung mit technischer Konstruktion. Geräuschloses Fortschrei- ten am Leitfaden der „Sache“. Nicht Ei- genwille – „Vernunft“. O auch später. Von Watt bis zum Atom-Motor. „Revolutionär“ nur die ge- sellschaftl. Wirkungen. Selbst in Gesellschaft Sachbedingt- heit. Die „industrielle Gesellschaft“. Nicht so gewollt. Beispiel: „Automati- on“. --------------------------------------------- Wegen verwirrender Wirkungen: Ankla- gen. Hamann bis Heidegger – Goethe bis George. Abweisen wegen zweiseitigen Ursprungs. Speziellere Fassung: gegen die Naturforscher. Haltmachen oder wenig- stens verschweigen! Sonst Frevel. Antwort: positive Möglichkeit. Ambi- valenz tritt hervor. Prinzipieller: wo liegt der kriti- sche Punkt? Ambivalenz jedes Werkzeugs. Wissenschaft ist nicht Gouvernante. ----------------------------------------------- Enttäuschend? Vermißte Sicherheit? Paradigmatik des heutigen Grenzfalls. Kehrseite eines Begrüßenswerten! 2 Sachbedingtheit scheinbar Verlust der Freiheit. Gefühl des Getriebenswerdens. Verengung? Vgl. „Mechanisierung“ usw. Heutige Situation Beweis des Gegen- teils. Determiniert die Sache? Alternative als Ausdruck der Wahlnotwendigkeit. Ambivalenz als Bedin- gung der Freiheit. Sachperfektion ist MIttelperfektion. Zwecksetzung als frei e Tat in Grenzsituation. Zu begrüßen! Gewagtheit des Menschseins in letzter Klarheit. Unsere Auszeichnung. ---------------------------------------------- Wissenschaft soll nicht behüten! Anmaßung. Fehlentscheidung ist Schuld des Willens. Ausdruck „Atomzeitalter“ abzuleh- nen. Umgekehrt: der Mensch an sich selbst zurückzuweisen!