Bestand:Privatarchiv Litt, Theodor
SignaturNA Litt, Theodor B 1-0652
TitelBrief von: Litt (Leipzig) an: Huch, Ricarda
Enthältms; Brief 4 Blatt A4 - Abschrift
Zeitvon1947
Zeitbis1947
BemerkungenDokumentenabschrift: Sehr verehrte Frau Doktor! Verzeihen Sie, wenn ich erst heute mein durch die Vermittlung von Herrn Dr.Schomburgk gegebenes Versprechen erfülle und Ihnen von dem Bilde berichte, das die Freunde Karl Goerdeler und Walter Cramer in mir zurückgelassen haben. Ich werde nur von meinen Eindrücken sprechen und bitte Sie, mir zu sagen, nach welcher Seite hin Sie noch Ergänzungen wünschen. Wesentlich scheint mir zunächst die Abwehr eines teils törichten, teils bösartigen Vorwurfs, dem man heute immer wieder begegnet. Man wittert hinter der Auflehnung der beiden Freunde und ihrer Gesinnungsgenossen "reaktionäre" Absichten. Auf diesen Verdacht ist Folgendes zu erwidern. Beide Männer gehörten natürlich nach Herkunft und Denkart der "bürgerlichen" Welt an. Aber es ist eine skandlöse Verfälschung, daraus zu folgern, es sei ihnen um eine Wiederherstellung bürgerlicher "Klassen"-Privilegien zu tun gewesen. Sie wollten in den Bau des neuen Deutschland dasjenige aufgenommen sehen, was ihnen am am Überkommenen erhaltungswürdig und als Stütze des Ganzen brauchbar erschien. So z.B. vor allem die christliche Lebenshaltung! Goerdeler dachte auch an eine Wiederherstellung der Monarchie. Aber nichts lag ihnen ferner, als irgeneine Klasse, zumal die Arbeiterklasse, in ihrem politischen Einfluß zurückdrängen oder gar ausschalten zu wollen. Bekanntlich stand Goerdeler mit Arbeiterführern dauernd in Verbindung. Was aber noch wichtiger ist: er hielt außerordentlich viel von der Tüchtigkeit und auch von den sittlichen Kräften der deutschen Arbeiterschaft. Er war überzeugt, daß die Rückkehr zu Sauberkeit, Wahrhaftigkeit, Menschlichkeit nirgendwo enthusiastischer begrüßt werden würde als bei der Arbeiterschaft. Wenn überhaupt in den Seelen dieser beiden Männer noch irgendetwas von wirklich "reaktionären" Anwandlungen lebendig war, so ist es durch die Erfahrungen, die ihnen die Jahre seit 1933 bescherten, so gründlich wie möglich beseitigt worden. Mußten sie es doch erleben, daß innerhalb des Kreises derjenigen, mit denen sie nach Herkunft, sozialer Stellung und Bildung zusammengehörten, nur eine Minorität ihre Beurteilung der Geschehnisse teilte, die Mehrheit, aus Verblendung, Feigheit und Oportunismus sich in die Gefolgschaft der Machthaber begab. Ganz besonders aufklärend wirkten in dieser Richtung die Erfahrungen, die beide Männer in den doch unausgesetzten Bemühungen um das hohe Officierskorps machten. Beiden lag der Respekt vor gewissen Traditionen der preußischen Armee im Blute. Aber was sie in der Werbung um die führenden Officiere der Wehrmacht an Einsichtslosigkeit, Entschlußlosigkeit, Knechtsgesinnung, ja an direkter Bestechlichkeit erleben mußten, das hat sie immer mehr in der Überzeugung befestigt, daß von jenen Traditionen nur das am wenigsten Erhaltungswürdige erhalten sei. Aus vielen vertraulichen Gesprächen weiß ich genau, wie schnell die Einsicht in die Verkommenheit dieser Kreise und die entschlossene Abkehr von der in ihnen lebenden Gesinnung fortschritt. Von einem fortwirkenden Gefühl der "Klassen"-Verbundenheit ist hier wirklich keine Rede. Wie denn überhaupt zu fragen ist, ob nicht heute zu den schlimmsten Reaktionären gerade diejenigen gehören, die noch immer die Ereignisse der sich wandelnden Zeit nach dem "Klassenkampf"-Schema meinen verstehen und beurteilen zu sollen. Jedenfalls waren die Männer wie Goerdeler und Cramer, was ihre Stellung zur deutschen Gegenwart und Zukunft anging, durch dieses Schema schlechterdings nicht zu erfassen. Ihr Denken und Wollen strebte einem Neuen zu, das über diese Gegenstände hinausliegen sollte. Natürlich machten sich im Ausbau ihrer Pläne und in den Formen ihrer Verfolgung die Unterschiede der Charaktere und Temperamente deutlich geltend. Goerdeler war ein Mensch des leidenschaftlichen politischen Wollens. In seiner Seele glühte der Wunsch, bei der Neugestaltung des tief gesunkenen Deutschland an führender Stelle mittätig zu sein. Es lag etwas Herrscherliches in seinem Wesen, und es ist mir wohl vorstellbar, daß es ihm in der Durchführung dessen, was er für richtig und notwendig hielt, nicht an Härte gefehlt hätte. Aber wann hat es ohne diese Unerbittlichkeit des leitenden Willens etwas Großes und Durchgreifendes auf dem Felde der Politik gegeben? Entscheidend ist doch dies, daß es in dieser Zähigkeit des Willensantriebes nicht um persönliche Velleitäten ging, sondern um ein mit Inbrunst erschautes Ziel, an dessen Erreichung alles gesetzt werden mußte. Goerdeler ist ein Beispiel dafür, daß in der Seele eines Menschen ein starker politischer Wille, auch der von diesem Willen nicht abtrennbare Ehrgeiz, leben kann, ohne daß deshalb der sittliche Charakter jene Schädigungen zu erleiden braucht, die man meist als unabtrennbar von der politischen Praxis meint ansehen zu sollen. Er war eben als Person mit dem Bilde des Deutschland, das ihm als anzustrebendes Ideal vor Augen szand, so vollkommen eins geworden, daß jede Unterscheidung des Persönlichen und des Überpersönlichen unmöglich wurde. Er fühlte sich mit jeder Faser seines Wesens als der zur Verwirklichung eines anderen Deutschland Berufene. Hätte in ihm auch nur das Geringste von gewöhnlichem Ehrgeiz und Strebertum gelebt - es wäre für ihn ein Leichtes gewesen, 1933 den Anschluß an die Bewegung zu finden. Aber in Wahrheit hat er vom ersten Augenblick an mit absoluter Sicherheit gewußt, daß er mit der zur Macht aufgestiegenen Clique auch nicht das Mindeste gemein habe. Was das bedeutet, ermißt man erst dann, wenn man sich erinnert, wie viele damals - z.T. ohne Zweifel in bestem Glauben - der Suggestion der Bewegung erlegen sind. Eigenart und Grenze des politischen Denkens, von dem Goerdeler sich leiten ließ, lag, wenn ich recht sehe, vor allem in Folgendem. Wie er selber ein klar denkender, rechtlich urteilender, gradlinig wollender Mensch war, der wenig oder nichts an Dunklem, Unerlöstem, Hintergründigem in sich trug so nahm er auch von seinen Mitmenschen an, daß, so weit nicht Selbstsucht oder boser Wille im Wege stehe, auch bei ihnen es nur der verständigen Aufklärung und der wohlmeinenden sittlichen Belehrung bedürfe, um sie von etwaigen Irrtümern zurückzubringen und auf den rechten Weg zu führen. Er konnte sich die Verirrung des deutschen Volkes im Grunde nur aus seiner Unwissenheit über die entscheidenen Vorgänge, aus seiner Unkenntnis der leitenden Männer erklären. Er meinte, daß eine wahrheitsgetreue Aufdeckung der wirklichen Geschehnisse genügen werde, um allen die Binde von den Augen zu nehmen und ein allgemeines erlösendes Erwachen herbeizuführen. Die unheimliche Verschlingung von Gut und Böse, die verführerische Zweideutigkeit vieler geistiger Mächte, die Macht der uneingestandenen Vorurteile und der geheimen Begehrungen - dieses ganze Zwielicht, in dem das seelische Leben so vieler sich abspielt - dazu die zerstörerischen Wirkungen eines fanatisch ergriffenen und verteidigten "Glaubens", einer teils gewollten, teils nicht gewollten Selbstverblendung: alles dies hatte im Grunde in seinem Bilde vom Menschen keinen Platz. Wie er selbst ein durch und durch undämonischer Mensch war, so wußte er auch nicht um daß Dämonische. Und das hatte eine verhängnisvolle Wirkung: in seinem politischen Kalkül fehlte dieser unendlich wichtige Posten. Wie oft hat er seine Freunde durch die Sicherheit in Erstaunen gesetzt, mit der er für einen bestimmten Zeitpunkt den Zusammenbruch des Nazi-Regimes prophezeite! Nach seiner - zum großen Teil wirtschaftlich gerichteten - Berechnung konnte es nur so und nicht anders sein, und daß es Imponderabilien gab, die diese Berechnungen umstoßen konnten, daß durch seelische Beeinflussungen und Aufpeitschungen manches äußere Manko auf Zeit wirkungslos gemacht werden könnte, das machte er sich nicht genügend klar. Aus dem gleichen Grunde schätzte er auch die Wirkungen, die von seiner - mit höchstem Mute durchgeführten - Aufklärungstätigkeit ausgehen konnte, zu hoch ein. Er bedachte nicht zur Genüge, wie viele Menschen für solche Argumente, die sie aus Lieblingsvorstellungen herausbugsieren oder um Lieblingswünsche ärmer machen sollen, schlechterdings undurchlässig sind. So hat er sich wieder und wieder exponiert, ohne damit mehr zu erreichen, als daß er teils Verstimmung und Empörung hervorrief, teils dem Verdacht gegen seine Person Nahrung gab. Ich vergesse nie den Ausdruck innerer Qual, der auf seinem Gesicht hervortrat, wenn er von der Erfolglosigkeit seiner einschlägigen Bemühungen berichtete. Er meinte, seine Mitmenschen auf klar zu Tage liegende Befunde hinzuweisen und mußte erleben, daß sie nicht sehen wollten oder konnten, was er ihnen sonnenklar zu machen bemüht war. Zu den schönsten Zügen seines Wesens gehörte eine leidenschaftliche Abneigung gegen alles, was unredlich, unsauber, unwahrhaftig ist. Die absolute Sicherheit, mit der er von vorne herein die Verderbtheit der Nazi-Führer erspürte, beruhte vor allem auf der Klarheit, in der ihm ihre menschliche Verruchtheit vor Augen stand. Es war ihm unbegreiflich, daß jemand sie nicht in diesem Lichte sehen konnte. Er ist mit alledem recht eingentlich der Antipode zu der konstitutionellen Verlogenheit Hitlers gewesen, und es regt zu sehr nachdenklichen Betrachtungen an, wenn man sich fragt, worauf die politischen Erfolge des einen und der politische Mißerfolg des anderen beruhen. Wäre es Goerdeler beschieden gewesen, an der Neuordnung Deutschlands führend teilzunehmen, so würde er eine ungeheure Enttäuschung erlebt haben. Er würde gemerkt haben, daß an den Fundamenten der sittlichen Existenz unseres Volkes viel mehr zerstört ist, als er sich eingestehen mochte. Er würde durch die Erfahrungen seines Amtes gezwungen worden sein, hinsichtlich der durchschnittlichen Menschenart umzulernen. Es liegt eine tiefe Tragik darin, daß er durch die Verstrickung mit einem Unternehmen untergegangen ist, dessen Gestalt durchaus nicht seinen Absichten entsprach. Es war seine Vorstellung gewesen, daß das deutsche Volk Hitler mit seinen Genossen in einem Gerichtsverfahren zur Rechenschaft ziehen sollte. Wie er das im Einzelnen hat möglich machen wollen, ist mir unbekannt. Auch hier ließ er sich von einem gradlinig konstruierten Gedanken beherrschen, dessen Auführbarkeit fraglich war. Er war nis zuletzt der Mann der glatt aufgehenden Rechnungen. Was er äußerlich und innerlich gelitten hat, nachdem ihn der Verfolgungsapparat des dritten Reiches gepackt hatte, ist nicht auszudenken. Ganz anders waren die Voraussetzungen, von denen her Goerdelers Freund Walter Cramer zu Deutschlands Schicksal Stellung nahm. Er hat nie daran gedacht, in der Neuordnung der deutschen Dinge eine führende Stellung einzunehmen. Politischer Ehrgeiz lag ihm fern. Das hat nicht verhindert, daß auch sein leitendes Bestreben verdächtigt wurde. Er eben "Kapitalist" und als solcher der "Klassengebundene". Darauf ist Folgendes zu erwidern. Ohne Zweifel war Cramer der Überzeugung, daß das wirtschaftliche Gedeihen des Volkes bei einer privatwirtschaftlichen Organisationsform in besseren Händen sei als bei einer sozialistischen. Aber es ist eine schnöde Verzerrung des Tatbestandes, wenn man ihm die Absicht unterlegt, die Privilegien der kapitalistischen "Klasse" um jeden Preis zu wahren. Über diese Klasse kritisch zu denken hatte er nach dem, was er mit den ihr Angehörigen erlebte, allen Grund. Er war bisweilen geradezu verzweifelt über die Urteilslosigkeit und sittliche Gleichgültigkeit derjenigen, mit denen er nach Herkunft und Stellung zusammengehörte. Andererseits habe ich von ihm wieder und wieder die Versicherung gehört, welcher Schatz von menschlicher Anständigkeit und Zuverlässigkeit in der deutschen Arbeiterschaft ruhe. Er war gewiß, daß bei einer Neuordnung der Dinge Männer seines Schlages mit der Arbeiterschaft vollkommen eines Sinnes sein würden. Was überhaupt seine Stellung zu Menschen und Ereignissen bestimmte, das war ausschließlich ein Gerechtigkeitsgefühl von seltener Schärfe. Er gehörte zu den bei uns, Gott sei's geklagt, so dünn gesäten Menschen, die auf jede Tat der Gewalt mit dem unfehlbaren Widerspruch des sittlichen Gewissens reagieren. Er war außer sich über die lendenlahme Gleichgültigekeit, mit der so viele den Exessen des Nazi-Regimes zuschauten. Er versuchte sie aufzuwecken, indem er an ihren starren Seelen rüttelte - leider meist ohne Erfolg. Wie kann man jemanden ein "klassenmäßig gebundenes" Denken nachsagen, der es so auf die ernstesten Konflikte mit seinen Klassengenossen ankommen läßt! Wollte man doch endlich bei der Beurteilung dieser Männer, die beim Versuch, ihr Vaterland zu retten, ihr Leben gelassen haben, die herkömmlichen Bewertungsclichès bei Seite legen und lediglich nach dem menschlichen Kern fragen! Aber der Deutsche zieht es vor, noch über den Gräbern den verjährten Zwist fortzuführen! In seiner Beurteilung der politischen Dinge war Cramer vorsichtiger und realistischer als Goerdeler. Er hatte doch wohl ein lebhafteres Gefühl für die Labilität der Seelen und die Unberechenbarkeit der Ereignisse. Vielleicht hat auch die religiöse Wendung, die sein inneres Leben seit dem Verlust seines einzigen Sohnes nahm, ihn gegenüber dem menschlichen Treiben eine distanziertere Stellung gegeben. Jedenfalls weiß ich, daß er manchen Konstrukionen von Goerdelers politischer Phantasie mit großer Reserve gegenüberstand. Indem ich mir sein Bild nocheinmal vergegenwärtige, sehe ich vor allem die echte und tiefe Leidenschaft, mit der er sich gegen jede Falschheit, Niedrigkeit, Vergewaltigung auflehnte. Sein ganzes Teilhaben am politischen Getriebe beruhte einzig und allein auf einem sittlichen Impuls. Er verzehrte sich innerlich, indem er wieder und wieder erleben mußte, wie schwer es ist, träge Herzen zu kräftiger Regung zu entflammen. Mit Grauen denkt man daran, was dieser reine Mensch vor seinem Ende von den Mächten erdulden mußte, denen sein Kampf gegolten hatte. Ich fürchte, daß meine Schrift stellenweise schwer leserlich sein wird. Wenn man mit verklammten Fingern schreibt, ist es schwer, deutliche Züge hervorzubringen. Darf ich Sie, sehr verehrte Frau Doktor, bitten, Herrn Prof. Boehm herzlich von mir zu grüßen? Ich schrieb zweimal an ihn nach Frankfurt, fürchte aber, daß er beides nicht erhalten hat. Ich bin mit den besten Empfehlungen Ihr ganz ergebener Gez. Th. Litt; von: Litt an: Huch, Ricarda; Ort: Leipzig