Bemerkungen | Dokumentenabschrift: gehört zu Zuschriften veranlaßt durch den Angriff von L. Würtenberg gegen Litt im Philologenblatt.
Hochverehrter Herr Professor!
Ihre "Entgegnung" im Philologenblatt Nr. 3 vom 16. d.M. veranlasst mich, Ihnen endlich, wie ich seit langem vorhabe, meine Ansicht über die Frage der Schulreform mitzuteilen. Zwar kann ich es heute nicht so ausführlich machen, wie ich gerne möchte und wie es vermutlich für Sie von Wert wäre, da ich einige Wochen krank war und nun der Verwaltungsbetrieb mich wieder erfasst hat. Die moderne Pädagogik ist ja wesentlich, wie Sie wissen, "Betrieb"; das hält man für Arbeit und Leistung. Es kann sich heute für mich nur darum handeln, Ihren Bemühungen zugunsten einer soliden Arbeit in der höheren Schule lebhaft zuzustimmen. Ich habe zwar keinen Grund anzunehmen, dass Sie, wie so mancher von uns in der Front Stehenden, bei einem Kampfe erlahmen möchten, der bei der Übermacht der herrschenden Phraseologie und der Kritik, die man ständig von ihren Vorkämpfern zu hören bekommt, manchmal hoffnungslos erscheinen könnte. Aber da ich gerade bei Ihnen am allerwenigsten wünsche, dass auch Sie einmal in diesen Zustand geraten, möchte ich Sie jedenfalls zu Ihren Bestrebungen auf das lebhafteste beglückwünschen und Sie bitten, mit aller Energie in dem Kampfe gegen Phrase, Geschwätz, Dilettantismus und Subjektivismus fortzufahren.
Ich selbst gehöre noch zu den jüngeren Direktoren, studierte Pädagogik in den Jahren 1904-11 und promovierte mit einer Arbeit über die Möglichkeit einer selbständigen pädagogischen Wissenschaft (1911 Jena), als noch kaum ein Philologe daran dachte, dass so etwas möglich oder statthaft sei. Von Rein habe ich mich früh abgewandt, war auch in Jena mehr Schüler von Eucken und habe mich später Spranger mehr genähert, auch persönlich, da ich eine Reihe von Jahren Oberlehrer in Berlin war. Politisch stehe ich mit Überzeugung ziemlich weit links, ohne einer politischen Partei anzugehören. Sie sehen also, dass ich in keiner Weise als Reaktionär anzusehen bin. Mit meinen Schülern, besonders den Herangewachsenen, stehe ich in enger persönlicher Fühlung, mit einer ganzen Reihe von ihnen viele Jahre über die Schulzeit hinaus.
Nicht blos durch den eigenen Bildungsgang und die persönliche Weltanschauung, sondern durch die Beobachtung der Praxis und die tägliche Arbeit in ihr bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass die Schulreform zwar viele wertvolle Ideen enthält, dass insbesondere das Hineintragen von mehr Jugendpsychologie ein Fortschritt ist in einer Zeit, wo Elternhäuser und die grossen Gemeinschaften der kirchlichen und vaterländischen Verbände dem Jugendlichen keinen Rückhalt bieten. Auch ist es gut, dass einseitig begabte Schüler mehr die Möglichkeit zu eigener (wenn auch nicht "schöpferischer") Arbeit gegeben wird und dass solche Arbeit hoch bewertet wird, auch wenn sie nicht aus dem Gebiete der altüberlieferten Hauptfächer genommen ist. Das darf aber gerade den, der den Fortschritt ernstlich will, nicht verkennen lassen, dass die Grundlagen einer soliden wissenschaftlichen Elementarbildung in Gefahr kommen, mehr und mehr zerstört zu werden, dass man planmässig zu Urteilen und "Leistungen" auffordert, bevor die positiven Kenntnisse da sind, ohne die man nicht berechtigt zu selbstständigen und in der Form oft arroganten Urteilen ist. Es wird tatsächlich über Dilthey, Sprengler und Troelsch geredet, wenn der Durchschnitt der Schüler noch nicht entfernt reif ist, die Werke dieser Männer zu verstehen, die ihrerseits doch erst ungeheure Kenntnisse sich angeeignet hatten, ehe sie zu ihren Urteilen gelangten. Gewiss kommt die Krisis, in der die höhere Schule sich, wenn man ihre grossen Traditionen und ihre gerade vom Ausland oft bewunderte Eigenart kennt, zweifellos befindet, dadurch, dass auch sie heute neben der Aufgabe der wissenschaftlichen Vorbildung Erziehungsaufgaben übernehmen muss, an die früher kein Mensch gedacht hat, da sie in früheren Zeiten Sekurität des häuslichen Lebens voraussetzen konnte. Aber das darf auf keinen Fall dazu führen, dass der Sinn für wissenschaftlich begründete Kenntnisse und objektive sachliche Urteile abhanden kommt, die nur in mühsamer, täglicher, pflichttreuer Kleinarbeit im wahren Sinne des Wortes "erarbeitet" werden können. Die Schulrefomr verlangt einerseits in ganz verstiegener Weise Einführung in die geistige Problematik unserer Kultur, andererseits bei ihrer Durchführung in der Praxis und dem grundsätzlichen Verzicht auf Pensen so wenig positive Leistung, dass tatsächlich ausserordentlich viele Schüler zum Hochschulstudium gelangen, denen die Voraussetzungen für die Mitarbeit in den Wissenschaften fehlen, ja sogar dass die Voraussetzungen für sachliche und bescheidene Arbeit in den praktischen - und Beamtenberufen fehlen, die keine akademische Bildung verlangen. Dabei wird nicht einmal erreicht, dass im ganzen die Schüler ihre Schulen und ihre Lehrer so sehr viel lieber haben, als das vor 30 Jahren der Fall war, dass sie sich bis weit in die freie Zeit der Nachmittage hinein gegängelt fühlen, dass ernste Konflikte und Selbstmorde seltener werden als früher. Das Schlimmste ist, dass bei alldem die Bescheidenheit und Ehrfurcht aussterben, ohne die wirklich schöpferische Arbeit garnicht möglich ist. Das Schlimmste von allem ist - und das wissen Sie besser als ich - , dass die Masse der Lehrer, und zwar gerade des jüngeren Nachwuchses, bestenfalls eine Methodik scheinbarer, nämlich an der Oberfläche sichtbarer, Lebhaftigkeit sich anlernen, dabei aber geistig in Wahrheit ausserstande sind, so hohen Anforderungen, wie sie nach den amtlichen Anweisungen für Unterricht und daneben psychologisch-pädagogische Leistungen gestellt werden, zu entsprechen. Wie kann einer, mit Rücksicht auf die Konzentration, in 3 Fächern in Prima unterrichten, in allen Fächern für 20-30 Primaner ständig individuelle Aufgaben stellen und daneben noch Sexualerziehung, Berufsberatung, Wanderungen, Schülervereine, Elternversammlungen u. dgl. leisten? Und die Leute, die das leisten sollen, stehen heute weit mehr als früher unter einem wirtschaftlichen Druck, unter dem sie von Anfang an lernen, ihren Beruf als Broterwerb zu ertragen.
Bei dem ausserordentlichen Einfluss, den heute die Tagesströmungen, die Presse und die Politik auf die Pädagogik haben, ist es die erste Pflicht der Vertreter der wissenschaftlichen Pädagogik an den Universitäten, sich unabhängig von all diesen Strömungen ein streng sachliches Urteil über das Richtige und Gute zu bewahren. Was uns fehlt ist heute noch dasselbe wie früher: eine wahrhaft wissenschaftliche Pädagogik, die als Richtschnur und Orientierung dient, ebenso wie eine bedeutende theoretische Nationalökonomie stets von den Wirtschaftsführern und Politikern beachtet worden ist. Ich selbst habe stets gewünscht, in dieser Richtung zu arbeiten und schweige seit langen Jahren deswegen, weil ich in den Modeströmungen, mit denen man heute Karriere macht, nicht mitreden will. Sehr schlimm ist auch die Trennung der Pädagogischen Akademien von der echten Universitätswissenschaft. So werden diese Akademien von vornherein unter den Druck der Tagespädagogik gestellt. Ich kenne auch Studenten der Akademien, die mit dem Betrieb dort nicht einverstanden sind, und es ist mir von solchen erzählt worden, dass der Unterricht dort dogmatisch sei und andere Ansichten nicht gerne gehört würden!
Mit den besten Empfehlungen
Ihr ergebenster
gez. Dr. W. ; von: Sche... ?, W. an: Litt; Ort: Harburg-Wilhelmsburg |