Bemerkungen | Dokumentenabschrift: gehört zu Zuschriften veranlaßt durch den Angriff von L. Würtenberg gegen Litt im Philologenblatt.
Sehr geehrter Herr Professor Litt!
Wenn ich mich Ihnen in der Unterschrift als alten Bekannten u. Freund Ihres Vaters vorstelle, so bitte ich in mir nicht einen überalterten Reaktionär, einen der "ewig Gestrigen" zu sehen, dem der Geist stumpf geworden u. der nicht mehr dem "Fortschritt" zu huldigen verstehe. Ich habe im Phil. Blatt die Kontroverse mit dem Düsseldorfer Fortschrittsmann gelesen, der es aber - wenn er nicht auch vom Rausch der Worte benebelt ist - mit seiner Sache ernst zu sein scheint. Und ich möchte Ihnen aus meiner langjährigen Erfahrung heraus (Erfahrung u. Tatsachen werden freilich heute wenig geschätzt) in vielen sekundieren u. Sie bitten: Lassen Sie nicht nach in Ihrem Kampf gegen die Irrungen u. Wirrungen einer Schulreform, die mit ihren verstiegenen Forderungen u. überspannten Ansichten von der Aufnahmefähigkeit der Jugend die Schule in Grund und Boden hinein reformieren wird. Sie entspricht ganz und gar dem Geist der Zeit, der Oberflächlichkeit ihres Denkens, der Flucht ihrer Anschauungen, von denen <...> die andern verdrängt u. s.w. kurz der Zerrissenheit alles geistigen Innenlebens. Sie will Synthese ohne Analyse, ergebnisse ohne ernste Arbeit u. erzieht zu eben der Oberflächlichkeit, die unsre ganze Zeit charakterisiert statt ihr festen Daumen solider Arbeit entgegenzuhalten u. dadurch zur Urteilsbildung die Grundlagen, sachlich u. formal, zu schaffen. Der ganze Dünkel der Unbildung wie er sich zumal im seelischen Leben breit macht findet in dieser Schulreform seinen Ausdruck. Im Grunde liegt ihr diesselbe Annahme unter wie in unsrer neuen Staatsverfassung, daß namlich vorher alles schlecht u. <...> gewesen sei, daß d. Schulmeister elende Pauker gewesen seien, ohne jedes Verständnis für die Jugend, geistlose Systematiker u. Folterknechte. Man erfand die Schlagworte Lernschule u. Arbeitsschule.
Mit diesem Arbeitsunterricht betrügt man sich selbst. <...> wüßte kaum einer was daraus zu machen sei, dann kamen die "ewig Fortschrittlichen" schriebn Bände, schufen Zeitschriften u. da keiner rückschrittlich erscheinen möchte, ward's Mode und man tat als ob der Nürnberger Trichter nun endlich gefunden sei, freilich kein Trichter sondern der herausdestillierte läuft zu <...> Geist der Dilthey u.a.
Aber glauben Sie wirklich, daß dieser sog. Arbeitsunterricht wirklich stattfindet? Glauben Sie daß in Klassen von 30, 40, 50 Schülern dabei wirklich etwas herauskomme, wenn nicht die feste Hand des Lehrers diese Schar regiert? Glauben Sie wirklich, daß eine "neue Schule" geworden ist? Seien Sie versichert, daß im ganzen alles beim alten geblieben ist, nur daß nichts mehr geleistet wird. Und darunter <...> niemand mehr als die Lehrer. Als ich vor Kurze, in einer großen Philologenversammlung der Provinz Westf. diese Dinge , da flammte es auf in der Zustimmung der Teilnehmer, daß der Unterricht freudlos geworden sei, mit dem Lehrer das beste fehle: der Erfolg. Daran ist natürlich auch vieles andere schuldig, was mit d. Reform zusammenhängt: der Mangel an Zeit, die vielen Unterbrechungen im Unterricht die Unklarheit über das Ziel des Unterrichts.
Die Leistungen sind beschamend gesunken - sie waren es auch schon vor 1914. Aber jetzt wirklich niederschmetternd! Seit meiner zur Ruhesetzung 1925 habe ich an einer Oberrealsch., einem Gymnas., einem Oberlyzeum unterrichtet u. darf sagen als kein ungeschätzter Lehrer. Schein u. Schwindel ist's mit den Resultaten. Der Kultusminister Becker klagte vor kurzem über die zunehmende Masse der Abiturienten. Ich schrieb ihm darauf: "Die Schule schafft keine Auslese mehr, die Lehrer haben kein festes Urteil über d. Schüler u. versetzen zu leicht. Es fehlt ein handfester Minimalplan. Machen Sie eine Probe u. geben Sie einmal für den ganzen Staat die Abiturientenaufgaben aber verhindern Sie alles Mogeln von Schülern u. Lehrern u. sie werden Ihr blaues Wunder erleben." So ungefähr, ausführlicher begründet, schrieb ich. Ich werde wohl kaum eine Antwort bekommen.
Die traurigste Rolle bei der Sache spielt der Phil. Verband, der zu einer Lohngewerkschaft herabgesunken ist u. dessen Spitzen nur die eine Sorge haben, daß der Verband nicht auseinanderfällt. Daher seine schwächliche Haltung! So beim Skandal an der W. Siemensschule in Berlin! Und nun macht man mit, um sich nicht unbeliebt zu machen. Die "Persönlichkeit" des Lehres, sein wissensch. Ernst, sein Können, seine Gewissenhaftigkeit ist freilich alles. Aber wo sind heute diese Persönlichkeiten? Die besten unter den Philologen bleiben im Hintergrund - Resignation in der Tat!! Aber Ihr Wort gilt etwas, in einem altem Schulmann wie mir sieht man nur den Reaktionär. Halten Sie die Fahne der alten Lernschule hoch, in der gelernt wird. Das ist eine Mission, wichtiger u. wertvoller als Bücher schreiben! In dieser Hoffnung grüße ich Sie! Ihr ergebener Dr. Maurer, Geheimer Studienrat. 1895-1901 Klosterstraße in Düsseldorf.; von: Maurer an: Litt; Ort: München |