Bemerkungen | Dokumentenabschrift: gehört zu Zuschriften veranlaßt durch den Angriff von L. Würtenberg gegen Litt im Philologenblatt.
Hochgeehrter Herr Professor!
Seit langem interessierter Beobachter des Streits, der um Ihre pädagogische Lehre geht, erlaube ich mir im Anschluss an Ihre "Entgegnung" im deutschen Philologenblatt 1929 Heft 3 folgendes vorzutragen. Der Angriff Würtenbergs war durchaus verfehlt. Aber ich frage mich, ob Ihr Kampf gegen die Reform doch nicht auch manchmal ehrliche Bedenken wecken kann, und zwar um so mehr, als sicher viele Ihnen beistimmen werden, die auch Sie als Ihre Gefolgsleute ablehnen würden. Denn es berufen sich viele, gar viele auf Sie, die Ihnen geistig völlig fernstehen. Und das macht mich stutzig. Ich werde Ihnen, sehr geehrter Herr Professor, kaum etwas Neues sagen, wenn ich betone, dass sich die "alte Schule" wirklich überlebt hat. Die Abneigung, ja auch der Hass der Eltern und Schüler ging oft so weit, dass sie vor den schärfsten Bezeichnungen nicht zurückschreckten. Ich stehe seit 1900 im praktischen Schuldienst und bin seit etwa 15 Jahren Direktor (in Berlin, Fürstenwalde (Spree), Lübeck), ich habe zahlreiche Philologenversammlungen u.a. besucht und in den verschiedensten Städten Beziehungen zu Schulen und Eltern aufgenommen. Ich darf sagen, ich kenne Lehrer, Eltern und Schüler und ihre Mentalität. In bescheidenen Grenzen habe ich seit Beginn meiner Lehrtätigkeit gegen das Verrostete und Mechanische gekämpft, und das ist ganz bestimmt auch Ihr Wille. Aber das Mechanische und Verrostete liegt doch noch vielfach über der Schule. So ist die neue Bewegung ein Vorstoss dagegen und die Träger dieser Bewegung lassen sich vom Sturm und Drang mitfortreissen. Ich kann es nicht verurteilen, wenn dieser Sturm und Drang in grossen Teilen der Lehrerschaft wirksam ist, selbst wenn viele oft über das Ziel hinausschiessen. Denn ich kenne auch Lehrer (nicht nur einzelne), die keinen Hauch davon verspürt haben und prinzipiell alles Neue ablehnen, wie die Brotgelehrten in Schillers Antrittsrede. Und darin liegt alles Leid unserer Schule. So hat denn unser Stand noch immer nicht das gebührende Ansehen im Volk. Allzuviele sind in Kleinlichkeiten und Spiessbürgerlichkeit stecken geblieben und haben überhaupt keine lebendige Fühlung mit der Jugend gewonnen. Es ist doch tieftraurig, dass die Schülerschaft noch immer zu grossen Teilen ihre Lehrerschaft ablenht. Denn sie findet in dieser nicht die Führung, auf die sie ein natürliches Recht hat. Deutlich sichtbar steigt ein neues Weltbild herauf. Die ältere Generation weist es vielfach noch zurück, aber die Jugend schliesst sich ihm an und will von den neuen Problemen wissen, die die Menschheit beschäftigen. Die Jugendbewegung ist in ein neues Stadium getreten: Das wirkt sich alles in Lehrverfassung, Pensenverteilung und Methodik der einzelnen Lehrfächer aus. Die "Illusionen" soweit sie das wirklich sind, zerflattern doch bald, bei Lehrern wie Schülern. Die Reform ist nicht gemacht, sondern geworden, und das Gesunde setzt sich unter allen Umständen durch. Wertvoll wird es aber immer bleiben, wenn ein so treuer Warner wie Sie am Steuer steht, der uns richtig an Klippen vorbeizuführen weiss. Aber glauben Sie, sehr geehrter Herr Professor, auch Sie erzeugen "Unsicherheit und Mutlosigkeit" bei vielen Lehrern, die mit ihrem ganzen Kopf und Herzen bei dem Neuen stehen, wenn Sie, einer unserer Führer, den Reformen und ihren doch noch immer anfänglichen Leistungen gegenüber in "einen Zustand tiefer Entmutigung" geraten. Und das wäre ein rechter Schade, ebenso gross wie der Schade der von denjenigen ausgeht, die ganz fälschlich Sie als ihren Bannerträger ausrufen, um ihre eigene Blösse zu verdecken.
In vorzüglicher Hochachtung,
hochgeehrter Herr Professor, bin ich
Ihr sehr ergebener
gez. Prof.Dr. Georg Ro...
Oberstudiendirektor des Katharineums; von: Ro...., Georg an: Litt; Ort: Lübeck |