Bemerkungen | Dokumentenabschrift: Hochverehrter Herr Kollege!
Sie müßen mich für ebenso undankbar wie leichtfertig halten, weil ich seit Jahr und Tag Ihre freundlichen literarischen Sendungen hinnehme, ohne sie zu beantworten. Da ber jene beiden genannten Eigenschaften nicht gerade besonders charakteristisch für mich sind, müßen offenbar andere Gründe für mein Dauerschweigen vorhanden sein. Ich übergehe sie in ihrer Mehrheit, um nur auf einen inneren Grund hinzuweisen. Es ist dieser: ich wollte natürlich Ihnen nicht nur danken, sondern auch über das von Ihnen Gesagte schreiben. Voriges Jahr hatte ich in der Schweiz - in königlicher Lage im Tessin nördlich Lugano - zwei Ihrer Aufsätze mit, um sie gründlich zu beantworten. Es stellte sich jedoch heraus, daß es nicht anging, dies oder jenes zu berühren, sondern daß ich, sollte es eine wirkliche Antwort sein, Ihnen Arbeiten von mindestens demselben Umfang zu schreiben gehabt hätte, was angesichts der anderen, ach oft unerwünschten aber notwendigen Beschäftigungen über meine Kräfte ging. Ich meine das so: Ihre Arbeiten sind von so großer Formvollendung, geistiger Geschlossenheit und Untadligkeit ihrer Existenz, daß es zwecklos wäre, sich an dies oder jenes zu hängen. Wenn ich das in meiner Arbeit über Geschichtsphilosophie und Utopie in einem Fall scheinbar doch getan habe, so hat das mit dem Wesen Ihres Aufsatzes wenig zu tun, sondern dient der Erläuterung eines allgemeinen Sachverhaltes. Die "Gestalt" Ihrer Arbeiten kann und mag ich nicht zerstören, und doch ist meine Betrachtungsart nicht diegleiche. Wie gesagt, nicht Einzelerörterungen könnten das belegen, sondern nur ein Parallelaufbau. Wenn ich es wagen darf, das, was ich meine, auf eine kurze Formel zu bringen, so ist es wohl die, daß Sie Ihre Erkenntnis nicht nur anhangweise in ein Sollen ausmünden lassen, sondern gleichsam von vornherein sollenmäßig angelegt haben und mit volendeter Sicherheit zum gewollten Ziel führen. Ich hingegen bin zwar von der Notwendigkeit des Sollens und der lebendigen Begründung desselben tief durchdrungen, vermag sie aber nicht unmittelbar aus Prämissen historischer Erkenntnis abzuleiten, sondern allein aus religiös-metaphysischen Axiomen. Vielleicht darf ich sagen, daß Ihre Weltschau und Ihre Lebenslehre ethisch-nomistischer Art ist, während für mich alle historischen Erkenntnis im tragischen Bereich bleibt. Ich weiß nicht, ob Sie diesen Gegenüberstellungsversuch billigen. Jedenfalls aber wissen Sie die von mir genannten Schlagworte so zu beleben, wie sie mir vor der Seele stehen.
Ihrer Deutungsart und Formbeherrschung habe ich nichts an die Seite oder gar entgegenzustellen. Mein Bemühen ist allein darauf gerichtet, eine Gesamtschau der "Geschichte" genannten Form des Lebens in mir auszubilden, die als Werk rein historischer Fantasie nicht ohne tragische Note sein kann, obschon und weil sie sich bemüht, überall das eigentlich Schöpferische herauszuheben. Ich habe bisher nur kleine, knappst gefügte Konzeptionen veröffentlicht. Wer weiß, ob es mir gelingt, wenigstens ein großes Thema, die allgemeine (d.h. Welt-) Geschichte der "Revolution, die allem geschichtlichen Leben eingestiftet ist und deren historisches System mir ziemlich klar im Geist steht, auszuarbeiten.
Ich brauche Sie nach allem Gesagten nicht mehr meines Dankes für Ihre Gaben, für deren Schönheit niemand mehr Verständnis haben dürfte als ich, zu versichern. Immer bleibe ich mit den besten Empfehlungen Ihr
Ihnen aufrichtig ergebener
gez. Johannes Kühn
Als ich am Morgen des 25. diesen Brief und zur Bahn mitnehmen will, erhalte ich Ihre neue Sendung. Vielen Dank dafür, sie freut mich sehr, und ich nehme sie mit auf die Reise.; von: Kühn, Johannes an: Litt; Ort: Ziegelhausen bei Heidelberg |