Bestand:Privatarchiv Litt, Theodor
SignaturNA Litt, Theodor B 1-0603
TitelBrief von: Litt (Bonn) an: Jónasson, Gabriele
Enthälths; Brief 4 Blatt Kopie A4 keine Angaben zur Herkunft der Kopien
Zeitvon1955
Zeitbis1955
BemerkungenDokumentenabschrift: Liebe Frau Jónasson! Es hat mich aufrichtig gefreut, nach langer, allzulanger Pause von dem Ergehen von Familie Jónasson so ausführlich zu hören. Ihr Mann hat ja wohl die Karte erhalten, in der ich, zunächst ohne Erfolg, darum bat, das lange Schweigen zu brechen. Auch Steger, der mich jüngst besuchte, äusserte sich sehr betrübt über das Ausbleiben von Nachrichten. Es tut doch wohl, mit denen in Zusammenhang zu bleiben, mit denen man in schweren Zeiten zusammengestanden hat. Ist man erst in mein Alter gelangt, dann wird dies Bedürfnis immer stärker. Es war mir eine Seelenlabung, jüngst mit der Abiturientin zusammenzusein, die ich 1910 ins Examen geführt hatte. Von der Grösse der Arbeitslast, die Sie Jahrelang zu tragen hatten, kann ich mir wahrlich ein Bild machen. Allerdings: Frau Gabriele sich mit gebleichtem Haar vorzustellen - das fällt schwer, obwohl ich weiss, dass Sie nie gewohnt waren, die Dinge leicht zu nehmen. Die Last des Daseins wird dem einen früher auf die Schulter gelegt als dem anderen. Ich habe sie erst auf der Höhe des Mannesalters so richtig kennengelernt. Wahrscheinlich wäre blutnötig, dass Sie einmal richtig und für längere Zeit ausspannten. Ich beobachte es, wie schnell sich relativ junge Menschen in diesem Daseinsgehetze aufbrauchen. Wir Alten haben aus unserer unbeschwerten Jugend viel kräftigere Reserven mitgebracht. Sigrun und Björn mir in ihren jetzigen Dimensionen vorzustellen fällt mir schwer. Aber gerade an dem Emporschiessen des jungen Geschlechts ermisst man sein eigenes Altwerden. Hätte ich Enkel, so würde ich das noch eindringlicher erleben. Aber leider hat unser Rudolf bis jetzt nicht geheiratet, obwohl es nicht an Freundinnen fehlt. Dass bei Ihnen die Kinder so früh heran müssen, hat bestimmt sein Gutes. Dass meine Generation so umhegt und geschont herangewachsen ist, hat sie gegenüber gewissen Anforderungen der schweren Zeiten so wehrlos gemacht. Dass es dem westlichen Deutschland schon wieder so gut geht, tut ihm innerlich ohne Zweifel nicht gut. Man vergisst viel zu schnell, was nicht vergessen werden darf. Über Ihre Mannes Tüchtigkeit im Hausbau wundere ich mich nicht. Was hat er damals noch in der Zeit geleistet, da seine Lunge schon angegriffen war! Es sollte mich wundern, wenn er sich während dieser Arbeit auch geistig viel hätte abverlangen können. Ein Jammer, dass Sie so weit wegwohnen und ich mir Ihr Gehäuse nicht ansehen kann. Als Sie in Möckern wohnten war es bequemer. Übrigens haben wir hier eine kleine Wohnung erobert, die uns den Blick auf das Siebengebirge gewährt - für mich eine täglich sich erneuernde Erquickung. Ja kann mir deshalb vorstellen, was die Aussicht aus Ihrer Wohnung bedeutet. Fünf Jahre haben wir hier zwischen lauter Mauern gehaust. Dabei kann auch ein seelisch gesunder Mensch trübsinnig werden. Dass nun Ihre gute Mutter auch so heimgesucht ist, höre ich mit herzlicher Betrübnis. Solche Zustände können zusammen mit dem Erkrankten selbst die Umgebung unbeschreiblich peinigen. Von einer Besserung ist bei meiner Frau keine Rede. Behandlungen mit Elektro-Schock haben nur vorübergehende Auflockerung gebracht. Es wird wohl so sein, dass in disem Alter mit wirklicher Besserung nicht zu rechnen ist. Es ist tief schmerzlich, wenn man einen geliebten Menschen so gleichsam ins Wesenslose zurückgleiten sieht. Ich bin natürlich emeritiert, lese aber noch ein einstündiges Kolleg und bin im Übrigen viel zu Vorträgen, Tagungen, Kongressen unterwegs. Es lässt sich nicht verheimlichen, dass dieser Geschäftigkeit wenigstens zum Teil ein Fluchtbedürfnis zu Grunde liegt. Es ist daheim manchmal unsagbar drückend. Vor einigen Monaten ist übrigens ein alter Freund von Ihnen gestorben: Dr. Fruin, den ich wiederholt in Amsterdam besucht habe und der bis zum letzten Zusammensein ganz der Alte war. Und nun seien Sie mit Ihren Lieben herzlich gegrüsst von Ihrem Th. Litt u. Frau; von: Litt an: Jónasson, Gabriele; Ort: Bonn