Bemerkungen | Dokumentenabschrift: Sehr verehrter Herr Professor!
Sie haben sich vor einem halben Jahr so bereitwillig der uneigennützigen Lektüre des ersten Teils meiner Heideggerarbeit unterzogen, daß ich Mut gefaßt habe, Ihnen einige Gedanken vorzutragen, die Sie unmittelbarer interessieren dürften, da sie der Auseinandersetzung mit Ihren philosophischen Darlegungen gewidmet sind. Ich habe das Bedürfnis, sie Ihnen vorzutragen, deswegen, weil ich glaube, daß in ihnen weniger eine sachliche Differenz als eine Konsequenz zutagetritt, die sich bei der Aneignung Ihrer Gedanken ergeben hat (vgl. Ihr Hegelbuch, Schlußwort).
Es handelt sich um die zentrale Frage des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem, das Sie immer wieder von den verschiedensten Seiten her behandelt haben.
Sie betonen nachdrücklich die Übereinstimmung als Miteinander- und Zugleichsein beider Faktoren in der Wirklichkeit. Die Möglichkeit einer radikalen Realgeschiedenheit wird von Ihnen energisch bestritten. Noologie und Einzelwissenschaften bilden nur zusammen die Wahrheit; Apriori und Aposteriori bilden nur zusammen die ihre Metaphysik mitenthaltende Geisteswissenschaft; die eine sich durch die sprachlich modifizierten Stufen der Wahrheit durchhaltende Sprache des Lebens ist ebenfalls ein Zeugnis dieses realen Miteinanders. So mündet die Analyse unter dem Gesichtspunkt der Übereinstimmung stets in der Einsicht, das zwischen Allgemeinem und Besonderem ein "Verschränkungsverhältnis" walte.
Das, was sich auf dieser Stufe der Betrachtung schließlich als miteinander verschränkt herausstellt, wird von Ihnen hinsichtlich seiner Differenz vom je anderen Faktor in den Ausführungen über den "Stufenbau der Wahrheit" auseinandergelegt. Für diese Stufen ist charakteristisch, daß ihr Vollzug eine zeitliche Ordnung innehalten und nicht in einem Subjekt vollständig geschehen muß. Die Haltung des Alltagsmenschen, des Einzelwissenschaftlers, auch die des Transzendentalphilosophen ist eine solche, die nicht, wie Hegel, bis zur letzten Stufe vorgedrungen ist.
Durch eine ausführliche Erörterung wird die Besonderheit der einzelnen Stufen im Verhältnis zu den übrigen jeweils aufgedeckt, die Realgeschiedenheit als Sachverschiedenheit begriffen. Diese Analysen werden, wie mir scheint, in den eingehenden kritischen Bemerkungen und Darlegungen zu Heidegger (Mensch und Welt, Anmerkung 60) am prägnantesten zusammengefaßt, wenn Sie von der "Umwendung" sprechen, die jedesmal notwendig ist, um die nächst höhere Stufe reflexiv zu erreichen. Sie kritisieren dort alle diejenigen, die glauben, das Allgemeine in der bloßen Fortführung (Explikation) des Besonderen gewinnen zu können. Die Theorie der Hermeneutik könne nicht selbst wieder Hermeneutik sein.
Zu denselben Ergebnissen gelangen Sie, wenn Sie sich dem Problem der Geschichte zuwenden. Der mit dem Begriff der (je besonderen) Perspektive mitgesetzte Vorzug der Gegenwart ist es, von dem her sich die Parallelität des betreffenden Strukturverhältnisses gewinnen läßt. Die Individualität der Gegenwart liegt darin, daß diese Basis der geschichtlichen Sicht und Verwirklichung, der Vergegenwärtigung, einen Charakter hat, der wesensgemäß einer Eingegliedertheit in eine Ordnung spottet; sondern sich im Vollzuge seiner selbst, in der Zeit sich wandelnd, den verschiedensten Sinn- und Ordnungszusammenhängen gemäß der in ihm sich ausprägenden Freiheit des Menschen zuzuwenden, macht das Wesen des Zeitmoments Gegenwart aus. Unter dem Gesichtspunkt der Freiheit gesehen, ist das Verhältnis der Gegenwarten zueinander wie der in der Gemeinschaft vereinigte Monaden zueinander das der "Unstetigkeit". Die "Verschiebungen und Umgestaltungen", der "Wechsel der Lagen", die das Leben des Menschen und der Gemeinschaften mit sich bringt, (Geschichtswissenschaft u. -philosophie, 36) werden in Ihrer Abhandlung "Die Frage nach dem Sinn der Geschichte" ausführlicher herausgestellt. Der individuelle, unrelationale Charakter der Gegenwart und ihrer Perspektive trutt in Wendungen wie diesen zutage: Sie verlieren an Verbindlichkeit "schon mit dem geringfügigsten Vorrücken der Zeit" (21); dadurch, daß sich das Subjekt "der Vielzahl sukzedierender Zeitpunkte überantwortet findet" (26), bleibt die Individualität der Perspektiven gewahrt. Anschaulich schildern Sie dies durch das "plötzliche" Verdunkeln einer eben noch hellen Landschaft (41), worin die "Unstetigkeit" des "rastlosen Wechsels" (42) prägnant ausgedrückt ist.
Noch klarer kommen jedoch diese Verhältnisse in den "Wegen und Irrwegen des geschichtlichen Denkens" zur Darstellung. Dort wird die in "Denken und Sein" ausführlich enthaltene Analyse der "perspektivischen bzw. gestalteten Zeit" ausgewertet, wenn gesagt wird, daß schon der Akt der jeweiligen Vergegenwärtigung "ein Akt der Erhebung über den "Fluß der Zeit" dastelle (103), wie schon das Wissen dieses Aktes zeigt. Wiederum wird aber hier dagelegt, daß damit das Allgemeine, das Ganze noch nicht erreicht ist: So sehr sieht das Subjekt im Akt der Vergegenwärtigung das darin Vergegenwärtigte Vergangene, daß ihm seine Standortsgebundenheit, seine Gegenwärtigkeit entgeht. "Es bedarf der hinterherkommenden "Reflexion", damit die Struktur des Vorgangs hervortrete" (104). So führt kein stetiger, kontinuierlicher Übergang von der Leibnizisch-gestalteten je besonderen gegenwart zu der allgemeinen, zeitlosen Gegenwart des philosophischen Wissens. Im Haften am Besonderen findet die relationale Gestaltetheit der besonderen Gegenwart ihre Grenze. Zeitliche Wahrheit ist nicht zeitlose, philosophische Wahrheit (107).
Was für das Besondere gilt, zeigen Sie auch für das Allgemeine auf. Ich brauche nur das zuletzt Gesagte fortzuführen. Das Allgemeine, das die Noologie zur Darstellung bringt, hat die räumlich-zeitliche Beschränktheit des einzelwissenschaftlichen Wissens überwunden. Das Nachdenken über die Zeit (zB.) hat die Erringerung eines zeitlosen Wissens über die Zeit zum Ziel (Denken und Sein, 10. Kap.). An der Vorstellung des zeitlos-absoluten Wissens hält auch hier "Hegel" fest. "Fest in sich beruhende Wahrheit" (Die Frage nach dem S. d.G., 43), die "nicht bloß hier oder dort, sondern stets und überall" gilt (44) ist die Voraussetzung nicht bloß der Geschichtsphilosophie, sondern auch des Besonderen selbst, weil ohne dies das Gefüge beider nicht existent wäre.
Wenn ich das in diesen Sätzen Gemeinte kurz zusammenfasse, ergibt sich, daß die anfangs erwähnte Realgeschiedenheit der Stufen der Wahrheit bzw. des Besonderen und des Allgemeinen in der Analyse selbst durchaus beglaubigt und bestätigt wird. Der "Ort" des Besonderen, so möchte ich formulieren, ist nicht der "Ort" des Allgemeine, und umgekehrt. Am deutlichsten wird das zweifellos in der Geschichtlichkeitsbetrachtung, wo sich geschichtliches und übergeschichtliches (in doppelter Bedeutung) Wissen einander gegenüberstehen. Damit scheint die Überseinstimmungsanalyse entkräftet und annulliert.
Zugleich melden sich Bedenken gegen die Differenzialanalyse des Allgemeinen. Während der Gedanke, von dem Besonderen als solchem führe kein Weg zum Allgemeinen, auf Verständnis und Anerkennung rechnen kann, scheint der umgekehrte Gedanke, das Allgemeine finde sich nicht schon und allein im Besonderen, auf Widerspruch zu stoßen. Nimmt man, wie ich, an dieser Differenzialanalyse in diesem Sinne Anstoß, dann schärft sich der Blick für ganz andere Äußerungen in Ihren Werken, die das Bild wesentlich korrigieren. Nicht nur in Übereinstimmungsbetrachtungen, auch in Differenzialuntersuchungen stößt man auf Formulierungen, die vom Zusammenfallen des "Ortes" des Besonderen und des "Ortes" des Allgemeinen reden.
Die Differenzialuntersuchung des "Allgemeinen im Aufbau d. g. E." läuft in die Feststellung aus: "Es ist eine Wohltat zu wissen, daß es möglich ist, ein Besonderes zu sein, ohne der Vereinzelung anheimzufallen, dem Allgemeinen zu leben, ohne im Grenzenlosen zu verfließen..." (63). Und entsprechen: "Zum Absoluten aufsteigend durchbricht der Mensch die Enge der relativen Eingeschlossenheit; zum Relativen herniedersteigend belebt er die Öde der absoluten Aufgeschlossenheit. Tiefer gesehen ist sein Leben nichts anderes als ein stetes Vermitteln zwischen diesen beiden Grenzpunkten. Und jede (!) Deutung der Geschichte ist ein ausgezeichneter Akt solcher Vermittlung" (D. Frage n. d. Sinn, 47f.). In diesem Sinne wird die Verbundenheit des zeitlosen Gehalts mit der zeitlichen Gegenwart "im aktuellen Begreifen" als "Jener tiefste Punkt in mir selbst" herausgestellt (Deneken u. S., 265). Und im 10. Kap. desselben Buches heißt es ganz im Sinne der als philosophische Prinzipienwissenschaft begriffenen Psychologie, daß die Identifizierung nur im jeweiligen Jetzt möglich sei. Der Begriff der Präsenz, der vorher ein von dem zeitlosen Wissen ausgeschlossenes bezeichnete, ist jetzt der umfassende Begriff des Wissens überhaupt, nicht nur eines besonderen Wissens.
Ohne Schwierigkeiten überträgt sich dieser Gedanke auf das Problem der Geschichte. Schon in "Das Allgemeine..." ist davon die rede, daß das Apriori der Geisteswissenschaften dadurch eine besonders komplizierte Gestalt habe, daß es als über die individuelle Lebenserfahrung weit hinausgehend Vermittlings- und Übertragungsprozesse fordere (etwa p. 33), die demnach Geschichtlichkeitscharakter haben müssen, also nicht mehr "Überzeitlich" sein können. Wenn dadurch die starre Übergeschichtlichkeit für das Allgemeine nicht mehr in Frage kommt, fragt sich, ob es bei der reinen Individualität des Besonderen und seiner Unrelationalität sein Bewenden haben kann.
Diese Frage stellen, heißt sie beantworten. Offenbar ist die Unstetigkeit, die durch den Wechsel der Perspektiven und Gegenwarten in der sukzedierenden Zeit zustandekommt, doch nicht Ihr letztes Wort. Stehen die Gegenwarten wirklich so nacheinander , wie es die oben zitierten, a, summativ-äußerlichen Zeitbegriff orientierten Bestimmungen der Individualität erscheinen lassen, dann ist nicht nur der "Übergang" zur Philosophie fraglich, dann hebt sich auch die Vorstellung von der Leibnizisch gestalteten Zeit auf. Allerdings liegt die Kontinuität der Gegenwarten nicht im Gegenwartsmoment der Zeitstruktur, darauf weist der "Vorrang" der Gegenwart richtig hin, wohl aber findet er sich im Vergangenheitsmoment. Indem jede Gegenwart die Vergangenheit im Ganzen wiederholt, dh. sich mit ihr zur Zeitgestalt der Präsenz "verschränkt", bringt sie sich, die Gegenwart, über die Zeitgestalt frei (willig) in eine Relationalität hinein, die nun das Recht verwehrt, von der Gegenwart als einer schlechthin individuellen (unstetigen) zu reden. Doch ich greife vor!
Sie selbst gehen jedenfalls den Weg von der gestalteten Zeit zur Aufhebung der "Ortsmäßigen" Geschiedenheit von Besonderem und Allgemeinem: "Und wenn nun unsere Volk in Anerkennung des durch die Lage Geforderten sich denjenigen Sinnerfüllungen zuwendet, die die jüngste Wendung seiner Geschichte ihm offen hält", wenn es sich also seiner Gegenwart zuwendet, "bricht es dann nicht etwa mit seiner Vergangenheit und sucht es aus dem Nichts ein nie Erhörtes heraufzubeschwören?" Im "Nichts" käme die absolute Individualität zum Ausdruck! Sie fahren aber fort: "Der müßte schlecht um den Reichtum deutschen Lebens Bescheid wissen, der nicht Ansätze und Wegbahnungen gewahrte..." (Sinnfrage, 49). Im "Reichtum" ist die Kontinuität der Gegenwart mit den (ehemaligen) Gegenwarten mitenthalten. Jetzt muß der entscheidende Schritt gegangen werden, um dieser Einsicht im Gegenzuge zu der oben Referierten zum Siege zu verhelfen! Der "Vorzug" der Gegenwart, der oben die weiteren Ausführungen bestimmte, muß fallen: "Es ist jetzt an der Zeit, diese Verhältnisbestimmungen zwar nicht zu widerrufen, wohl aber zu modifizieren." Vergegenwärtigung" ist auch Begegnung der Gegenwart mit einem solchen Nicht-Gegenwärtigen, von dem sie weiß, daß es ihr selbst nicht in seiner originären Gestalt an Gegenwärtigkeit hinter ihr selbst nicht zurückstand, ist also insoweit doch wieder Begegnung gleigestellter Partner" (Geschichstwissenschaft u. -phil., 26). Und weiter heißt es in dieser, die Verhältnisse m.E. besonders glücklich formulierenden Rede: "Die Theorie der geschichtlichen Erkenntnis", also das Allgemeine, "ist zugleich Theorie der geschichtlichen Wirklichkeit", bringt also zugleich schon geschichtlich" Zuerkennendes", Besonderes, auf den Begriff (40). indem in dieser Erörterung, echt Hegelisch, die Differenz zwischen Zuerkennendem (Besonderem) und Erkenntnismethode (Allgemeinem) aufgehoben wird, indem Geschichtwissenschaft und Geschichtsphilosophie überall schon als sich wechselseitig enthaltend aufgedeckt und begriffen werden, wird die Differenz von Allgemeinem und Besonderem radikaler als in der Verschränkungsvorstellung überwunden.
Das Allgemeine tritt nicht mehr später als das Besondere in Erscheinung, sondern zugleich mit diesem. Nur ist dies dem "natürlichen Bewußtsein" nicht bewußt, ihm ist dies Zugleich in ein Nacheinander von Besonderungserscheinung und Allgemeinheitsverständnis zerrissen, weil es erst später von der Philosophie aufgeklärt wird. "An sich" ist das Allgemeine aber schon im Besonderen tätig: Das geschichtliche Allgemeine (in der Form der "geschichtsphilosophischen Besinnung") ist ein "unentbehrliches Ferment der geschichtlichen Bewegung selbst", des geschichtlich Besonderen (Geschichtswiss. u. -phil., 16f.). Die philosophische Betrachtung ergänzt nicht erst das Verständnis des besonderen durch das Verständnis des Allgemeinen, sondern erst wenn Besonderheits- und Allgemeinheitsverständnis zusammenkommen (besser: wechselseitig auseinander entspringen), ist überhaupt erst etwas (Besonderes oder Allgemeines) wahrhaft erkennbar. Dann ist das Besondere selbst schon das Allgemeine und umgekehrt: "Werden und Wirken" des Allgemeinen ist von der "Ausdrücklichen Vergewisserung" seines Allgemeinheitscharakters (17) in dem Sinne unabhängig, daß es - wenn auch nicht voll entfaltet - auch schon ohne die philosophische Einsicht "da" ist. Die Philosophie ist dann nicht hinzufügende Setzung des Allgemeinen zum Besonderen, sondern explikative Setzung des Schon-Vorausgesetzten, dh. des im Besonderen Schon-Darinsitzenden (vgl. Das Allgemeine ..., 37). Nicht das Erscheinen des Allgemeinen ist später als das Erscheinen des Besonderen, sondern nur die Explikation des Allgemeinen folgt dem Begin des Sich-zeigens des Besonderen nach. "Ort" und "Zeit" des Allgemeinem und Besonderen sind dagegen dieselben, wie es der Begriff der "Präsenz" zusammenfaßt.
Die Differenz der beiden Analysen läßt sich jetzt genauer so angeben: Die Methode der erstfererierten Analysen ist durch die Hegelsche Auffassung der Wirklichkeit als des Prozesses des Zusichselbstkommens des Geistes bestimmt. Indem Sie mit Hegel das Wirklichwerden des Wirklichen und damit zugleich das Gewußtwerden des Wissens als einen Prozeß verstehen, der vom Unmittelbaren, Individuellen (des natürlichen Bewußtseins) ausgeht und die Vermittlung dieses Unmittelbaren erst in seinem Verlauf zustandebringt, greifen Sie das Besondere (wie das Allgemeine) als solch Unmittelbares, Unstetiges, Unrelationales (Besonderes) bzw. Relationales, zeitloses (Allgemeines) auf und führen es im Verlauf Ihrer Analysen der Vermittlung zu. Damit liegt, wohl in Verbindung mit ausgeprägten pädagogischen Absichten, der Schwerpunkt der Darstellung der Philosophie in der Hinführung zum höchsten Punkt der Philosophie vom unphilosophischen Wissen her.
Die direkte Konsequenz dieser Methode ist, daß die Vermittlung nicht am "Ort" des Unmittelbaren innerhalb des Prozesses geschieht, sondern später. Von dem Unmittelbaren strahlt die zwingende Forderung auf Verständnis und Vermittlung aus, und als solch Vermittlungsbedürftiges ist es während des ganzen Vermittlungsprozesses in diesem gegenwärtig. Das Gelingen der Vermittlung ist somit an folgende Bedingung geknüpft: Nur in dem Maße, in dem die Untersuchung "am Ende" wieder zu dem Unmittelbaren, das sie in Gang gesetzt hat, zurückkehrt und es aus der Erfahrung des Prozesses modelt und damit revidiert, ist ihre Arbeit von Erfolg gekrönt. Es genügt also nicht, zum höchsten Punkt der Vermittlung (Verschränkung) vorzudringen, der stets als vom Unmittelbaren zeitlich und sachlich "entfernt" aufgefaßt werden muß, sondern erst in der gegenüber der Zeit des Prozesses gegensinnigen Rückkehr zum Unmittelbaren vollendet sich der Prozeß der Vermittlung. Diese Doppelgerichtetheit der philosophischen Methode haben Sie ja in dem ersten Abschnitt Ihres Hegelbuches mit bewundernswertem Geschick geschildert.
Jetzt kann ich methodologisch präzis angeben, woran ich beim Durchdenken Ihrer Darstellung des Problems vom Allgemeinen und Besonderen Anstoß genommen habe: Die von mir zuerst referierten Ausführungen, die m.E. alle innerhalb des jeweiligen Vermittlungsprozesses als "letzte" Äußerung gemeint sind, scheinen mir demjenigen "Teil" des Vermittlungsprozesses zuzugehören, der in der natürlichen Richtung vonstatten geht. Den von mir an zweiter Stelle hervorgehobenen Bemerkungen dagegen würde ich einen Ursprung aus dem gegensinnigen Prozeß zuschreiben. Erst in ihnen scheint mir der philosophische Vermittlungsprozeß zu seinem echten Ende (Telos) gelangt zu sein. Erst in ihnen glaube ich die volle philosophische Wahrheit von mir zu haben.
Das zeigt sich, so viel ich sehe, deutlich, wenn man den Prozeß, das Werden, von Wirklichkeit und Wissen hinsichtlich seines Telos (im Sinne der sich allmählich herausstellenden Gestalt) befragt. Im ersten Falle des in der natürlichen Richtung verlaufenden Prozesses gelangt man von dem Bild nebeneinander liegender Bereiche und Leistungen des Allgemeinen und Besonderen zu der Vorstellung des steten Zusammenwirkens und Miteinanders beider Faktoren. So energisch aber auch die Übereinstimmung betont wird, über das Zusammenwirken zweier Faktoren kommt man so nicht hinaus. Man mag die Geschiedenheit der beiden Faktoren zu überwinden such, indem man sie in ein Individuum verlegt, indem man also die Forderung aufstellt, schon der Alltagsmensch, der Einzelwissenschaftler oder der Transzendentalphilosoph müsse das Allgemeine voll zu erkennen trachten bzw. umgekehrt: auch der Philosoph müsse sich dem Besonderen voll und ganz zuwenden, stets bleibt die Dualität zweier, ursprungmäßig einander fremder Faktoren bestehen.
Führt man dagegen, wie Sie es in den zuletzt referierten Sätzen tun, den Vermittlungsprozeß durch die gegensinnige Gedankenbewegung zu einem echten Ende (Telos), dann modifiziert sich das Bild von Allgemeinem und Besonderem, den ehedem Unmittelbaren, wesentlich über die Vorstellung des "Verschränkungsverhältnisses" hinaus. Das Besondere ist dann nicht mehr, sei es auch nur zeitlich, von dem Allgemeinen entfernt und umgekehrt, sondern als "Gestalt" ist das Wirkliche alternativ allgemein oder besonders bestimmbar. Sowohl die Allgemeinheit wie die Besonderheit des Wirklichen ist überall "präsent". Die "Gestalt" überwindet nicht nur, wie Hönigswald dargelegt hat, die Scheidung "Inhalt-Gegenstand" (der Erkenntnis), sondern auch, woran Ihnen gelegen, die Scheidung von Allgemeinem und Besonderem. Ich habe oben die Stelle zitiert, wo mir diese Einsicht durch die Unterscheidung von gestalthafter (perspektivischer), wesentlich zeitlicher Präsenz und zeitlos-gegenwärtigem (!) Wissen entgegen dem Telos Ihres eigenen Philosophierens willkürlich verdeckt zu sein scheint.
Wie man durch folgerichtige Universalisierung des zunächst innerhalb des "Bereichs" der Psychologie bzw. Biologie gewonnenen Gestaltbegriffs zu einer entsprechenden Behandlung aller Probleme gelangen kann, wie also bei konsequenter Gegenzügigkeit des Gedankens das Unmittelbare aller "Bereiche" durch die "Gestalt" vermittelt werden kann, dh. in einer ursprünglichen realen Einheit gegründet werden kann, dafür haben wiederum Sie selbst ein, wie mir scheint, sehr glückliches Beispiel gegeben. Ich meine Ihre Lösung des Problems der Sozialphilosophie, dessen letzte Darstellung, "Individuum und geschichtliche Gesamtbewegung" (Wege und Irrwege, 67ff.) ich hier heranziehen möchte.
Brauche ich etwas anderes gegen den "rastlosen Wechsel" der Perspektiven und Gegenwarten, der die "Individualität" des Besonderen legitimieren soll, einzuwenden als den Satz: "Es möchte doch sein, daß die Impulse der Einzelwesen, unbeschadet der Einmaligkeit und Besonderheit ihres Ursprungs, sich so ineinanderfügten, daß aus ihrem Zusammentreffen keineswegs jener regel- und zusammenhangslose Wirrwarr entstände ... Ein individuelles Wollen hat nur unter der Voraussetzung Aussicht, sich in Wirklichkeit umzusetzen, daß es die Besonderheit der Lage, in die einzugreifen seine Bestimmung ist, in Anschlag bringt und somit zwischen sich und dem Gegebenen ein gewisses Entsprechungsverhältnis herstellt." Sonst " würde es sich selbst ... aus dem Kreise der geschichtlich wirksamen Kräfte ausschließen" dh. es würde unter solchen Umständen überhaupt nicht (real) sein (69).
Ist damit die Unmittelbarkeit der Individualität aufgehoben, so wird mit der Exposition der je "besonderen Lage", dh. des "Gestaltswandels" (71), dem das geschichtlich Allgemeine ausgesetzt ist, die Zeitlosigkeit des Allgemienen und damit dessen Unmittelbarkeit (als Idee) aufgelöst, worauf oben schon in anderem Zusammenhang hingewiesen wurde. Erst jetzt ist das unstetige Nebeneinander des Besonderen, dh. der Spenglerianismus, und das Spätersein des Allgemeinen, die Reflexionsphilosophie, radikal überwunden.
Das Besondere ist in seiner "Freiheit" zugleich zugleich allgemein, insofern "Freiheit" "Entscheidung" und damit "Sinnalternative" und damit jedenfalls "Sinn" mitmeint; das Allgemeine andererseits ist als "Gestalt" besondert, insofern "Gestalt" "Zeit" und damit "Präsenz" bedeutet.
Aus dem Letzten folgt dann im einzelnen unter anderem die Prozeßhaftigkeit des Philosophierens, die Zeitlichkeit, die Geschichtlichkeit der Philosophie. Solange die Philosophie als zeitlose Entfaltetheit (der Idee) von einer sich rastlos wandelnsen (summativzeitlichen) Realität abgehoben wird, werden beide noch (mit dem natürlichen Bewußtsein) unmittelbar verstanden. Mit der rechten Einsicht in die "Allgemeinheit" des (gestalthaften) Besonderen entfällt die Notwendigkeit einer (platonischen) "Rettung" der dann "zeitlosen" Wahrheit in der "Idee". (Dies übrigens der Sinn der Heideggerschen Kritik des Platonismus von Platon bis Nietzsche.) Zwanglos setzen sich dann die Einsichten auch hinsichtlich der Philosophie durch, die durch Ihre in der (philosophisch-prinzipienwissenschaftlich betriebenen) Kulturpsychologie entspringende Lehre von der Geschichtlichkeit der Kulturerscheinungen (Tradition, Bildung, Erziehung usw.) zu so schönem Ausdruck gelangt sind.
Von hier aus revidiert sich zugleich Ihre Heideggerkritik. Faßt man das Besondere nicht mehr als "bloß" Besonderes, dann bedarf es keiner "Umwendung" mehr, um vom Besonderen zum Allgemeinen zu kommen. Dann läßt sich das Besondere als Grenzwert des Allgemeinen und umgekehrt begreifen (vgl. z.B. Hönigswald, G.W. Leibniz, Tübingen, 1928; 50) und es führt dann in der Tatein kontinuierlicher (in seiner Struktur allerdings in einer besonderen "Theorie der Hermeneutik" noch zu klärender) Weg der Explikation von dem zunächst "mehr" als Besonderes zu dem später "mehr" als Allgemeines (ausgegliederte Struktur) verstandenem "Dasein". Das Existenziale im Existenziellen soll bei Heidegger der Begriff "vorgängiges Seinsverständnis" anzeigen, der die Voraussetzung des noch ausdrücklich Zusetzenden meint. Daß das Existenzielle erst vom ausgebildeten Existenzialen her voll gewürdigt werden und die Rechenschaftsablage auf dieser höchsten Stufe das im Ursprünglichen Angelegte erst voll sichtbar machen könne, kann Heidegger m.E. ganz unterschreiben. Nur ist er ebensowenig wie Sie der Ansicht, daß diese Rechenschaftsablage innerhalb des (einzel)wissenschaftlichen Erkennens stattfinden könne. Wie Sie dafür die "Noologie" reservieren, so er die "Fundamentalontologie" bzw. das "Andenken an das Sein". Bei der Heideggerschen Kritik des Erkennens wird oft nicht darauf Obacht gegeben, daß es sich um das einzelwissenschaftliche (und darum beschränkte) Erkennen und Urteilen handelt. Dies zu "Mensch und Welt", Anm. 16).
Es war mir ein Bedürfnis, Ihnen diese Überlegungen vorzutragen. Jetzt bleibt mir nur noch übrig, Sie vielmals um Verzeihung zu bitten, daß ich Sie so ungebührlich lange in Anspruch genommen habe, und Ihnen zu danken, daß Sie mir bis hierher gefolgt sind.
Mit dem Ausdruck meiner tiefen Verehrung verbleibe ich als Ihr, Ihnen sehr ergebener
gez. Peter Fürstenau; von: Fürstenau, Peter an: Litt; Ort: Berlin-Friedenau |