Bestand:Privatarchiv Litt, Theodor
SignaturNA Litt, Theodor B 1-0585
TitelBrief von: Litt (Bonn) an: Braunbehrens, Hermann von
Enthälths; Brief Doppelblatt A5
Zeitvon1959
Zeitbis1959
BemerkungenDokumentenabschrift: Lieber Herr v. Braunbehrens! Ihr Brief, der nicht gerade von Lebensfreude überquillt, traf auf den rechten Empfänger. Seit fast einem halben Jahr stecke ich in einem Gipskorsett, das mir die Brust einschnürt und die Bewegung des ganzen Körpers behindert. Ein Motorrad hat mich umgeworfen und für Monate in die Klinik befördert. Wirkt dies Unbehagen mit den beklemmenden Eindrücken der Zeit zusammen, so kommt eine Gemütsverfassung heraus, die jeder Äusserung der Entmutigung zustimmt. Aber zunächst herzlichen Dank für die freundlichen Wünsche Ihres Trifoliums! Man ist ja in seinen Ansprüchen ans Dasein recht bescheiden geworden. Der geistige Rückgang bei meiner armen Frau geht unaufhaltsam weiter, und das Zusammenleben ist manchmal sehr schwierig und aufreibend. Ein Glück, dass unser Sohn mit ihr viel Geduld hat und sich mit Erfolg um ihre Aufheiterung bemüht. Er ist in Düsseldorf zum Regierungsrat avanciert und hat sein Feld in der Hochschulabteilung. Ich tue mit ihm manchen lehrreichen Blick hinter die Kulissen. Der Respekt vor der Kollegenschaft, ohnehin beträchtlich gesunken, vermindert sich weiterhin. Ich selbst bin bis zu dem Unfall vielfach tätig gewesen und hoffe ab Februar wieder aktiv werden zu können. Denn: so sehr ich Ihre Stimmung angesichts der Tatsachen verstehe, so wenig kann ich Ihren Folgerungen zustimmen. Sie fragen nach dem "Sinn des sittlichen Tuns". Ich bekämpfe: ohne die unausgesetzte Gegenwirkung des verantwortlichen Gewissens - das es nie zu einem reinen Erfolg bringt - hätte die Menschheit längst sich selbst ausgerottet. Was unsere freie Welt noch an Widerstandskraft besitzt - sie ist nicht ausgestorben - das besteht in dieser Wachsamkeit der Verantwortlichen. Den Utopismus halte ich deshalb für so verderblich, weil er den Glauben an einen vollkommenen Zustand der menschlichen Dinge nährt und so die Bereitschaft lähmt, sich in die ewige Labilität und Umsturzneigung des Menschlichen zu finden. Die letztere in den eigenen Lebensentwurf aufzunehmen - das ist unsere Sache, und wenn wir erzieherisch tätig sind, dann haben wir dieser rechten menschlichen Selbsteinschätzung Boden zu gewinnen. Es ist das Schlimme an dem Prosperitätsenthusiasmus des westlichen Deutschland (aber auch der kommunistischen Fortschrittsideologie), dass er den Menschen hindert, seine eigene Situation richtig zu sehen. Mit Betrübnis höre ich von dem Rückgang Ihrer physischen Kräfte. Ist da nicht auch ein wenig Hypochondrie im Spiele? Bei Kreislaufstörungen kommt es doch sehr auf die seelische Verfassung an. Die italienische Auszeichnung, zu der ich Sie herzlich beglückwünsche, hat Ihnen doch hoffentlich etwas Auftrieb gegeben. Schliesslich müssen Sie doch auch die in ihr liegende "verborgene Gerechtigkeit" anerkennen. Im Übrigen muss ich der Jüngerschen These mit Entschiedenheit widersprechen. Gerade dies scheint mir zum Wesen unserer Daseinsform zu gehören, dass Verdienst und Wert einerseits, soziale Pontin und äusserer Erfolg andererseits so oft erschütternd auseinandergehen. Wie viel Nichtigkeit bläht sich in prominenten Stellungen! Auch das zu sehen gehört, meine ich, zu der rechten menschlichen Selbstbeurteilung. Eigentlich müssten wir uns über alles dies einmal gründlich aussprechen. Das Schreiben ist einstweilen für mich zu mühevoll. Sie haben - beinahe hätte ich respektlos gesagt: eine Abreibung nötig. Ich weiss das deshalb, weil ich selbst ständig gegen die Neigung, die Sache aufzugeben, kämpfen muss. Wir, die wir uns nicht bei Glaubenströstungen welcher Herkunft auch immer beruhigen können, dürfen nicht durch Kapitulation gegen unsere eigene Sache zeugen. Ihnen, Ihrer lieben Frau, deren Lebensenergie ich bewundere, und der demnächstigen Kollegin Beate die herzlichsten Wünshe und Grüsse Ihrer A., R. und Th. Litt; von: Litt an: Braunbehrens, Hermann von; Ort: Bonn