Bemerkungen | Dokumentenabschrift: Hochverehrter Herr Professor:
Wie alljährlich um die Weihnachtszeit darf ich Ihnen auch heute wieder meine und meiner Familie ehrerbietigste Glückwünsche zu Ihrem bevorstehenden Gebrutstag darbringen. Möge Ihnen auch im neuen Lebensjahr alles zuteil werden, was diese Welt an schätzenswerten Gütern zu vergeben hat, wie vor allem Gesundheit, Schaffensfreude und Familienglück: das ist unser aufrichtigster und herzlichster Wunsch! Wenn ich heute unter der wachsenden und manchmal drückenden Last des Amtes und einem spürbaren Nachlassen der physischen Kräfte leider auch nur noch selten dazu komme, das briefliche Zwiegespräch mit Ihnen zu pflegen, so dürfen Sie doch versichert sein, das der innere Dialog mit Ihnen niemals abegrissen ist und das Gefühl der Dankbarkeit und Verehrung für die Maßstäbe rechten Tun und Denkens, die ich durch Lehre und persönliches Beispiel von Ihnen empfangen durfte, ungeschwächte in mir fortlebt. Solche Zeiten, wie ich Sie mit Ihnen gemeinsam miterleben und -erleiden durfte, vergessen sich nie, sondern sind mit unvergänglichen Lettern in das Buch des Lebens eingetragen. Und das Glück einer nachhaltigen und entscheidenden Begegnung widerfährt einem Menschen im Laufe seines Erdendaseins wahrlich nicht so oft, daß er es leicht nehmen und vergessen könnte.
Wenn ich heute an die aufgewühlte Zeit zurückdenke, da ich mich unter Ihrer geistigen Führung auf die Aufgaben des Lebens rüstete, kann ich freilich ein tiefes Gefühl des Ungenügens inbezug auf mich selbst nicht unterdrücken. Soviel man auch am Zurückbleiben hinter den selbstgesetzten Zielen auf die Ungunst der Zeiten, die Entwurzelung aus dem angestammten Boden, Verwundung und Kriegsschicksale abschieben möchte, so untrüglich zeigt doch die Gewissenserforschung, was man sich aus eigener Schwäche und Versagen schuldig blieb. Wahrscheinlich ist es doch so, wie Ernst Jünger es einmal in seinen "Gärten und Straßen" ausgesprochen hat: "Jeder findet im Leben den ihm angemessenen Platz. Wir werden genau mit dem sozialen Potential geboren, das wir verwirklichen". Waltet da nicht vielleicht doch eine verborgene Gerechtigkeit des Lebens?
Aber das sind keine für einen Geburtstagsbrief ziehenden Gedankengänge, und so lassen wir das lieben auf sich beruhen.
Von uns selbst ist soviel zu berichten, daß wir uns - von leider immer stärker werdenden Kreislaufbeschwerden bei mir selbst abgesehen - leidlich wohl befinden. Meine Frau ist in und außer dem Haus nach wie vor unermüdlich tätig und wird wegen ihrer Tüchtigkeit von allen bewundert. Unsere Tochter hat sich nun soweit entschieden, daß sie nach dem Abitur im Juni die Kunstakademie mit dem Ziele der Ausbildung als Kunsterzieherin beziehen möchte, so sie die Begabtenprüfung dafür besteht. Wir hoffen nur, daß sie das Studium auch wirklich zuende führen kann, ehe sie heiratet. In meiner beruflichen Stellung hat sich auch nach meiner Verbeamtung wenig geändert, da ich nach wie vor gegen die kaum verhohlene feindselige Animosität meiner beiden Chefs - des Regierungspräsidenten und seines Stellvertreters - zu kämpfen habe. Das trat auch kürzlich wieder offen zutage, als ich zu ihrem offensichtlichen Mißvergnügen und meiner eigenen Überraschung von der italienischen Regierung für die Förderung der kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Italien mit dem Ritterkreuz des italienischen Verdienstordens, verbunden mit dem Titel eines "Cavliere", ausgezeichnet wurde. Da deutsche Ordensverleihungen nur an Beamte im Ruhestand erfolgen und ausländische Ehrungen bisher an Beamte unserer Regierung nicht vergeben wurden, war ich somit der erste und einzige derartig ausgezeichnete Beamte unserer Behörde, und das war offensichtlich zuviel, als sie verkraften konnten.
Ansonsten ist noch zu berichten, daß wir uns im Sommer einen gebrauchten Volkswagen zugelegt haben, der uns nicht nur im großen Urlaub sicher an Italiens Küsten getragen, sondern uns auf vielen schönen Wochenendausflügen an einsame und idyllische Plätze der Natur gebracht hat. Bei den gegenwärtigen Verkehrsverhältnissen ist freilich jede Fahrt ein Spiel mit dem Leben.
Über die allgemeine geistige und politische Lage möchte ich mich lieber nicht näher äußern, da ich diesbezüglich von einem tiefgehenden Pessimismus und Resignation durchdrungen bin. Unser gesellschaftliches Leben wird immer ausschließlicher vom Gesetz der prosperity und dem Drang zur Anpassung beherrscht. Man fragt sich nun was geschehen wird, wenn etwa die wirtschaftliche Hochkonjunktur einmal in eine Krise umschlägt, oder wir - wie in wenigen Monaten - vor einer lebenswichtigen politischen Entscheidung stehen. Hätten die Widerstandskämpfer des 20. Juli voraussehen können, was nach dem 3. Reich bei uns und in anderen Ländern kommen würde, ich glaube nicht, daß sie dafür ihr Leben, ihre Ehre und ihre Familie geopfert hätten. Es ist doch verdammt schwer, an den Sinn sittlichen Tuns zu glauben, wenn man sich vollkommen klar darüber ist, daß diese Welt sich niemals wandeln wird.
Fragt man sich, was bleibt, so sind es am Ende doch nur die in der wesenhaft personalen Begegnung mit Schicksalgefährten erfahrenen Wahrheitswerte.; von: Braunbehrens, Hermann von an: Litt; Ort: Regensburg |