Bemerkungen | Dokumentenabschrift: Hochverehrter Herr Professor!
Seien Sie herzlichst bedankt für Ihren freundlichen Kartengruß! Auch ich hätte Ihnen längst geschrieben, wenn nicht meine vielen beruflichen Verpflichtungen wieder einmal so überhand genommen hätten, daß ich an den wenigen freien Abenden dringend der Ausspannung und Erholung bedürftig war. Überhaupt macht mein gegenwärtiger Gesundheitszustand einen Urlaub dringend notwendig. Leider werde ich diesen aber kaum vor Ende Juli antreten können, da ich vorher noch zuviel unaufschiebbare Arbeiten zu erledigen habe.
Ihr Besuch und Vortrag in Regensburg war wieder ein großes und schönes Erlebnis für uns, an das wir noch lange zurückdenken werden. Wir sind Ihnen so dankbar dafür, daß Sie die Mühen und Strapazen der langen Reise nicht gescheut haben, um uns wieder einmal mit Ihrer Gegenwart zu erfeuen. Leider war die Zeit des persönlichen Zusammenseins nur zu kurz, um alle nach Aussprache verlangenden Gedanken und Erlebnisse zu besprechen, umso kostbarer aber waren uns die wenigen Stunden der Wiederbegegnung.
Ihr Vortrag war der unbestrittene Höhepunkt unserer Kulturwoche. Was nachher kam, war z.T. noch ganz interessant und gediegen, jedoch kein mitreißendes Erlebnis wie die von Ihnen gegebene Darstellung unserer geistigen Situation. An inhaltlicher Gediegenheit stand Ihren Ausführungen am nächsten noch der Vortrag von Blättner, dessen Thema "Glück und Not der Jugend in unserer Zeit" der subjektiven Deutung freilich einen weit größeren Spielraum ließ, als der Ihrige. So fand ich ihn nicht nur in manchen Punkten ergänzungsbedürftig, sondern in der Analyse nicht immer überzeugungskräftig. Als Ganzes aber konnte man ihn als ordentliche Leistung durchaus akzeptieren, besonders in seiner pädagogischen Gesinnung, die ganz und gar der unsrigen entspricht. Blättners Pädagogik und Psychologie scheint mir durchaus in der Nachfolge von Spranger zu stehen, wobei der philosophische Akzent bei ihm jedoch noch wesentlich stärker zurückzutreten scheint. Eine systematische Leistung von irgendwelcher Originalität wird man von ihm daher auch nicht erwarten dürfen. Aber heutzutage muß man ja schon durchaus zufrieden sein, wenn wenigstens die menschliche Gesinnung rein und anständig ist, und dies darf man nach meinem persönlichen Eindruck bei Blättner ohne Einschränkung bestätigen. Die Art der rhetorischen Darbietung des Vortrags war, wenn auch keine Meisterleistung, so doch ansprechend und ordentlich. Er zeigte sich auf sein Manuskript angewiesen, jedoch nicht sklavisch daran gebunden. Während seines Regensburger Aufenthaltes war ich mehrfach mit ihm im persönlichen Gespräch zusammen, wobei sich eine erfreuliche Übereinstimmung der Überzeugungen herausstellte. Auch meine Frau fand ihn trotz einer gewissen Sprödigkeit seines Wesens im ganzen durchaus sympathisch. Er versprach mir auch, nach geeigneten Positionen im Volksbildungswesen Norddeutschlands für mich Ausschau zu halten, und ein kürzlich von ihm eintreffender Brief bewies mir, daß er dieses Versprechen auch wirklich ernst meinte. Als ich einmal vorsichtig auf den Busch klopfte, wie er sich zu einer Berufung an eine andere Universität verhalten würde, sagte er mir allerdings, daß er Verpflichtungen gegenüber dem Holsteinischen Ministerium habe und außerdem auch wegen seines Alters (60 Jahre) kaum noch Lust zu einer Veränderung verspüre. Danach wird er einem Ruf nach Bonn wohl kaum Folge leisten. So wird Ihnen die Sorge um Ihren Nachfolger wohl kaum durch Blättner abgenommen werden. Ich persönlich - wenn Sie mir dies auszusprechen erlauben - neige ja fast zu der Ansicht, daß Sie in Ihrem Schüler Steger bei den heutigen Verhältnissen an den Universitäten den würdigsten Nachfolger finden würden. Eine kürzlich wiederholte Lektüre verschiedener Arbeiter von ihm hat mich von neuem von seiner überdurchschnittlichen philosophisch-pädagogischen Befähigung überzeugt. Zwar verdankt er zweifellos seine Einsichten zum größten Teil Ihnen, aber er versteht sie doch selbstständig darzustellen und originalauszubauen. Dies gilt besonders für ein mir kürzlich von ihm übermitteltes Manuskript "Gedanken über das Denken". Ohne vorherige Veröffentlichung irgendwelcher Arbeiten von ihm und ohne Habilitation (?) aber würde eine Berufung wahrscheinlich auf unüberwindliche Schwierigkeiten stoßen, und vielleicht sind Sie sogar selbst über die Künheit meines Vorschlags erschrocken?
Wie war denn der Verlauf des von Ihnen inszenierten "anthropologischen Kolloquiums"? Wenn Sie gelegentlich einmal Zeit dafür fänden, würde es mich sehr interessieren, näheres darüber von Ihnen zu hören! Welche Figur machte insbesondere Gehlen dabei?
Auf jeden Fall hoffe ich ja, daß wir uns unter Umständen im Sommer wieder während des Urlaubs in München begegnen werden! Wir haben vor, vom 1.-21. August in Oberaudorf am Inn unseren Urlaub zu verbringen. Es ist jedoch möglich, daß meine Frau in ihrer Eigenschaft als Englisch-Dozentin an unserer Volkshochschule eine dreiwöchige Studienreise nach England machen wird, so daß ich mit Beate allein auf Reisen gehen müßte. Ich werde Sie noch rechtzeitig über die weitere Entwicklung unterrichten.
Die Stelle des Volkshochschuldirektors in Lübeck, um die ich mich auch beworben hatte, ist, wie ich von Blättner hörte, mit einem Universitätsprofessor namens v. Studnitz besetzt worden. Das Überangebot an Geistesarbeitern jeglicher Sparte ist eben einfach zu groß, wobei freilich der Mangel an Persönlichkeiten in noch größerem Gegensatz stehen dürfte als der Mangel an Talenten.
Ehe ich schließe, möchte ich Ihnen, hochverehrter Herr Professor, doch noch sagen dürfen, daß wir Ihr häusliches Leid als unser eigenes empfinden und in Gedanken immer wieder bei Ihrer uns so teuren, verehrten Gattin weilen.; von: Braunbehrens, Hermann von an: Litt; Ort: Regensburg |