Bemerkungen | Dokumentenabschrift: Sehr verehrter, lieber Herr Professor:
An diesem stillen Sonntagvormittag will ich mir heute endlich einmal wieder ein Stündchen nehmen, um Ihnen nach langer Zeit von uns zu berichten. Die schöne Broschüre "Der Mensch vor der Geschichte", die Sie mir übersandten, gab mir den letzten Anstoß dazu. Aber es hätte gewiß nicht erst dieser freundlichen Gabe bedurft, um mich daran zu erinnern. Tatsächlich befinde ich mich nämlich mit Ihnen in einem fortdauernden stillen Zwiegespräch, in dem ich alle meine Gedanken, Sorgen, Befürchtungen und wesentlichen Antriebe meines Handels ständig im geheimen an dem Urteil Ihres strengen, aber gerechten Geistes messe. Diese immer gegenwärtige innere Solidarität, die gewiß nicht erst der ausdrücklichen Bestätigung durch den Austausch von Briefen bedarf, ist auch das einzige, was mich darüber tröstet, wenn ich infolge beruflicher Überlastung manchmal wochen- und monatelang nicht dazu komme, Ihnen zu schreiben. Sie wissen ja, daß die Tätigkeit, an der ich am meisten hänge, nämlich meine pädagogische Wirksamkeit, immer erst in die Abendstunden nach vollbrachtem Tagesdienst fällt, und wenn ich Ihnen ohne Übertreibung berichte, daß ich seit dem Herbst vergangenen Jahres bis in diesen Monat hinein sehr oft jeden Abend in der Woche fest engagiert war, so werden Sie sich gewiß ein Bild von meiner Beanspruchung machen können. So bin ich auch bis heute noch immer nicht dazu gekommen, meinen seit dem Spätherbst handschriftlich fertig abgeschlossenen Vortrag "Vom Erlebnis höchster Augenblicke" in die Maschine zu übertragen, obwohl ich seit langem darauf brenne, Ihr Urteil darüber zu erfahren. In den nächsten Tagen hoffe ich aber nun endlich, diese Arbeit erledigen zu können und Ihnen damit zu zeigen, daß ich keineswegs in meinen wissenschaftlichen Studien schon ganz eingerostet bin.
Ihre Broschüre habe ich gestern abend mit größtem Interesse in einem Zuge ausgelesen und mich dabei wieder einmal so recht an Ihrer klaren Diktion und der logischen Schärfe Ihres Geistes erfreut. Sie faßt in der Tat die Grundgedanken Ihrer letzten geschichtsphilosophischen Schriften nochmals präzis zusammen und entwickelt überzeugend die notwendigen ethischen Folgerungen daraus. Auf Grund meiner eigenen Lehrerfahrung konnte ich aber doch nicht umhin, micht unter dem Lesen immer wieder zu fragen: wieviel Zuhörer mögen wohl imstande gewesen sein, Ihren Gedankengängen auch nur in den Grundlinien einigermaßen zu folgen? Es gehört zu den trübsten, immer wieder neu bestätigten Erfahrungen meiner Wirksamkeit in den letzten Jahren, wie sehr doch die allgemeine Denkkraft auch der sog, Gebildeten ständig im Absinken begriffen ist. Viele Momente tragen dazu bei: die weitverbreitete allgemeine Geringschätzung des Geistes, der als bloßer Intellekt verkannt wird - eine Reihe fertiger Denkmechanismen und der Glaube, daß die Philosophie dem "gesunden Menschenverstand" entsprechen müsse - und endlich zahlreiche emotionale und charakterliche Motive, die den Menschen unserer Tage vor einer illusionslosen Erkenntnis seiner eigenen Lage immer wieder zurückschrecken lassen. In meinen Volkshochschulkursen, in denen ich es größtenteils mit philosophischen Laien zu tun habe, bemühe ich mich selbstverständlich, solche Hindernisse mit großer Geduld und Nachsicht und möglichstem pädagogischen Geschick, d.h. mit Hilfe von ganz elementaren und konkreten Beispielen, allmählich abzubauen. Und hier darf ich mich sogar einiger bescheidener Erfolge rühmen. Anders dagegen in den Kreisen meiner eigenen Volksbildungsleiterkollegen. Hier führe ich natürlich die Diskussion von vornherein mit ganz anderer begrifflicher Schärfe und erspare mir und den anderen nichts. Dabei erlebe ich aber immer von neuem, wie ich so und so oft in die völlige Isolation gerate und einer geschlossenen Front der Ablehnung gegenüberstehe. Man liebt es einfach nicht, wenn man von anderen zur Strenge und Konsequenz des Denkens gezwungen wird und dabei eine Reihe lieb gewordener Vorurteile opfern soll. Wieviel bequemer ist es doch den meisten, statt das Gegebene unerbittlich und klar zu durchdenken, sich allen möglichen Phantasien über die angeblich hinter ihm liegenden Geheimnisse hinzugeben und damit allen trüben Mystizismen Tür und Tor zu öffnen. Hier handelt es sich keineswegs nur um eine Schwäche des Denkens, sondern mindestens ebensosehr um charakterliche Unzulänglichkeiten! Es ist wahrhaft traurig zu sehen, wieviel Kredit man neuerdings auch in "gebildeten" Kreisen wieder allen möglichen Pseudowissenschaften zu schenken bereit ist! Rief mich da doch erst kürzlich ein protestantischer Pfarrer an, um mich zu veranlassen, einen Schweizer Schüler von C. G. Jung namens Alfons Rosenberg in der Volkshochschule über die wissenschaftliche Bedeutung der Astrologie sprechen zu lassen! Der gleiche Mann hatte kurz vorher in der Evangelischen Akademie in Tutzing über das gleiche Thema gesprochen und damit tiefen Eindruck auf die anwesenden Theologen beider Konfessionen erzielt. Vorher war er mir auch bereits von einem früheren Universitätsprofessor der Naturwissenschaft (!) empfehlend ans Herz gelegt worden! Sie können sich denken, daß ich es an Schärfe der Erwiderung gegenüber beiden Herren an nichts habe fehlen lassen, wobei ich dem Herrn Pfarrer übrigens auch nicht verhehlte, daß auf diesem Gebiet die Theologen wissenschaftlich nicht zuständig wären, wenn nicht schon ihre christliche Überzeugung sie angesichts der unabsehbaren ethischen Folgen solcher Pseudowissenschaften vor einer Anfälligkeit gegenüber solcher Zeitkrankheiten schützte.
Ich erwähne dieses Beispiel, dem ich mühelos eine Reihe anderer hinzufügen könnte, nur als Symptom der allgemeinen Geistes verwirrung, die heute bei uns in der Westzone herrscht und die besten Voraussetzungen für den Sieg der ostzonalen Ideologie bildet. Manchmal ist es so trostlos, daß man verzweifeln möchte, und ich denke mit Grauen daran, wie ich einmal die Isolation in dieser Welt ertragen soll, wenn ich nicht mehr in dem Wissen um Ihre Gegenwart Stütze und Halt finde! Zwar haben wir es wohl bei Ihnen gelernt, unsere Entscheidungen und Handlungen aus eigener Gewissensverantwortung zu treffen und zu tragen, aber wenn es nicht ganz Nacht um uns werden soll, so bedürfen wir eben doch der Gewißheit eines Meisters und Freundes, der mit uns den einsamen Weg schreitet.
Es ist ja überhaupt ein tief betrübliches Zeichen unserer Zeit, wie wenig echte Freunde man heutzutage noch findet. Wieviel unendlich stärker war da doch noch die tiefe Gesinnungsgemeinschaft, die uns in der Nazizeit mit allen Gegnern des Systems, gleich welcher weltanschaulichen Coleur im einzelnen, verband! Heute suche ich in Regensburg seit Jahren einen ähnlichen Konnex vergeblich, obwohl ich doch durch meine öffentliche Tätigkeit wahrlich mit genug Menschen in Berührung komme. Für meine Frau und mich gehört es zu den als bitteren Mangel empfundenen Erfahrungen, daß wir in Regensburg trotz zahlreicher Bekannten nicht ein einziges echtes Freundespaar gefunden haben, und, wie die Dinge hier liegen, wahrscheinlich auch nicht finden werden. Wenn auch unsere Ehe dadurch zweifellos viel an Intensität und Tiefe gewonnen hat, so empfinden wir es doch als schmerzliches Manko, das kaum durch anderes ausgeglichen werden kann, denn der Mensch ist nun einmal ein Gemeinwesen, das sich nach echter Begegnung mit anderen sehnt.
Immerhin gibt es da aber einen kleinen Ausgleich in der Treue und Anhänglichkeit, die mir die Teilnehmer meines philosophischen Arbeitskreises in der Volkshochschule sowohl in Regensburg wie in Landshut bewahren. Seit wir in Regensburg wohnen, nimmt nun auch meine Frau regelmäßig an diesen Abenden teil und bewährt sich hinterher als meine unbestechlichste Kritikerin.; von: Braunbehrens, Hermann von an: Litt; Ort: Regensburg |