Bemerkungen | Dokumentenabschrift: Hochverehrter väterlicher Freund und Meister:
Wenn ich mich heute, am Vorabend des heiligen Christfestes, anschicke, Ihnen zu Ihrem bevorstehenden 70. Geburtstag meinen innigsten Dank und meinen herzlichsten Glückwunsch darzubringen, so geschieht dies nicht ohne ein sehr schmerliches Gefühl des Versagens. Um den gewiß auch Sie nicht wenig enttäuschenden Grund dafür sogleich vorwegzunehmen: in der Festschrift der Freunde und Schüler, die Ihnen an diesem Tage überreicht wird, werden Sie umsonst nach einem Beitrag von mir suchen. Während der ganzen letzten Wochen habe ich, verstrickt in Arbeiten und ständig neue Verpflichtungen, vergeblich nach der Ruhe und Konzentration gesucht, die mich zu einer des Abdrucks würdigen Form der Beisteuer zu dieser Schrift befähigt hätte. So mußte ich endlich nach mehreren mißglückten oder unzulänglichen Ansätzen dazu resigniert und tief bedrückt die Feder niederlegen.
Es heißt zwar mit Recht: "wes das Herz voll ist, des geht der Mund über" -, aber nirgends werden die Grenzen menschlicher Aussage wohl so deutlich offenbar, als wo es sich um die Darstellung von Bindungen handelt, deren seelisch-geistige Intensität sich zunächst gegen jedes bewußte Berufen sträubt. Eine natürliche Scham und Scheu, sich selbst zu entblößen oder den also Angesprochenen peinlich zu berühren, zusammen mit dem Bewußtsein der Unzulänglichkeit, die Bedeutung einer das Leben bestimmenden menschlichen Begegnung auch nur hinlänglich zureichend zu umschreiben, setzen hier Schranken, die nur in einer besonders glücklichen Stunde klärender Besinnung überwunden werden können. Wäre ich nicht so sehr in das Joch einer ständig höchste Anspannung fordernden Tätigkeit gespannt gewesen, so hätte gewiß auch ich noch die rechte Form dafür gefunden. So aber mußte ich leider ungenutzt die Frist bis zum Ablieferungstermin der Beiträge verstreichen lassen.
Nun bleibt mir also nur noch die Möglichkeit, wenigstens brieflich das Versäumte so gut ich es vermag nachzuholen. Blicke ich auf die nun etwa 16 Jahre zurück, seit ich das Glück habe, Ihnen begegnet zu sein und Ihrer geistigen Führung teilhaftig zu werden, so sind vor allen anderen die Jahre des gemeinsamen Widerstandes gegen die unser Volk ins Verderben führenden Regenten des dritten Reiches für immer in mein Gedächtnis eingegraben. Wenn je ein junger Mensch der lebendigen Kraft eines beispielgebenden Vorbildes bedürftig war, so wohl nie in dem gleichen Maße, als in jenen furchtbar beklemmenden 12 Jahren nazistischer Herrschaft, da ihn neben der Hoffnung auf das Ende der Machthaber und den Anbruch einer neuen Zeit nur die beglückende Gemeinschaft mit dem niemals schwankenden Lehrer vor dem Verzweifeln zu bewahren vermochte. Daß ich damals in der immer eisiger werdenden Luft der Isolierung und der kaum noch erträglichen Zuspitzung tragischer Konflikte niemals an mir selbst und meiner innersten Überzeugung irre wurde und trotz des immer zunehmenden Unheils nie den Mut ganz verlor -, das verdanke ich in erster Linie Ihnen, mein verehrter Freund und Meister! Das Maß an Kraft, Zuversicht, seelischer Erquickung und Stärke, das ich in all diesen Jahren aus dem Umgang mit Ihnen und - nicht zu vergessen - mit Ihrer unvergleichlich tapferen, Ihnen durchaus ebenbürtigen Lebensgefährtin zog, ist schwerlich in Worten auszudrücken. Wie ungemein erquickt, bereichert und erhoben verließen wir Sie doch in jener dunklen, freudelosen Zeit nach jedem Zusammensein! Wie wirkte jedes Gespräch mit Ihnen, auch wenn es die Irrungen der Zeit noch so unerbittlich durchleuchtet hatte, unverlierbar in die grauen Stimmungen der erzwungenen Gemeinschaft mit der verblendeten Mitwelt hinein! Wie befreiend von all diesem Elend und jede Verbitterung oder Verkrampfung lösend trug uns Ihr niemals versagender weltweiser Humor über alle Niederungen hinweg! Wie tröstend und erhellend, alle räumliche Trennung überbrückend verwandelte jede briefliche Botschaft von Ihnen selbst noch die grausame Öde und Härte des Rußlandfeldzuges, der ich mich als Soldat schutzlos ausgeliefert fand!
Auf alles das vermag ich heute nur mit dem Gefühl tiefer Dankbarkeit zurückzublicken, und so quälend und tief beschämend mir die Erinnerung an jene Zeit mit allen übrigen Erlebnissen ist, so beglückend lebendig ist mir das Geschenk Ihrer menschlichen und geistigen Führung in jenen Tagen gegenwärtig. Aber hier brauche ich, gottlob, nun nicht wie von etwas Vergangenem zu reden, da doch die Intensität dieser Kommunikation unverändert weiterbesteht. Das spüre ich an jedem Tag, da ich lehrend vor andere Menschen hintrete und echte geistige Gemeinschaft unter ihnen zu wirken versuche. Das wird mir ferner in jedem Augenblick dankbar bewußt, in dem ich trotz aller Enttäuschung über die fehlende Wandlungsfähigkeit der verstockten Zeitgenossen die Kraft finde, meine Arbeit unverdrossen fortzusetzen, ohne mich trügerischen Illusionen über ihre Reichweite hinzugeben. Eben diese Fähigkeit, die Wirklichkeit nüchtern - realistisch zu sehen und doch den Glauben an den unbedingten Sinn sittlichen Tuns zu besitzen: das ist vielleicht das Beste, was ich Ihnen und Ihrer geistigen Schulung verdanke.
Aber wer vermag wohl den ganzen Reichtum einer solchen Lehrer-Schüler-Beziehung auszuschöpfen? Rein menschlich gesehen, empfinde ich es als das größte Glück in meiner Beziehung zu Ihnen, daß meine Verehrung für Sie nie durch den geringsten Schatten einer auch nur leisen Enttäuschung gertübt war. Wer weiß, wie sehr selten sich das im Leben zu ereignen pflegt, der kann das in seiner vollen Bedeutung einschätzen. So bekräftige ich denn im Gedanken an Sie aus vollem Herzen den Satz der Marie von Ebner-Eschenbach: "So reich unser Leben an wohlausgenützten Gelegenheiten war, vortrefflichen Menschen nahe zu stehen, so reich ist es überhaupt gewesen."
Möchten Sie denn, hochverehrter Lehrer und Freund, noch viele Jahre wirkend und lehrend unter uns leben, uns mit der Klarheit Ihres Geistes und der Gerechtigkeit Ihres Herzens stärken und uns mit der Wärme Ihrer menschlichen Teilnahme erfreuen! Möchte ein gnädiges Geschick Ihnen die Gesundheit, die jugendliche Frische Ihres Geistes und die Lebendigkeit Ihres Herzens unvermindert erhalten! Möchten Sie endlich - und das ist mein heißester Wunsch für Sie - den Samen Ihres jahrzehntelangen reichen und gesegneten Wirkens in unserem Volke, besonders aber in unserer heranwachsenden Generation aufgehen sehen!
Nehmen Sie bitte diese armseligen Zeilen als bescheidenes Zeichen eines Dankes auf, der zu tief in das innerste Sein des Beschenkten reicht, als daß er sich in Worten aussprechen ließe. Ich weiß, daß ich mich Ihrer am würdigsten erweise, wenn ich Ihrem Vorbild in meiner täglichen Arbeit nachstrebe und niemals Mutlosigkeit und Verzagtheit über mich Herr werden lasse. So werde ich mir auch gestatten, Ihnen meinen jüngst gehaltenen philosophischen Vortrag über "Das Erlebnis höchster Augenblicke" als verspätete Geburtstagsgabe zu überreichen, sobald ich Zeit genug habe, ihn auf die Maschine zu übertragen.
Und nun verleben Sie Ihren Ehrentag in der frohen Gewißheit, daß die Gedanken Ihrer Schüler in Dankbarkeit, Ehrerbietung und fortdauernder Anhänglichkeit bei Ihnen weilen!
In aufrichtiger Verehrung!
Ihr dankbar ergebener Hermann v. Braunbehrens nebst Frau u. Kind; von: Braunbehrens, Hermann von an: Litt; Ort: Regensburg |