Bemerkungen | Dokumentenabschrift: Hochverehrter, lieber Herr Professor:
Sie haben recht getan, mich zur Ausführung meines wiederholt gegebenen Versprechens einer ausführlicheren Berichterstattung energisch aufzumuntern. Es ist, rund herausgesagt, wahrlich eine Schande, wie sehr ich mit brieflichen Nachrichten bei Ihnen in Rückstand gekommen bin. Aber Sie müssen wissen, daß die Ursache hierfür keineswegs nur in einem durch Überhäufung mit beruflichen Arbeiten beinah chronisch gewordenen Zeitmangel lag, sondern mindestens ebenso sehr in gewissen persönlich bedingten Hemmnissen, die mir zuweilen die schriftliche Mitteilung ungemein erschweren. Ich gehöre nun einmal leider nicht zu jenen glücklichen Naturen, die sich nur an den Schreibtisch zu setzen brauchen, damit ihnen die Gedanken in wohlgesetzten Worten in die Feder fließen, sondern ich muß mich - von wenigen besonders mitteilsamen Stimmungen abgesehen - jedesmal regelrecht dazu zwingen, die Scheu vor der schriftlichen Fixierung zu überwinden. Die Abneigung gegen jedes abgegriffene, gespreizte oder banale Wort ist mir so tief eingewurzelt, daß ich beinah ein körperliches Unbehagen spüre, wenn Gedanke und Ausdruck sich mir nicht sogleich zu inneren Konformität fügen. So wird mir das Briefschreiben nicht selten zu keiner leichteren Anstrengung wie jede andere geistige Arbeit.
Doch nun will ich keine Zeit versäumen, die lanmge Spanne des Schweigens so gut wie möglich durch einen gedrängten Bericht über das inzwischen Vorgefallene zu überbrücken. Es ist freilich so viel nachzuholen, daß ich beinah meine Tageskalendernotizen zu Rate ziehen mußte, um ja nichts Wichtiges auszulassen. Zunächst wissen Sie, glaube ich, noch nicht einmal, daß wir seit Mitte Januar dieses Jahres eine wunderbar geräumige und für heutige Verhältnisse direkt komfortable 3 Zimmer-Neubauwohnung in Regensburg bezogen haben, wo wir glücklich und zufrieden uns des wiedervereinigten Familienlebens erfreuen? Diese lang herbeigesehnte Veränderung hat natürlich am meisten dazu beigetragen, uns einen neuen Auftrieb zu geben und die Harmonie unseres Zusammenlebens merklich zu erhöhen. Besonders meine Frau genießt mit immer neuem Behagen die veränderte häusliche Umgebung und kann sich in der Pflege der Räume oft gar nicht genug tun. Vor allem erlaubt uns die Größe der neuen Wohnung, auch einmal einen Gast zu beherbergen, und so malen wir uns mit Vergnügen die Möglichkeit eines neuen Besuches von Ihnen aus. In meiner dienstlichen Stellung bei der Regierung hat sich dagegen leider noch keine Veränderung ergeben. Der Antrag, neue Planstellen für Erwachsenenbildung an den Kreisregierungen einzurichten, lag zwar dem Landtag vor, ist aber durch die ablehnende Haltung der unter Hundhammers Einfluß stehenden CSU nicht uneingeschränkt durchgegangen. So hat man in einem faulen Kompromiß stattdessen beschlossen, den Kreisregierungen die Einrichtung solcher Stellen zu "empfehlen". Da die Kreisregierungen aber praktisch gar nicht die Befugnis haben, neue Planstellen in ihrem Haushaltsplan einzustellen, bleibt damit alles beim Alten, m.a.W. man muß ständig der möglichen Kündigung gewärtig sein, wenn es irgendeinem Sparkommissar einfallen sollte, gerade an dieser Stelle seinen Rechenstift einzusetzen. Außerdem aber wird die Wirksamkeit meines Eintretens für die Interessen der Volksbildung durch den mangelnden Rückhalt eines Respekt einflößenden Titels bei der hier herrschenden Mentalität merklich eingeschränkt. Ich persönlich kann zwar auf solche äußeren Stützen gut und gerne verzichten, aber die Rücksicht auf die Sicherung der Familie und die Zurücksetzung gegenüber den braunen "Mitläufern", die inzwischen von einer Stufe zur anderen emporklettern, wiegen demgegenüber natürlich auch nicht ganz leicht. Vor allem aber könnte doch einmal der Zeitpunkt kommen, da ich aus inneren Gründen hier keine Möglichkeit des Wirkens für mich mehr sähe. Sollte beispielsweise der Hunhammer-Kurs in der bayrischen Kulturpolitik bei der bevorstehenden Landtagswahl einen neuen Triumph feiern, so würde mir damit der Boden für meine Wirksamkeit in unserem streng katholischen Regierungsbezirk mehr und mehr entzogen werden, so daß ich mich mit einem Stellungswechsel vertraut machen müßte. Aus diesem Grunde habe ich inzwischen vorsorglich beziehungen mit einem meiner Geistesart mehr entsprechenden Lande, und zwar in diesem Falle mit Niedersachsen angeknüpft. Veranlaßt wurde ich hierzu besonders durch die Erfahrungen, die ich kürzlich bei der Leitung von zwei Heimlehrgängen in unserem Volksbildungsheim Pelham gemacht habe. Dieses Erlebnis, von dem ich Ihnen später noch einiges Nähere erzählen muß, hat mich nämlich in meinem seit lange bestehenden Wunsch nach einer Heimleiterstelle in einem Volksbildungsheim derart bestärkt, daß ich nunmehr alle Anstrengungen hierauf konzentrieren möchte. Eine diesbezügliche Anfrage bei dem niedersächsischen Kultusministerium hatte insoweit einen vorläufigen Erfolg, daß man mich ernstlich für eine derartige Stelle in Betracht zu ziehen gewillt scheint und mich aufgefordert hat, im Oktober eine Woche lang in verschiedenen niedersächsischen Heimvolkshochschulen zu gastieren, um die Möglichkeiten eines endgültigen Einsatzes zu sondieren. Ich werde dieser Aufforderung auf jeden Fall Folge leisten, und ich kann nur hoffen, daß sich daraus vielleicht ein Berufswechsel entwickeln wird, für den ich dann getrost auch einige Nachteile, wie z.B. Aufgabe unserer schönen neuen Wohnung in Kauf nehmen will.
Soviel über meine gegenwärtigen Berufssorgen. Nun noch ein paar Sätze über Pelham. Die beiden vierzehntätigen Lehrgänge, die ich dort im Juni und August über Grundprobleme der Ethik gehalten habe, waren nach der mitunter doch etwas unbefriedigenden und entmutigenden Arbeit in den Abendkursen meiner eigenen Volkshochschule wahrhaft eine pädagogische Erquickung für mich. In schönster landschaftlicher Umgebung mitten im Chiemgau gelegen, bietet das Heim, das einer Fremdenpension angeschlossen ist, alle Voraussetzungen zu einer seelischen und leiblichen Erholung. Die Lehrgangsteilnehmer beiderlei Geschlechts kommen aus allen Berufs- und Altersschichten, und gerade diese bunte , gegensatzreiche Zusammensetzung des Teilnehmerkreises ergibt meistens die Fruchtbarkeit der Begegnung. Besonders in meinem zweiten Lehrgang im August, an dem auch meine Frau teilnahm, hatte ich eine erfreulich "gemischte" Gesellschaft beisammen, die an geistiger Aufgeschlossenheit, lebendigem Mitgehen und eigenen Anregungen nichts zu wünschen übrig ließ und mir die Arbeit zu einer wirklichen Freude machte. Nicht weniger als 7 Schulmänner aller Sparten waren darunter, aufs harmonischste ergänzt durch sympathische Männlein und Weiblein aus anderen Lebensberufen und - last not least - durch 5 ausgezeichnete Vertreter des Auslandes aus Frankreich, Holland und der Schweiz. Vorträge,Lehrgespräche, Aussprachen wechselten in harmonischer Folge mit Wanderungen, literarisch-musikalischen Feierstunden und geselligen Abenden ab und stifteten in kürzester Zeit ein echtes Gemeinschaftsleben ohne jeglichen Mißton. Kurz und gut, diese Zeit war ein rechter Gewinn für mich und hat mich in der Überzeugung von der Richtigkeit der Vilksbildungsidee ungemein bestärkt. Im Anschluß an den letzten Pelhammer Lehrgang verbrachte ich alsdann noch zehn erholsame Tage mit meiner Frau in Lindau am Bodensee. Ein junges amerikanisches Künstlerehepaar mit seinen beiden sechs- und achtjährigen Kindern, das ich seinerzeit in den USA kennengelernt hatte, war eigens aus Paris, wo es gegenwärtig studienhalber weilt, nach Pelham zu einem Rendevous mit uns gekommen und brachte uns in einer herrlichen Fahrt mit seinem Wagen zum Bodensee. Hier verlebten wir mit den liebenswerten Menschen noch einige mit ergiebigsten Gesprächen ausgefüllte Tage gemeinsam.
Jetzt bin ich nun wieder ganz in die Semesterarbeit eingespannt und habe alle Hände voll zu tun. In meiner philosophischen Arbeitsgemeinschaft behandle ich heuer die Ethik der Neuzeit von Kierkegaard bis Litt! Sie werden erstaunt sein, wenn Sie die Ankündigung in unserem Arbeitsplan lesen, in welcher bunten Gesellschaft (u.a. Ernst Jünger!) Sie sich dort befinden, aber ich hoffe, Sie werden keinen Protest dagegen erheben, wenn Sie darin das Bestreben erkennen, die ethische Grundproblematik dort aufzuspüren, wo sie dem gegenwärtigen Menschen am sinnfälligsten im Schrifttum der Moderne entgegentritt. Um die philosophische Rangordnung brauchen Sie sich bei mir jedenfalls keine Sorge zu machen. Persönlich beschäftigt mich gegenwärtig am meisten die philosophische Durchleuchtung der menschlichen Stimmungen. Ich gebe Heidegger insoweit völlig recht, daß man zu Unrecht diesem Phänomen in der Philosophie viel zu wenig Beachtung geschenkt hat und ich glaube, daß hier noch ein reiches, wenig bearbeitetes Aufgabenfeld für die Philosophie liegt. Die Schulung, die ich bei Ihnen genossen habe, bewahrt mich freilich davor, hieraus so etwas wie eine Metaphysik des Erlebens entwickeln zu wollen. Aber eine strenge Strukturanalyse dieser Erlebnisgestimmtheiten könnte gleichwohl nach meiner Überzeugung eminent wichtige Erkenntnisse für die Anthropologie zutage fördern. Mein unter den Sonderveranstaltungen angekündigter Vortrag "Glück und Schmerz im Erlebnis höchster Augenblicke" (vorletzte Seite des Arbeitsplanes) wird, wie ich hoffe, einen bescheidenen Beitrag dazu liefern. Ich bin glücklich, damit zugleich nach langer Zeit wieder einmal eine zur Veröffentlichung bestimmte philosophische Arbeit anfertigen zu können. Hoffentlich wird sie Gnade vor Ihren Augen finden!
Im mündlichen Vortrag habe ich mir mittlerweile durch Übung und ständige Arbeit an mir selbst eine weit größere Präzision des Ausdrucks und Sicherheit des freien Sprechens angeeignet, die mir das Dozieren wahrhaft zum Genuß macht. Auch in diesem Punkt strebe ich dem mir von Ihnen gegebenen lebendigen Vorbild nach, wobei ich mir freilich seiner Unerreichbarkeit deutlich bewußt bin.
Damit glaube in nun aber mehr als genug von mir selbst gesprochen zu haben, und wende mich abschließend noch einigen anderen nennenswerten Dingen zu.
Die Nachricht von Kippenbergs Tode in Luzern wird gewiß auch schon zu Ihnen gedrungen sein und teilnehmendes Gedenken an den Ihnen nahestehenden Freund der Leipziger Jahre ausgelöst haben? Ich werden dem um die deutsche Kultur und die Wahrung der geistigen Werte der Vergangenheit hochverdienten Manne ein dankbares Andenken bewahren, hat er mir doch in einer Zeit, da ich kaum eine Wirkungsmöglichkeit für mich sah, eine Zuflucht und eine befriedigende Arbeit in seinem Verlag gewährt. Nach dem Kriegsende, stellte er mir ein glänzendes Zeugnis über meine Tätigkeit im Insel Verlag aus und bezeugte darin ausdrücklich seinen Willen, mich so bald wie möglich wieder in seinen Mitarbeiterkreis aufzunehmen. Mir ist als on mit seinem Hingang und dem vorausliegenden von seiner Frau, Ricarda Huch und Ernst Wiechert eine bestimmte Geistesepoche von uns Abschied genommen habe, deren Noblesse, aber auch Verlorenheit in unserer modernen Welt mit ihrem Tode mir noch einmal ganz deutlich geworden ist. Wissen Sie, woran Kippenberg gestorben ist, und gedenken Sie, an seiner Bestattung teilzunehmen?
Von dem Tode eines anderen gemeinsamen Bekannten, nämlich Pfarrer Herbergers, berichtete uns eine Freundin aus Leipzig. Er ist beim Obstpflücken vom Baume gestürzt und anderthalb Tage später, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben, verstorben. Seine Beerdigung unter größter Beteiligung der Bevölkerung ist der Anlaß zu einem öffentlichen Bekenntnis zur christlichen Welt gewesen.
Meine Frau weilte auf der letzten Herbstmesse wiederum für ein paar Tage in Leipzig, kehrte aber leider diesmal gänzlich ohne Erfolg heim, da bei der äußerst strengen Kontrolle die Mitnahme irgendwelchen Hausrates gänzlich unmöglich war.
Von Steger erhielt ich vor einigen Wochen einen ziemlich verzweifelten Brief. Es ist trostlos, daß man ihm nicht helfen kann, aber sein Fehler war, daß er sich nicht zur Flucht aus der Ostzone entschließen konnte, als es noch Zeit dazu war. Immerhin hörte ich zu meiner Freude von ihm, daß Sie sich für ihn um einen Verleger für seine Schrift über "Schicksal und Freiheit" bemühen. Die Ausschnitte, die ich daraus kenne, lassen sie auch mir der Veröffentlichung Wert erscheinen. Rebles Darstellung Ihrer Pädagogik habe ich bisher noch nicht extenso studieren können, die überflogenen Partien machten mir aber durchaus den Eindruck einer sehr gediegenen und sauberen Arbeit. Ich werde das Büchlein bei der Vorbereitung auf meinen philosophischen Kurs in der Volkshochschule gewiß noch eifrig benutzen.
Ihrem Bonner Assistenten Dr. Röder bin ich auch noch die Antwort auf eine Anfrage schuldig. Ich werde mich dieser Pflicht aber gleich morgen entledigen.
Was sagen Sie zur allgemeinen Lage? Ich denke, Sie werden das hysterische Kriegsgeschrei und das Wiedererstehen des deutschen Militarismus mit denselben Abscheugefühlen wie ich begleiten. Es ist wahrhaft grotesk, was für eine völlige Schwenkung die Amerikaner in ihrer Politik gegenüber uns inzwischen vollzogen haben. Selbst auf die Gefahr hin, der Sympathie mit dem Kommunismus verdächtigt zu werden, zögere ich nicht, allen Amerikanern gegenüber deutlich und unverhohlen zu erklären: Remilitarisierung ist gleichbedeutend mit dem Tod der deutschen Demokratie! Der selbstherrliche Herr Adenauer aber sonnt sich wohlgefällig im Glanze einer erborgten Macht. Ich bin nur gespannt, ob sich das deutsche Volk diesseits der Elbe wirklich wieder der Devise "Butter statt Kanonen" verschreiben wird. Die Rüstungsmagnaten reiben sich bereits freudig die Hände und freuen sich auf ihr blutiges Geschäft. Auf der Tagung der deutschen Bürgerrechtsbünde kürzlich in Frankfurt habe ich Gelegenheit genommen, dem aus Amerika zu Gaste bei uns weilenden Prof. Dr. Arnold Brecht in unmißverständlicher Weise meine Empörung über diese Desavouierung der geistigen Aufbauarbeit friedlicher Deutscher durch die Amerikaner zum Ausdruck zu bringen. Wie so viele andere einsichtige Amerikaner schüttelte aber auch er nur resigniert und bekümmert das greise Haupt. Ich denke nicht daran, in dieser Weise enfach vor der brutalen Macht der Berufspolitiker zu kapitulieren.
Verzeihen Sie bitte, daß ich zum Schluß meinem bedrängten Herzen noch so vehement Luft gemacht habe, aber ich denke, Sie werden meine Eregung über diese Dinge wohl verstehen.
Und nun lassen Sie bitte hinsichtlich meines langen Schweigens Gnade vor Recht ergehen und nehmen Sie den reumütig zurückgekehrten "verlorenen Sohn" gütig wieder in die Schar Ihrer Getreuen auf!
Ihnen, Ihrer hochverehrten Frau Gemahlin und Ihrem sympathischen Sohne alles Herzliche von uns Dreien!
In herzlicher Verehrung!
Ihr dankbar ergebener
N.B. Nun sind mir im Laufe des Schreibens die Gedanken und Worte doch sehr viel leichter und reichlicher als im Anfang zugeströmt. Man muß also doch nur die Trägheit des Beginnes überwunden haben - dann fügt sich das andere schon!; von: Braunbehrens, Hermann von an: Litt; Ort: Regensburg |