Bemerkungen | Dokumentenabschrift: Sehr verehrter Herr Professor!
Endlich komme ich dazu, Ihnen für Ihre freundlichen Zeilen, die Sie uns nach Rückkehr von Ihrer Reise sandten, herzlichst zu danken. Wie Sie wissen, war ich ja inzwischen selbst zu der Tagung auf der Comburg verreist, und da auch meine Frau mit Beate zu ihren Verwandten nach Schleswig-Holstein gefahren war, mußte unser häusliches Leben erst wieder etwas ins Lot kommen. Unterdessen werden Sie aber doch wenigstens meinen Kartengruß von der Comburg mit den Unterschriften manches anderen alten Bekannten bekommen haben? Bevor ich aber hierauf näher zu sprechen komme, möchte ich zunächst noch etwas auf Ihren Brief eingehen.
Wir haben uns sehr gefreut, daß es Ihnen bei uns in Eichhofen gefallen hatund auch die weiteren Stationen Ihrer Reise Ihnen erfreuliche Eindrücke eingetragen haben. Noch größer aber war unsere Freude, Sie nach so langer Zeit wieder einmal bei uns haben zu dürfen und uns von der ungebrochenen Frische und Klarsicht Ihres Geistes, wie auch von der Wärme Ihres Herzens erquicken zu lassen. Ihr Besuch in Eichhofen war für alle, die Ihnen begegnet sind, ein großes Erlebnis, von dem noch lange gesprochen wurde und das überall den Wunsch nach einer baldigen Wiederholung hervorrief. (Selbst Beate hat es diesmal nicht gewagt, den Besucher wie sonst schauspielerisch zu imitieren, sondern bezeugte ihren Respekt dadurch, daß sie sich darauf beschränkte, einige ihr aufgefallene physiognomische Merkmale des Gastes anzugeben). Den reichsten Gewinn von Ihrem Besuch aber habe ich selbst gehabt, denn die vielen besinnlichen Gespräche, die wir miteinander geführt und die von neuem aufs schönste unsere innerste Übereinstimmung in allen entscheidenden Fragen des geistigen und politischen Lebens bestätigt haben, werden noch lange in mir nachwirken. Ich befürchte nur, Ihnen ein gar zu ungleichwertiger Gesprächspartner gewesen zu sein, denn da ich nicht im entferntesten über die gleiche Eleganz und Präzision der Ausdrucksweise wie Sie verfüge, sondern im Gegenteil oft durch die Inadäquatheit zwischen meinem unbeholfenen Wort und dem, was ich damit ausdrücken möchte, gehemmt bin, habe ich gewiß manchmal einen recht "tumben" Eindruck auf Sie gemacht.
Mittlerweile habe ich nun auch zu meiner größten Freude Ihre neue geschichtsphilosophische Studie "Wege und Irrwege geschichtlichen Denkens" erhalten und möchte Ihnen meinen allerherzlichsten Dank für diese mir hochwillkommene Gabe sagen! Leider habe ich noch nicht die notwendige Muße gefunden, die Schrift in extenso zu lesen, aber das zweite und das sechste Kapitel, die ich mir inzwischen zu Gemüte geführt habe, sind mir nicht nur für die Führung meiner Rundtischgespräche ungemein zugute gekommen, sondern gehören überhaupt nach Inhalt und Diktion zu dem Besten, was ich je über diese Probleme gelesen habe. Wie sehr ich mich danach auf das ruhige Studium der ganzen Schrift freue, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen. Das Ergebnis der Lektüre hoffe ich Ihnen dann in Form einer Besprechung zugänglich machen zu können. Der besondere Vorzug des Buches scheint mir jedenfalls schon nach den bisher gelesenen Partien darin zu bestehen, daß es, ohne im geringsten der Forderung strengster Begrifflichkeit etwas nachzugeben, aufs intensivste den Erlebnisgehalt eines jeden von uns anspricht, m.a.W. im höchsten Maße "existentiell" ist, ohne in das direkte "Appellieren" so mancher Existentialisten zu verfallen.
Sehr gerne hätte ich auch etwas über Ihre Gedenkrede für Alois Fischer gelesen, aber leider suchte ich den verschiedenen Münchner Zeitungen vergeblich nach einem Bericht darüber. Als ich Dr. Schöningh von der Süddeutschen Zeitung mein Befremden hierüber aussprache, entschuldigte er sich mit der unzureichenden vorherigen Informierung der Redaktionen, die es ihnen häufig unmöglich mache, aus der Fülle der Veranstaltungen die richtige auszuwählen. Dafür sagte er mir wenigstens zu, Ihnen die beiden Nummern seiner Zeitung zuzuschicken, in denen die Ludendorff-Affäre behandelt worden ist. Ist das inzwischen geschehen? Dann werden Sie auch die eigentümliche "Berichtigung" der Kieler Universität gelesen haben, die in Wahrheit nur die vollkommene Bestätigung des behaupteten Sachverhaltes war. Daß sich aber die Universität zu ihrer Entlastung auf die Genehmigung und Förderung der besagten Veranstaltung durch die britische Militärregierung berief, dürfte in mehrfacher Hinsicht für die Geistesverfassung eines großen Teiles unserer Universitätsprofessoren leider symptomatisch sein: der "Untertanenkomplex" scheint auch in unseren höchsten Intelligenzschichten keineswegs überwunden zu sein.
Daß Siemich ins Kuratorium der neuerstandenen Studienstiftung wählen ließen, hat mich umso mehr erfreut, als ich durch Minister Bäuerle und seinen Adlatus Löffler erfuhr, daß es sich dabei keineswegs nur um eine dekorative Funktion handle. Bäuerle ist übrigens wirklich, wie Sie schrieben, eine höchst erfreuliche Erscheinung unter den heute Regierenden - ein Mann von hohem sittlichen Ernst und wirklichem Verantwortungsgefühl, welche Eigenschaften bei ihm durch seinen echt schwäbischen Humor aufs sympathischste vervollkommt werden. Von allen Teilnehmern der Comburger Tagung hat er auf mich menschlich den stärksten Eindruck gemacht. Daß ein amtierender Minister sich heute trotz seiner Überbürdung volle sieben Tage Zeit nimmt, um einer Tagung vom Anfang bis zum Ende beizuwohnen und bei allen Verhandlungen mit stets der gleichen Frische und inneren Anteilnahme zugegen zu sein, dürfte ja schon an sich zu den Kuriositäten gehören. Nicht genug damit, lag aber auch die geistige Führung bei fast allen Auseinanderstzungen unbestritten bei ihm, und wenn das was er zu sagen hatte auch weniger durch seine Originalität, als durch seine Erlebniswärme bestach, so verfehlte es doch nie seinen Eindruck, weil jedes seiner Worte aus wirklicher Leidenserfahrung und ernster Sorge um die deutsche und europäische Zukunft kam.
Damit wäre ich also schon mittendrin in der Schilderung meiner Comburger Erlebnisse. Da ist es nun allerdings schwer, einen Anfang und ein richtiges Ende zu finden, denn die Tagung brachte mit ihrem jeden Tag bis zum Rand füllenden - vielleicht etwas allzu reichhaltigen - Programm eine solche Fülle von Anregungen und Eindrücken, daß man unmöglich auf alles einzelne eingehen kann. Die beiden Hauptthemen waren bekanntlich "Die geistige Situation der Zeit" und die "Ordnung des Volkslebens in Deutschland". Hiervon kam das zweite gegenüber dem ersten zwar etwas stiefmütterlich weg, spielte aber dafür ständig bereits in die Erörterungen über das erste Thema hinein, denn wer die geistigen Wesenszüge der Gegenwart zu enträtseln versucht, gerät damit beinah zwangsläufig auch in die Meditation über das Künftige. Bei den verschiedenen Berichten über die geistige Lage ihrer Länder, die neben Prof. Flitner von je einem Dänen, Schweden und einem Schweizer erstattet wurden, war es nun geradezu frappierend, in allem die Gemeinsamkeit des europäischen Schicksals festzustellen - eine Gemeinsamkeit, die sich nicht nur auf die gleiche Problematik erstreckt, sondern auch in einer durchaus verwandten Seelenlage und Geisteshaltung bekundet. Dies war wohl für alle das stärkste Erlebnis der Tagung, das sich, ohne daß dies beabsichtigt war, so beherrschendausprägte, daß die anwesenden Amerikaner sich geradezu isoliert dadurch fühlten und eine fühlbare Spannung zwischen ihnen und den Europäern entstand. Das zweite von allen Rednern und auch von den Diskussionsteilnehmern immer wieder hervorgehobene Moment war die Forderung nach einer neuen politischen Verantwortlichkeit. Man war sich allgemein klar darüber, daß alle geistige Arbeit, die sich nicht auch auf das Politische erstreckt, uns aus unserer verzweifelten Situation nicht heraushelfen kann.
Wohltuend war vor allem, wie man sich nicht nur allgemein um nüchterne und saubere Begriffsbildung, sondern auch in der Ablehnung jedes konstruierenden Bildungsidealismus einig war. Mag sein, daß uns vielleicht letztlich nur eine religiöse Erneuerung aus unserer Not herausführen und befreien kann -, wir haben das nicht in der Hand, und müssen es auch ablehnen, ein neues Leitbild aufzustellen, nach dem sich fortan alles "auszurichten" hat. Treue Hingabe an die Sache - Besinnung auf das schlicht Menschliche und beispielgebendes Verhalten des Erziehers selbst, das mag sich für manchen als Ergebnis tagelanger, z.T. wirklich sehr subtiler Erörterungen vielleicht etwas dürftig und nüchtern ausnehmen, umschreibt aber dennoch für mein Gefühl gerade das, was uns heute vor allem nottut.
Sympathisch war auch die ganze menschliche Atmosphäre, in der sich die Tagzng abspielte. War auch der Neuling zunächst noch aus dem engeren Kreis der seit vielen Jahren miteinander bekannten Freunde ausgeschlossen, so begegnete doch auch er mit der Zeit zunehmenderen Vertrauen und Wohlwollen. Besonders herzliche Beziehungen gewann ich zu dem Akademieprofessor Pflug, der Ihnen ja auch als Vorgänger Borinskis gut bekannt ist. Borinski fiel allgemein durch geistige Gewandtheit und kluge Intellektualität auf. Sein erzieherischer Optimismus ist bewundernswert, beruht aber sicherlich zu einem Teil mit darauf, daß er die ganze Trostlosigkeit der inneren deutschen Situation während der 12 Jahre nicht miterlebt hat. Menschlich kam ich ihm trotz aufrichtigen Entgegenkommen von meiner Seite leider nicht so nahe wie Pflug. Flitner ist ein feiner, sorgfältig abwägender Gelehrter, der aber leider einen recht kränklichen Eindruck macht und äußerste skeptisch über die Möglichkeiten der Volksbildung denkt. Auch Weniger imponierte durch nüchterne und kritische Denkweise und steuerte manche kluge Bemerkung bei. Nur den Offizier scheint er manchmal noch nicht ganz abgestreift zu haben, und mir gegenüber war er sichtlich etwas verlegen, weil er doch seinerzeit nicht auf meine Bewerbung um eine Dozentenstelle an einer der Pädagogischen Akademien eingegangen war, wofür er aber wiederum Minister Grimme verantwortlich zu machen versuchte. (Übrigens sagte mir Pflug, daß man an seiner Akademie keineswegs praktische Schulerfahrungen zur Vorbedingung für die Dozenten mache, mehr als die Hälfte der Dozenten seien bei ihnen vielmehr keine Lehrer!) Einen recht sympathischen Eindruck machte mir Mockrauer, der sich übrigens sehr interessiert nach Ihnen erkundigte und sich dafür einzusetzen versprach, daß man Sie recht bald einmal zu einem Erholungsaufenthalt nach Schweden einladen würde. Neben mancherlei wertvollen Einsichten und mancherlei interessanten menschlichen Begegnungen hat mir die Tagung übrigens auch die Erkenntnis meines Lebenszieles eingetragen: Leiter einer Heimvolkshochschule zu werden, wird fortan mein ganzes Bestreben sein. Ich glaube, keine andere Tätigkeit würde mir so liegen, wie diese, in der man frei von allem staatlichen Zwang und amtlicher Bevormundung junge Menschen ganz nach eigenen Ideen zu verantwortlichen Trägern des öffentlichen Lebens heranbilden und in musischer Gemeinschaft mit ihnen leben kann. Ob wir freilich hier in Bayern jemals so weit kommen, erscheint mir sehr fraglich, aber da Prof. Schafft aus Kassel - ein bekannter Mann aus der Jugendbewegung - demnächst in Habertshof eine neue Heimvolkshochschule eröffnen will, habe ich mich gleich bei ihm um diesen Posten beworben. (Kennen Sie ihn und könnten Sie vielleicht ein empfehlendes Wort für mich bei ihm einlegen?)
Nun, damit muß ich meinen Bericht für heute beschließen, da es spät geworden ist und mir morgen ein anstrengender Tag bevorsteht. Da ich aber von Weitsch aufgefordert worden bin, einen Bericht über die Comburger Tagung für seine Zeitschrift zu schreiben, werden Sie noch in ausführlicherem zusammenhang von mir darüber hören.
Für heute nehmen Sie bitte mit Ihrer verehrten Frau Gemahlin unsere beste Wünsche und Empfehlungen entgegen und seien Sie nochmals aufs herzlichste für Ihren freundlichen Besuch in Eichhofen bedankt!
Stets Ihr dankbar ergebener; von: Braunbehrens, Hermann von an: Litt; Ort: Eichhofen |