Bemerkungen | Dokumentenabschrift: Lieber Herr v. Braunbehrens!
Haben Sie herzlichen Dank für Ihre freundlichen Glückwünsche, die gerade zur rechten Zeit eintrafen. Ich vollziehe meine Übergang ins neue Lebensjahr in dem eigentümlichen Schwebezustand, den der Wechsel nicht nur des Wohnorts, sondern auch der gesamten Lebenslage mit sich bringt. Denn es heißt hier wirklich völlig von vorne anfangen. Die gesamten äußeren und inneren Lebensumstände sind von denjenigen, aus denen ich herkomme, so verschieden wie nur möglich. Daß ich lange genug in der östlichen Zone war, um die Verschiedenheit nach ihrer ganzen Bedeutung würdigen zu können, bertachte ich nach wie vor als einen ganz großen Vorzug. Nur auf diese Weise kann man die Schwere, man möchte fast sagen die Unheilbarkeit des deutschen Loses voll würdigen. Tiefer noch als die Trennung auf politischem und wirtschaftlichem Gebiete geht die Entfenung in geistiger Hinsicht, die sich ständig verschärft. Nicht etwa als ob die Einwohner der russischen Zone sich zunehmend russifizierten. Im Gegenteil: man kann feststellen, daß bis weit in die Kreise der Arbeiterschaft hinein die Abneigung gegen das dort herrschende System in ständiger Zunahme begriffen ist. Der dort erteilte Anschauungsunterricht ist ja auch vión einer Eindringlichkeit, der selbst das stumpfste Gemüt schwer wirderstehen kann. Ich habe aus dem Munde von SED-Funktionären Äußerungen gehört, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließen. Der Unterschied liegt vielmehr darin, daß man sich dort mit Sorgen plagt, von denen man hier keine Ahnung hat, und hier in Nebendingen festhängt, nach denen dort kein Mensch fragt; daß dort die Menschen
zumal die Studenten, die völlig wach sind, für uns Dozenten sehr erfreulich!
zum größeren Teil doch in dem Bewußtsein leben, was gegenwärtig alles auf dem Spiele steht, während man hier vielfach am Wesentlichsten verbeilebt und sich über Dinge aufhält, die nicht den kleinsten Gedanken verdienen. Das Geschimpfe über die Engländer übersteigt jedes Maß. es klingt manchmal so. als seien sie allein an allem Schuld, was uns plagt. Kürzlich war ich in einem Kreis von Industriellen, deren Reden und Meinungen etwa in die Umgebung von Ludendorff bestens hineingepaßt hätten. Man ist nicht nazistisch, aber in einem sehr verbohrten Sinne nationalistisch. An Bereitschaft, den eigenen Anteil an der deutschen Katastrophe unverhohlen einzugestehen, fehlt es weithin. Die Schulmänner zumal kleben fest an überkommenen Formen und haben noch garnicht gemerkt, in welchem Umfange die deutsche Verirrung auch eine Dasavouierung der deutschen Schule gewesen ist. Dazu auch noch der engstirnige Kenfessionalismus. Ohne Zweifel werde ich mich, je deutlicher ich mit meiner Auffassung der Dinge heraurücke, in neue Schwierigkeiten verwickelt finden.
Das will nun beileibe nicht so verstanden sein, als ob ich meine Übersiedlung auch nur in einem Winkel meiner Seele bereute. Es vergeht kein Tag, zumal seit der neuesten Wendung, an dem ich mich nicht priese, dem östlichen KZ entronnen zu sein. Es besteht für mich nicht der kleinste Zweifel, daß es mir eines Tages an den Kragen gegangen wäre. Man wird eine Zeit lang als Aushängeschild benutzt, dann aber in die Ecke geworfen. Außerdem ist es einfach unerträglich, ständig mit Lumpen und Besessenen zu verhandeln und sich immer wieder überzeugen zu müssen, daß jedes Wort in den Wind geredet ist. Der orthodoxe Marxist ist unbelehrbarer als der gläubigste Katholik. Er weiß ja alles haargenau auf Grund seiner "Wissenschaft". Und wir sind ja nur Verfechter der bürgerlichen Ideologie. Das hält man auf die Dauer nicht aus. Hierzulande wird unsereiner mit Achtung angehört und ernst genommen.
Die Kisten mit Büchern sind glücklicher Weise zum größten Teil erträglich weggekommen. Manches hat durch das Löschwasser sehr gelitten. Ich hatte gleich eine aufnahmewillige Hörerschaft, habe aber im einzelnen keine Eindrücke sammeln können, da ich erst lange nach Semesterbeginn mit meinen Vorlesungen beginnen konnte (Die "Entnazifizierung" dauert etwa 5 Wochen, was mir symptomatisch für diesen Unfug erscheint)
Vermehrung der Universitäten ist heller Wahnsinn. Aber nach dem vorigen Krieg war es genau so. Man wirtschaftete darauf los, als ob wir aus dem Vollen schöpften. Man kommt immer wieder zu dem gleichen Ergebnis: diesem Volk ist nicht zu helfen. Goerdeler pflegte immer wieder darauf hinzuweisen, wie unendlich sparsam das siegreiche England nach dem vorigen Kriege gewirtschaftet hat, und wie gleichzeitig bei uns die Prunkgebäude (Krankenkassen usw.) aus dem Boden schossen. Im Osten gründet man für die Volksschullehrer neue Fakultäten mit so und so viel Professuren, für die keine ernsthaften Bewerber da sind, und züchtet den "Einheitslehrer", der mit dem Oberlehrer vor allem die Gehaltsansprüche gemein hat.
Von Kroner habe ich nur eine ganz kurze Karte, von Lersch nichts bekommen. Sehr gefreut hat es uns, von Beate so Gutes zu hören. Da ich selbst auch einziges Kind bin, weiß ich genau, wie leicht man dann geistig zu schnell voran kommt. Aber das macht sich . Hoffentlich kommt sie genug mit anderen Kindern zusammen. Ich hoffe, daß wir uns im neuen Jahr wiedersehen werden, denn ich soll im Frühjahr einen Gedächtnisvortrag für Aloys Fischer in München halten. Dann werde ich auch Sie besuchen. Es wird viel zu besprechen geben. Nicht zum wenigsten über Fälle wie den von Schingnitz. Es steht wirklich sehr schlimm in dieser Hinsicht. Auch hier zwischen den Zonen ein Abgrund!
Ihnen dreien viel herzliche Grüsse und gut Wünshe für 1948!
in alter Freundschaft
Ihr Th. Litt mit Frau und Sohn; von: Litt an: Braunbehrens, Hermann von; Ort: Bonn |