Bemerkungen | Dokumentenabschrift: Lieber Herr v. Braunbehrens!
in der erstarrenden Frostluft, die uns seit Wochen peinigt - bei Ihnen soll es ja besser sein - bedeutet schon die Abfassung eines Briefes einen heroischen Entschluss, zu dessen Durchführung erhebliche Willensenergie aufgeboten werden muss. Aber Sie sollen nun nicht länger auf Antwort warten.
Ich freue mich sehr, dass Sie mit Ihrer neuen Arbeit gut im Zuge sind. Das Vorlesungsverzeichnis zeugt ja in höchst erfreulicher Weise von den Willen der verschiedenen Gruppen unter einem Dache zusammenzuleben. Das ist ja das, was ich hierzulande immer wieder, leider gerade bei den Massgeblichen mit zweifelhaften Erfolg predige: dass wir als Deutsche überhaupt nur leben können, wenn wir seine Vielgestalt ertragen, und zwar in einem positiven, nicht bloss erduldenden Sinne. Aber wie schwer fällt das dem normalen Deutschen. O diese dogmatische Erstarrung, diese ketzerrichterliche Gehässigkeit! und am schlimmsten ist sie dann, wenn sie sich "wissenschaftlich" bewiesen glaubt! - In dieser Hinsicht werden Sie bestimmt, natürlich in anderer Couleur, dieselben Erfahrungen machen wie ich hierzulande. Wo sind da eigentlich die wirklichen Reaktionäre?!
Das Manuskript Muhs habe ich infolge besonderer Umstände auch einmal in der Hand gehabt. Ich konnte in den Partien, die ich las, nicht viel Selbständiges finden. Er hat viel und fleissig gelesen, aber hat, wie mir scheint, den Dingen keine neue Wendung gegeben. Aber vielleicht kommt das Eigentliche erst in den späteren Partien, zu denen ich nicht durchgedrungen bin.
Dass Sie jetzt wieder mit Ihrem alten Lehrer Kroner zusammen auftreten, freut mich ausserordentlich. Mit Ihnen bin ich der Meinung, dass Kr. Pläne kaum ausführbar sind. Dafür ist es, scheint mir, noch zu früh. Die internationale Atmosphäre muss sich erst etwas geklärt haben, und es muss auch Deutschlands geistige Zukunft etwas deutlicher geworden sein, ehe man so weittragende Pläne ausführen kann. Überhaupt: in all diesen Dingen ist viel Nüchternheit und Geduld am Platze. Ich muss das immer wieder gegenüber der wortreichen Betriebssamkeit der Pädagogen aller Stufen und Grade hervorheben, die schon kräftig mit dem deutschen "Bildungsideal" beschäftigt sind. Unsere Aufgaben liegen zunächst einmal in jeder Hinsicht im Elementaren, zumal was das Menschlich-Sittliche angeht, und jeder Überschwang bedeutet Vernebelung und Selbstverblendung. Ich glaube, dass die meisten Emiganten nicht im stande sind, sich die deutsche Lage in ihrer ganzen Verworrenheit vorzustellen. Man muss mitten drin stecken, um die Ratlosigkeit zu sehen. Auch die verlegerische Betriebsamkeit in den anderen Zonen gehört, wie mir scheint, in dieses Kapitel. Verlage schiessen wie Pilze aus dem Boden. Jeden Augenblick bekomme ich die Aufforderung, für irgend einen mir unbekannten Verlag zu schreiben. Dabei habe ich vor lauter laufenden Arbeiten seit Monaten nichts Eigenes mehr produzieren können. Wir werden durch das Tägliche aufgefressen. Aufträge über Aufträge, Verhandlungen, Sitzungen, berichte! Und dazu diese starrende Kälte, die den Aufenthalt in unserem Hause zur unsäglichen Pein macht. Schlafzimmer -5, Küche -3; Wasserleitung eingefroren, Closett unbenutzbar. Es ist wirklich kaum zu ertragen.
Trotzdem soll angeblich die Messe stattfinden. Ob wir Ihre liebe Frau wiedersehen werden? Das wäre eine grosse Freude. Wie Vieles kann man nur mündlich berichten!
Seien Sie mit Ihren Lieben herzlich gegrüsst
von Ihren A. und Th. Litt.
Gestern genossen wir ein wunderbares Glas mit Kirschen von Ihnen, mit Quark verarbeitet. Herrlich! Das sind jetzt die Lichtpunkte. Schön, wenn ein Philosoph das sagt.; von: Litt an: Braunbehrens, Hermann von; Ort: Leipzig |