Bestand:Privatarchiv Litt, Theodor
SignaturNA Litt, Theodor B 1-0521
TitelBrief von: Litt (Leipzig) an: Braunbehrens, Hermann von
Enthältms; Brief 1 Blatt A4
Zeitvon1946
Zeitbis1946
BemerkungenDokumentenabschrift: Lieber Herr v. Braunbehrens! Das war ja ein überaus interessanter Reisebericht! Er traf zeitlich zusammen mit dem mündlichen Bericht, den mir ein in München wohnender früherer Schüler erstattete. Beide ergänzten sich ganz ausgezeichnet. Man sieht immer wieder, daß die Lage in den verschiedenen Zonen denkbar verschieden ist und immer mehr auseinandergeht. Allerdings: eines ist allerwärts gleichmäßig zu kanstatieren: das ist die eigentümliche geistige Lähmung, von der der größere Teil unserer Mitbürger befallen ist. Es ist, als ob gewisse innere Organe abgestorben wären. So komisch es klingen mag in unserer Fakultät komme ich mir manchmal wie einer der Jüngsten vor. Es ist, als ob den meisten die Fähigkeit zu einer wirklichen Gemütsaufwallung abhandengekommen wäre. Wenn Dinge geschehen, die die hellste Empörung hervorrufen müßten, kommt nicht mehr zu stande als ein gedämpftes Mißbehagen. Dabei bilden wir noch insofern einen günstigen Fall, als bei uns noch keine der entwürdigenden Konzessionen vorgekommen sind, durch die sich andere Hochschulen dieser Zone befleckt haben. Über Einzelnes will ich lieber schweigen. Von Spranger hatte auch ich beim letzten Zusammensein den Eindruck, daß er den gehäuften Unannehmlichkeiten, die ihm die letzten Jahre beschert haben, in gewissem Sinne erlegen ist. Er ist eben doch äußerlich und innerlich eine sehr zart organisierte Natur, und frißt alles in sich hinein, was ich im gleichem Falle nach außen hin entladen würde. Ich glaube nur, daß er sich immer wieder emporreißt, wenn von ihm bestimmte Leistungen gefordert werden. Fälle wie der von Rothacker sind leider heutzutage typisch. Es ist erstaunlich, mit welcher Kunstfertigkeit sich viele heute von den Konsequenzen ihrer früheren Haltung zu drücken verstehen. Nimmt man sie ernst, so müßte man annehmen, daß das deutsche Volk nur infolge eines Versehens oder unter dem Druck eines unüberwindlichen Zwangs den Weg der letzten zwölf Jahre gegangen ist. Dabei muß man sich nur einmal erinnern, welch zähem Widerstand man immer dann begegnete, wenn man den lieben Volksgenossen über den wirklichen Stand der Dinge die Augen zu öffnen versuchte. Man rannte ja gegen Mauern. Die ganze "Entnazifizierung" ist nicht zum wenigstens durch diese tiefe Unehrlichkeit ins falsche Fahrwasser geraten. Die Siegermächte müssen ja jedes Vertrauen zu den ihnen gegebenen Auskünften verlieren, wenn ein so schiefes Gesamtbild herauskommt. Womit ich die von der anderen Seite gemachten Fehler nicht beschönigen will. Von Ihren verschiedenen Zukunftsplänen höre ich mit großer Teilnahme. Ist es denn um Göttingen ganz still geworden? Natürlich ist hier schwer zu raten. Im Allgemeinen würde ich nur meinen: lieber zugreifen, wo sich etwas Sicheres bietet, als auf das Ungewisse harren. Es wird heute unendlich viel eingeleitet, wobei nichts herauskommt. Es werden Zusicherungen gemacht - auch und gerade von amtlichen Stellen - die nicht nur nicht erfüllt werden, sondern unter Umständen von vorne herein nicht ernst gemeint sind. Ich muß recht oft gegenüber jungen Menschen den Rat aussprechen: man sei glücklich, wenn man irgendwo untergekommen ist, auch wenn Neigung und Begabung nicht voll zu ihrem Rechte kommen. So wird es bei uns auf lange Zeit hinaus bleiben. Mit wie viel Dingen müssen selbst wir alten Knaben uns verzetteln, die uns von unserem Wesentlichen weit ablenken! Also unter Umständen doch die Wüste Gobi. Wenn Sie sich von vorne herein, nicht eine glänzende Ernte versprechen, werden Sie vor Enttäuschung bewahrt bleiben. Freyer ist nicht in Göttingen, wird aber vermutlich nach Weihnachten nicht mehr lesen. Die Landesverwaltung hat ihn für untragbar erklärt (auf Grund seiner Schriften), daher wird er wohl selbst um seine Entlassung einkommen. Ich halte es aber nicht für unmöglich, daß er in einer der anderen Zonen ankommen wird. Ich hatt mit ihm eine gründliche Aussprache, in der er erklärte, er habe gehofft, daß an Stelle der Führer von 1933 allmählich andere, bessere Elemente an die maßgebenden Stellen einrücken würden. Leider habe er sich wie so viele mit dieser Berechnung getäuscht. Mit der Zeitschriftenhausse ist es allerdings schlimm bestellt. Es wird sehr vieles wieder eingehen müssen. Von der Zeitschrift von Schischkoff ist bereits das erste Heft erschienen, von derjenigen, die v. Kempinski herausgibt, ist das erste Heft gesetzt. Von meiner hiesigen Lage ist übrigens zu melden, daß sie sich neuerdings fühlbar gebessert hat. Ich glaube sagen zu können, daß ich mich mit meiner unbeirrbaren Haltung allmählich durchgesetzt habe. Die herrschende Partei behandelt mich neuerdings mit entschiedenem Respekt. Lehrreich war es, daß ich in der Vortragsreihe der SED ein Referat über eine schwebende Frage halten konnte, das mit der herrschenden Lehre in entschiedenem Widerspruch stand, ohne daß in der anschließenden Diskussion ein Mißton vernehmlich geworden wäre. Das will hier und heute etwas heißen. Man beginnt allmählich zu merken, daß man mit dem bisher geübten Verfahren die Landesuniversität ruiniert. Freilich ist hinzuzufügen, daß man nie weiß, ob eine solche Wendung dauernd ist. Auf Überraschungen muß man ständig gefaßt sein. Einen sehr wirksamen Rückhalt habe ich übrigens auch an der weitaus überwiegenden Mehrheit meiner Hörer. Am Morgen nach dem erwähnten Diskussionsabend bekam ich beim Beginn der Vorlesung einen Blumenstrauß als Dankesausdruck der Hörerschaft überreicht. Das ist das Neue gegenüber der Lage von 1933. Ich erzähle Ihnen dies alles so ausführlich, weil ich weiß, wie sehr Sie an meinem Ergehen Anteil nehmen. Für einen Mann meines Alters hat dies willige Mitgehen des jungen Volks etwas sehr Erfrischendes. Sie sehen, es gibt nicht nur Unerfreuliches zu melden. Hoffentlich tun die beiliegenden Zeugnisse ihren Dienst. Das Geld wird sogleich an Fräulein Crome überwiesen. Meine Frau läßt sagen, daß Sie Ihrer lieben Frau für ihre Bereitwilligkeit sehr dankbar ist. Sie wird sich melden, wenn die Sendung erwünscht ist. Seien Sie mit Ihren Lieben herzlich gegrüßt von Ihren gez. A. und Th. Litt; von: Litt an: Braunbehrens, Hermann von; Ort: Leipzig