Bemerkungen | Dokumentenabschrift: Lieber Herr v. Braunbehrens!
Wir haben lange nichts mehr direkt von Ihnen gehört. Hoffentlich brauche ich daraus nicht mehr zu schließen, als daß Sie an jener Unlust zum Schreiben leiden, die mir als Eigentümlichkeit des rauhen Kriegsmanns wohlbekannt ist. Ich habe sie an beiden Söhnen genugsam studieren können. Auf jeden Fall will ich versuchen, durch einige Mitteilungen über unser Ergehen eine Äußerung aus Ihnen hervorzulocken. Das Letzte, was wir über Ihr Ergehen hörten, war die Mitteilung Ihrer lieben Frau, daß eine gewisse Hebung des Allgemeinzustandes festzustellen sei und daß die Schmerzen nachgelassen hätten. Hoffentlich ist es auch in dieser Phase so, daß wir den Parallelismus zwischem Ihrem und unseres Jüngsten Ergehen freudig begrüßen dürfen. Denn bei ihm ist ein Fortschritt entschieden zu konstatieren. Der Knochen ist zusammengewachsen, und die Wunden sind fast zugeheilt. Geblieben sind allerdings noch die Nervenschmerzen, geblieben ist vor allem die Unbeweglichkeit des Unterarms. Es wird sich erst in einiger Zeit zeigen können, ob es möglich ist, durch eine Nervenplastik die Beweglichkeit wenigstens innerhalb gewisser Grenzen wiederherzustellen. Wir haben es auch nach erheblichen Bemühungen und mancherlei Abenteuer, von denen zu berichten zu langwierig wäre, fertig gebracht ihn nach Leipzig zu bekommen. Er liegt im Diakonissenhaus in Lindenau. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß wir uns dauernd an das halten, was schließlich bei allem das Wesentlichste ist: es ist höchst unwahrscheinlich, daß er noch einmal an der Front verwendbar sein wird.
Bei den Besuchen in drei Lazeretten, die hinter uns liegen haben wir auch über die Wesensart der Kameraden, mit denen Rudolf zusammenlag, mancherlei Beobachtungen machen können. Es ist zum großen Teil eine unglaublich oberflächliche und gedankenlose Gesellschaft. Man ist erstaunt, zu sehen, von welchen Dingen die Köpfe dieser jungen Herren in einem Augenblick, da die Welt den Atem anhält, erfüllt sind. Manches an dem Geschehen dieser Jahre wird einem verständlich, wenn man diese Gemütsverfassung zur Kenntnis nimmt. Was für ein Gesicht werden diese Kindsköpfe machen, wenn es eines Tages heißt, die so geliebte Uniform ausziehen und im zivilen Leben aus eigener Kraft einen Platz suchen? Es ist, als ob eine solche Möglichkeit im Horizont ihres Bewußtseins überhaupt nicht vorhanden wäre.
Steger ist unterdessen wieder eingezogen, aber an einem Platze gelandet, wo es keine kriegerischen Taten zu vollbringen gilt. Er ist Haupt einer Schreibstube einer Fliegerformation in Schongau am Lech. Reble, der lange Zeit in Frankreich nur mit der geistigen Betreuung seiner Truppe zu tun hat, wird wohl auch in Bälde wieder an der Front Verwendung finden. Es tut wohl, an diejenigen zu denken, die durch ihren leiblichen Zustand von der Rückversetzung in die Zone des Kampfes geschützt sind.
Was soll ich von uns Alten erzählen? Wir leben noch, unser Haus steht. Die kOhlen sind ausgegangen, so daß die Zentralheizung stillgelegt werden mußte. Wir haben ein einziges ofengeheiztes Zimmer in dem es nie über 9 Grad Reaumur kommt. Wärme spendet uns bei Besuchen das Lazarett. Der äußeren Lebensverfassung entspricht die innere. Das Stimmungsthermometer steht unter dem Gefrierpunkt. Man ist sich klar, daß es auf dieser Linie weiter abwärts gehen wird. Man muß sich einmal erzählen lassen, wie jetzt in Städten wie Essen gelebt wird: ohne Gas, Elektrizität, Leitungswasser, Verkehrsmittel - dann kommt einem das eigene Dasein noch paradiesisch vor. Wie wird es werden, wenn jetzt aus dem Osten die Massen hereinströmen!
Also lieber Herr v. B., lassen Sie einmal hören, wie es mit Ihnen steht. Hoffentlich ist Ihnen schon etwas von den Empfindungen des Genesenden gegönnt. Daß sie unter allen Umständen teuer
erkauft sind, ist mir klar.
Herzliche Grüsse, auch von meiner Frau!
Ihr Th. Litt; von: Litt an: Braunbehrens, Hermann von; Ort: Leipzig |