Bemerkungen | Dokumentenabschrift: Lieber Herr v. Braunbehrens!
Mir ist bei alledem, was gerade in diesen Tagen auf mich einstürmt, als ob mir der Kopf zerspringen müßte. Denn, um gleich das Entscheidende zu sagen: die Nachricht von dem, was über Sie gekommen ist, erscheint ganz kurze Zeit nach einer vergleichbaren Kunde von unserem Rudolf. Während Sie ein kostbares Glied dahingeben müssen, liegt er mir schwer zerschossenem Oberarm im Lazarett in Schweidnitz. Ich sehe wohl den Abstand beider Fälle. Aber wenn man erwägt, daß auch seine Verletzung schwer genug ist, um ihm nicht nur gleichfalls schlimme Schmerzen zu bereiten, sondern auch die spätere Verwendung des Armes zweifelhaft zu machen, dann rückt beides schließlich zusammen, und der Schmerz über das eine und über das andere vereinigt sich zu einer unendlichen Traurigkeit. Sie sind mir in entscheidenden Jahren menschlich so nahe gekommen, daß ich von Ihrem Schicksal nicht wie von dem eines mir sympatischen Menschen mit bloßem "Mitgefühl" Kenntnis nehmen kann - es schneidet mir ins Herz, als ob es einen mir nächst Verwandten getroffen haätte. Wie soll man mit dem Übermaß dieses Leidens ferig werden - wie der Verzweifelung Herr werden, die einen ergreift, wenn man sich der ganzen Ohnmacht bewußt wird, mit der man diesem grauenhaften Widersinn gegenübersteht? Dann mag man immerhin sagen, daß Verwundungen dieser Art nicht eigentlich ans Leben greifen und der späteren Berufsausübung nicht im Wege stehen, so bleibt es doch dabei, daß der ganze Mensch eine Einbuße erlitten hat, die sich immer wiedr schmerzlich fühlbar machen muß. Es gehört zu den furchtbarsten Zeichen der Zeit, daß so viele bereit sind, selbst solche Verletzungen begrüßenswert zu finden, weil .... Wir bekommen unendlich viel Derartiges zu hören. Aber ich bin nicht im stande mir diese Betrachtungsweise zu eigen zu machen. Ich kann mir nicht mit Vergleichen helfen; ich sehe das Leid als das, was es an sich nun einmal ist. Ich kann nicht davon wegsehen, daß z.B. unser Jüngster vielleicht für immer von seinem geliebten Klavierspiel ausgeschlossen sein wird.
Lieber armer Patient! Das sind nicht Trostreden der üblichen Art. Aber ich bin überzeugt, daß Ihnen mit solchen nicht gedient wäre und daß Sie es ebenso wie ich ablehnen, sich das Bitterschwere durch Kulissen zu verdecken. Eines ist ja sicher: Sie wie Rudolf werden sich mit Ihrem Leben auf den neuen Zustand einrichten, und er wird Ihnen mehr und mehr selbstverständlich werden. Aber darum bleibt es doch ein Verzicht, der Ihnen zugemutet wird. Der beste Trost wird schließlich in der Liebe der Ihrigen liegen, die alles tun werden, um Sie das, was Ihnen fehlt, vergessen zu machen. Übrigens war auch Rudolf von dem, was er miterlebt hat, bis ins Innerste erschüttert. Es ist ja auch die seelische Widerstandskraft durch solche Leiden aufs schwerste beeinträchtigt. Man fühlt das ganze unendliche Leid des Menschseins in sich widerklingen.
Ob wir wohl Ihre liebe Frau auf der Rückreise bei uns sehen werden? Das würde uns unendlich freuen. Ich erwäge auch Folgendes. Vermutlich werden wir in einiger Zeit Rudolf wieder in Schweidnitz besuchen können. Vielleicht läßt es sich dann machen, daß wir auf der Rückreise in Bautzen Station machen und ich Sie einmal besuche. Freilich finden Lazarettbesuche unter äußeren bedingungen statt, die die Freude des Wiedersehens wesentlich beeinträchtigen. Sie werden das mit Ihrer lieben Frau auch empfinden. Aber jedenfalls halte ich diesen Plan im Auge.
Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß meine teilnehmenden Empfindungen von meiner Frau geteilt werden. Sie hat es ja selbst miterfahren, daß meine jungen Freunde wirklich meine besten Freunde sind. Wir beide sind mit den Hezen bei Ihnen.
In alter, aber doppelt gefühlter Verbundenheit grüßt Sie aufs herzlichste
Ihr
gez. Th. Litt; von: Litt an: Braunbehrens, Hermann von; Ort: Leipzig |