Bestand:Privatarchiv Litt, Theodor
SignaturNA Litt, Theodor B 1-0446
TitelBrief von: Medicus, Fritz (Zürich) an: Litt
Enthältms; Brief 1 Blatt 20,8 x 27 cm
Zeitvon1931
Zeitbis1931
BemerkungenDokumentenabschrift: Sehr verehrter Herr Kollege! Schon wieder haben Sie mich durch ein wertvolles Geschenk überrascht und erfreut. Nehmen Sie meinen herzlichsten Dank entgegen! Ich habe das Buch mit jenem grossen Genuss gelesen, den es gewährt, wenn eigene Überzeugungen weitgehende Bestätigung und Anregung zu fruchtbarer Fortgestaltung finden. Die grosse Linie, in der Sie die Philosophie der Gegenwart in stufenweisem Aufsteigen charakterisieren, bewundere ich, wenn ich auch zu denen gehöre, denen die phänomenologische Bewegung eigentlich fremd geblieben ist, und für die sich die Notwendigkeit, über die Lebensphilosophie dialektisch hinauszugehen, schon von Schelling und Hegel her versteht. Ihre nachdrücklichen Hinweise auf Hegel haben mir denn auch besondere Freude gemacht. Ganz besonders aber möchte ich das Kapitel über "die Individualisierung des Bildungsideals" hervorheben, in dem Sie Letztes, Höchstes anklingen lassen. Doch darf ich mir vielleicht die folgende Bemerkung erlauben: Was in dem genannten Kapitel die "Union der Gegensatzpaare: objektiv-subjektiv und allgemeingültig-individuell" angeht, so möchte ich annehmen, dass die von Ihnen geforderte Lösung leichter einleuchten würde, wenn in unserm Sprachgebrauch ein anderer Gegensatz, der des Zeitlosen und des Überzeitlichen in dem schon von Schelling statuierten Sinne zu seinen Ehren käme (zeitlos, d.h. ohne Verhältnis zur Zeit und darum in starrer Unveränderlichkeit, gilt z.B. der pythagoreische Lehrsatz; überzeitlich, die Zeit sich unterworfen haltend, sie bewegend, in sie in immer neuen Gestalten eingehend, nie in ihr aufgehend, wirken Wissenschaft, Kunst, Recht, Sittlichkeit): denn vom Überzeitlichen kann man überhaupt kaum sprechen, ohne seiner individualisierenden Bedeutung zu gedenken, während das Zeitlose (in diesem engeren Sinne) mit Individualisierung unmittelbar nichts zu tun hat und gewiss ohne Beziehung auf sie begreiflich gemacht werden kann. Freilich muss ich wohl befürchten, dass diese Unterscheidung doch nicht bloss eine Frage der terminologischen Zweckmässigkeit betrifft, sondern dass hinter ihr gerade dasjenige steckt, was, wenn man es näher prüfen wollte, die sachliche Differenz zwischen Ihnen und mir begründet (und was wohl auch an meinem mangelhaften Verhältnis zur Phänomenologie die Schuld trägt): Indessen mag es sich damit verhalten, wie es wolle- _ in jedem Falle bin ich Ihnen für eine Reihe gut verbrachter Stunden wieder herzlichen Dank schuldig geworden. Auch meine Übungen des vorigen Wintersemesters, in denen ich Ihr Buch "Führen und Wachsenlassen" zugrundegelegt hatte, haben bei allen Teilnehmern dieses Bewusstsein, dass wir unsere Stunden gut verbracht haben, hinterlassen (wie das Gleiche in einem früheren Semester nicht minder mit "Wissenschaft, Bildung, Weltanschauung" der Fall gewesen war). In herzlicher Verehrung Ihr sehr ergebener gez. Fritz Medicus; von: Medicus, Fritz an: Litt; Ort: Zürich