Bestand:Privatarchiv Litt, Theodor
SignaturNA Litt, Theodor B 1-0445
TitelBrief von: May, Eduard (Berlin) an: Litt
Enthälths; Brief 2 Blatt A4 + Beilage: ms; 1 Blatt A4
Zeitvon1953
Zeitbis1953
BemerkungenDokumentenabschrift: Sehr verehrter und lieber Herr Professor Litt! Für Ihren freundlichen Brief vom 28.IX. danke ich Ihnen sehr herzlich. Entschuldigen Sie, bitte, dass ich ihn erst heute beantworte. Ich hatte ein paar Wochen Ferien gemacht, und um mich zu schonen, schickte mir mein Seminar die Post nicht nach. Es war gut gemeint, aber nicht ganz richtig! Ich freue mich aufrichtig darüber, das Sie sich in Bad Gastein so gut erholen konnten. Auch ich kann nicht klagen und gehe mit frischen Kräften und viel Arbeitseifer ins neue Semester. Hirsch ist Rektor, Herzfeld, der Historiker, Dekan unserer Fakultät. Ich bin heilfroh, dass mir das Dekanat diesmal noch erspart geblieben ist; aber im nächsten Universitätsjahr werde ich wohl dran glauben müssen. Doch nun zu Ihrer Frage. Es ist durchaus richtig, wenn Sie sagen: "Für die biologische Forschung sind doch die aus einer "ganzheitlichen" Betrachtung hervorgehenden Begriffe einstweilen insofern unentbehrlich, als sie das Problem aufzeigen, das mit kausalanalytischer Methode behandelt sein will." Und man darf hinzufügen, dass dies nicht nur einstweilen so ist, sondern immer so sein wird. Der Organismus zwingt geradezu zur Fragestellung, und wogegen ich ankämpfe, ist nur dies, dass die aus einer ganzheitlichen Betrachtung hervorgehenden Begriffe" nicht als letzte Erklärungsgründe eingeführt werden dürfen. Denn sobald man dies tut, schneidet man die kausalanalytische Forschung ab. Der Umstand, dass der Organismus zur technologischen ("ganzheitlichen") Fragestellung zwingt, scheint mir nun schon ein hinreichender Grund für die Annahme zu sein, dass die kausalanalytische Forschung nie an ein Ende kommen wird. Wohl ist ihr insofern keine Grenze gesetzt - und dies ist es, was heutzutage fast immer falsch gesehen wird - als sie auf jede teleologische Einzelfrage über kurz oder lang eine "mechanistische" Antwort geben kann. Aber hinter dieser Antwort erhebt sich sogleich eine neue Frage, die nun ihrerseits wieder durchaus mit den "aus einer ganzheitlichen Betrachtung hervorgehenden Begriffen "operieren muss. Doch auch diese Frage wird, eben im Zuge der kausalanalytischen Forschung, ihre "mechanistische" Antwort finden - hinter der dann schon wieder eine neue teleologische Frage lauert. Und so fort - ad infinitum. Man kann dies auch so ausdrücken: Die kausalanalytische Forschung schiebt die Grenze ständig vor sich her, und man kann deshalb nicht sagen, dass sie jemals an irgend eine Stelle komme, wo sie gezwungen wäre, die aus einer ganzheitlichen Betrachtung hervorgehenden Begriffe zur Erklärung einzuführen. (Dies herauszustellen war die Absicht meines Aufsatzes). Aber das Weiterschieben der Grenze kommt an kein Ende, und deshalb kann man nun wiederum nicht sagen, "dass die Forschung schließlich so weit kommen wird, dass sie jene ganzheitlichen Begriffe verabschieben und sich restlos in Kausalanalyse verwandeln kann." Wenn ich die "Kritik der Urteilskraft" richtig verstanden habe, dann hat Kant dies bereits ganz klar gesehen (was über die Maßen erstaunlich ist und von der Größe Kants Zeugnis ablegt; denn es war beim damaligen Stande der Naturforschung ungemein schwer, einen so tiefen Blick zu tun). Denn dies ist der Sinn des "Widerspruchs" bei Kant, wenn er auf der einen Seite mit aller Bestimmtheit erklärt, es sei vergeblich, zu hoffen, dass man das Zustandekommen auch nur des gemeinsten Krautes oder des geringsten Würmchens einmal so erklären könne, wie Newton das Weltgebäude erklärt habe, andererseits aber ebenso bestimmt betont, dass der "Hylozoism" der Todfeind der Naturphilosophie sei. Daher haben sich Mechanisten und Vitolisten gleichermaßen auf Kant berufen, diese, indem sie sich an den Satz vom Hylozoism als dem Todfeind der Naturphilosophie hielten, jene indem sie darauf pochten, dass Kant das Auftreten einer "Newton des Grashalms" für unmöglich erklärt hatte. Beide Gruppen verfehlten Kants Meinung: Kant sollte eben zum Ausdruck bringen, dass, modern gesprochen, die Forschung stets kausalanalytisch vorgehen muss und niemals eine ritalistische Erklärung der Lebensphänomene geben darf, dass aber dennoch <..> einer restlosen kausalanalytischen Auflösung niemals die Rede sein kann. Fries und die Neufriesianer bis herauf zu Nelson, desgl. die meisten Neukantianer sahen dies ganz klar. Heute ist diese Einsicht vielfach verloren gegangen. Ich bin aber der Meinung, dass man gerade in diesem Punkt nicht wesentlich über Kant hinauskommen wird. Wer auf eine "Ontologie" abzielt, muss nun außerdem noch beachten, dass die Forschung stets in der "intentio recta" betrieben wird, also so, als obe die schrittweise der Kausalanalyse unterworfenen Prozesse unabhängig von Denken und Erkennen abliefen, was in Wirklichkeit gar nicht der Fall ist. Es ist gewis nicht dagegen einzuwenden, wenn die Forschung phylogenetische Entwicklungsreihen konstruiert und sich bei der Erklärung des stammesgeschichtlichen Geschehens im Sinne des strengsten Darwinismus nur an die Wirkursachen hält. Sie wird, ja sie muss dabei auch die "Bewusstseinserscheinungen" mit einbeziehen und schließlich auch das Denkvermögen als Parallelerscheinung der Gehirnentwicklung ansprechen. Nur darf sie dabei nie vergessen, dass das in dieser Blick- und Forschungsrichtung als Endprodukt auftretende Denken dennoch vom Anfang mit dabei war und dass ohne dieses Denken die ganze schöne Entwicklungsreihe niemals zustandegekommen wäre. Diese einfache Überlegung bringt jede ontologisch verstandene "Phylogenie des Bewusstseins" zu Fall. Freilich erschließt sich diese Einsicht erst in der "intentio obliqua". Aber es war der Kardinalfehler Nic. Hartmanns (der in diesem Punkt einem ganz simplen Naturalismus huldigte) das ontologische Gewicht allein der intentio recta zuzubilligen. Warum denn, in aller Welt, soll die intentio obliqua nicht mindestens dieselbe ontologische Gewichtigkeit besitzen wie die intentio recta? Ich habe mich immer darüber gewundert, dass Hartmann nicht ein einziges Mal auf den Gedanken kam, dass man doch allererst in der intentio obliqua darüber belehrt wird, dass es überhaupt so etwas wie eine intentio recta gibt. - Ich würde mich sehr freuen, Sie in Mainz wiederzusehen. Einstweilen verbleibe ich mit den besten Grüßen und Wünschen und in aufrichtiger Hochschätzung Ihr dankbarer Eduard May Beilage - Dispostion zu einem Vortrag Mays "Kant und die gegenwärtige Problemlage der Naturwissenschaft"; von: May, Eduard an: Litt; Ort: Berlin