Bestand:Privatarchiv Litt, Theodor
SignaturNA Litt, Theodor B 1-0439
TitelBrief von: Linke, (Jena) an: Litt
Enthältms+hs-Einfügung; Brief 1 Blatt A4; Briefkopf: Professor Dr. Linke, Jena
Zeitvon1938
Zeitbis1938
BemerkungenDokumentenabschrift: Sehr verehrter Herr Kollege! Besten Dank für die Zusendung Ihrer Schrift über die Selbsterkenntnis, die ich sogleich gelesen habe - freilich noch nicht so, dass ich zu ihr im einzelnen Stellung nehmen kann. Da ich mich aber in letzter Zeit wieder viel mit dem Problem des Allgemeinen beschäftigt habe, interessieren mich Ihre Darlegungen, soweit sie diesen Punkt betreffen, besonders, und ich darf vielleicht wenigstens dazu ein paar Bemerkungen machen. Sollten wir wirklich erst der Subjetkt-Objekt-Identität bedürfen, um einzusehen, dass die induktive Verallgemeinerung in den Fragen fundamentalsten der Psychologie fehl am Platze ist? Ein sicherlich bleibendes Verdienst Husserls ist doch gewiss, gezeigt zu haben, dass jede Art von Generalisation bereits in irgend einer Form das Allgemeine zur Grundlage hat, und dass wir sogar unter gewissen Voraussetzungen ohne dergleichen Generalisation allgemeine Erkenntnisse gewinnen können. Die Frage ist nur, welches diese Voraussetzungen sind. Es war - schon seit 1916 (Kantst. Bd. 21) - meine Überzeugung, dass Husserl diese Voraussetzungen nicht richtig bestimmt hat und dass seine Phänomenologie deshalb schon von Anbeginn den Keim des Verfalles in sich trug. Ich habe deshalb den Versuch unternommen, einen etwas anderen Weg zu gehen als Husserl. Am vielleicht voraussetzungslosesten habe ich diesen Weg im Vorwort meiner "Grundfragen der Wahrnehmungslehre" beschrieben. Ich würde heute manches anders formulieren, halte aber die Hauptgedanken noch aufrecht. Da wir im Ergebnis (Selbsterkenntnis bringt gerade da die zuverlässigsten Ergebnisse, wo sie bei Voraussetzung eines bloss empirisch-induktiven Vorgehens am wenigsten zu erwarten sind) würde es mich besonders freuen, wenn ich Ihre Stellung zu meiner Auffassung der Sache erfahren könnte. Vielleicht kommen Sie doch einmal, wie Sie beabsichtigen, nach Jena, und wir können dann diskutieren. Ich schreibe an Ihre alte Adresse, da ich die neue nicht kenne, hoffe aber, dass dieser Brief Sie auch so erreicht. Mit den allerbesten Grüssen bin ich stets Ihr gez. Linke 1) Manches zu diesen Fragen und bes. zu meiner Differenz mit Husserl in dem Aufsatz "Gegenstandsphänomenologie" in den "Philosophischen Heften" 1930. II. Jahrg. S. 2 (Verlag der Philos. Hefte; M. Beck, früher Berl.-Wannsee, jetzt Prag); von: Linke, an: Litt; Ort: Jena