Bemerkungen | Dokumentenabschrift: Lieber Herr Litt!
In oft recht späten Abenstunden, wenn ich an der Berechnung des Torsionsmoduls von Eisen, Kupfer und Messing, der Aufstellung der Diffe renzialgleichung für die Funktion einer Hypozykloide oder der Basistransformation von Vektoren im Raume und dergleichen genug hatte, habe ich mich in das "Protestantische Geschichtsbewußtsein" vertieft. So ist es gekommen, dass ich Ihnen erst heute danken kann; denn gerade ich den letzten vierzehn Tagen, in denen Ihr Buch auf meinem Schreibtisch lag kamen Serien von jenen immer wieder auftretenden, höchst unerwünschten Stunden und Tagen dazwischen, in denen sich die eine oder die andere uns gestellte Aufgabe mit aller Mühe und immererneutem Ansetzen nicht zwingen lassen wollte, bis es dann endlich, oft am letzten Abend vor dem Abgabetermin, Licht wurde und sich alles so löste, wie es sich lösen soll. Hat man dann die Rechnung fertig und atmet erleichtert auf, so kommt nun noch die exakte Ausarbeitung, und zuletzt verschlingt die Zeichnung auf Millimeterpapier den letzten Rest an Kraft und Zeit.
So war mir Ihre Schrift wie die Stimme aus der andern Welt, und unter dem Begleitorchester des "historischen" Geschehens der gegenwart, das sich ja leider nicht ganz überhören lässt, gewann jeder Satz und jeder Gedanke seine ganz besondere Bedeutung. Das, was Sie schreiben, und das, was ich treibe, fand ich zu einer Einheit zusammengeschlossen in dem schönen Worte Pestalozzis, das Sie anführen, von dem "Handeln, das, der Hoffnung auf Versöhnung entsagend, doch unermüdlich dem Widergeiste die Stirn bietet".
Besonders nahe fühlte ich mich Ihren Ausführungen über das Geschichtsbewusstsein des deutschen Idealismus, bei dem Sie auf das Protestantische hinweisen, das gerade in der idealistischen Geschichtsauffassung zu finden ist, die durchaus nicht nur Weltverklärung ist. Ich habe aus derselben Erkenntnis heraus 1933 eine Doktordissertation gegeben, die 1934 in den Neuen Deutschen Forschungen Bd. 3 erschien: Elfriede Lammerzahl, Der Sündenfall in der Philosophie des deutschen Idealismus. Hier finden Sie bei aller sonstigen Unvollkommenheit, die nun einmal einer solchen Anfängerarbeit anhaften, das Material für Ihre Feststellung, dass "die bedingungslose Anerkennung des vom Menschen Gewagten und Vollbrachten sie (die deutschen Idealisten) nicht gehindert hatte, dasjenige, was ungöttlich, widergöttlich ist an seinem Wesen und Tun, zu sehen und als solches zu kennzeichnen - weil der Kampf gegen diesen Erdenrest ihnen nicht weniger am Herzen lag als der christlichen Verkündigung." Ganz ähnlich wird in dieser Dissertation auf Grund des gesammelten und durchinterpretierten Materials S. 118 festgestellt, "dass die Philosophen des deutschen Idealismus sich mit dem Sündenproblem nicht nur beiläufig auseinandergesetzt, sondern dass sie um seine Lösung gerungen haben." Ich lege Ihnen ein Exemplar der Arbeit bei. Schade, dass ich an Pestalozzi damals gar nicht gedacht habe und von ihm das alles nicht wusste, was ich aus Ihrer Darstellung jetzt gelernt habe. Man hätte aber auch noch weiter zurückgreifen und Lessing als Vorläufer des deutschen Idealismus mit heranziehen können. Gerade meine Lessingdeutung zeigt die tieferen Hintergründe der fälschlich für nur aufklärerisch gehaltenen "Erziehung des Menschengeschlechts". Man kann gerade in dem von Ihnen herausgearbeiteten Sinne kaum einen Satz finden, der protestantischer wäre als die Worte Lessings: "Wenn es wahr ist, dass der beste Mensch noch viel Böses hat und der schlimmste nicht ohne alles Gute ist, so müssen die Folgen des Bösen jenem auch in den Himmel nachziehen und die Folgen des Guten diesen auch bis in die Hölle begleiten; ein jeder muss seine Hölle noch im Himmel und seinen Himmel noch in der Hölle finden. Die Folgen des Bösen müssen von den mehrern Folgen des Guten und die Folgen des Guten von den mehrern Folgen des Bösen nicht bloss abgezogen werden; sondern jede derselben müssen sich in ihrer ganzen positiven Natur für sich selbst äussern." (zu finden auf S. 110 meines Buches Lessings Weltanschauung). Übrigens eines der schönsten Zeugnisse echt dialektischen Denkens bei Lessing!
Ich schreibe das nur, damit Sie sehen, wie sehr ich in diesen Dingen immer noch lebe und mit welchem gespannten Interesse ich Ihren Gedanken gefolgt bin. Das musste einmal so kurz und klar herausgearbeitet werden, um die Dunstschleier aufzulösen, die von den Theologen auf der einen und von den Bekämpfern der christlichen Geschichtsauffassung, die von ihr keinen blassen Dunst haben, auf der andern Seite, zu zerreissen und das alles in eine Atmosphäre hineinzustellen, in der überhaupt eine vernünftige Diskussion dieser entscheidenden Fragen und verschiedenen Auffassungen möglich ist.
Ich möchte die Gelegenheit benutzen, Sie darum zu bitten, in einer freien Stunde - es eilt gar nicht - die beiliegenden Blätter zu lesen und mir etwas darüber zu sagen, was man damit machen kann und wie das auf sie wirkt. Es handelt sich umeine der sonderbarsten Sachen und eine literarische Rarität, deren Auswertung ich mit so vielen anderen halb angefangen liegen lassen musste. Ich fand im vorigen Jahre zufällig in einer Privatbibliothek eines Historikers ein kleines fränzösisches Buch. Das habe ich übersetzt, bin aber über das erste Drittel nicht hinausgekommen. Ich lege Ihnen in Reinschrift und den Rest als Manuskript das bei, was fertig geworden ist. Alles andere sagt das Vorwort und der Inhalt. Die Fortsetzung enthält die weitere Ausführung der hier entwickelten Gedanken und die Zug um Zug treffende Voraussage alles dessen, was wir jetzt erlebt haben und noch erleben werden: die nach dem hier entwickelten Programm vollzogene Umformung eines liberalistischen Staates und eines freiheitlich dankenden Kulturvolkes in einen - wie wir es heute nennen - autoritären Staat usw. Wie ist es möglich, dass heute alles das in Wirklichkeit geschieht, was sich vor sechzig Jahren ein französischer Schriftsteller ausdachte?
Ich halte diesen Fund für eine sehr wichtige Entdeckung, die ich bisher für mich behalten habe. Was soll ich nun aber damit machen?
Herzlichsten Gruss von Haus zu Haus und die besten Wünsche für die Weihnachtszeit
Ihr
gez. Hans Leisegang; von: Leisegang, Hans an: Litt; Ort: Jena |