Bemerkungen | Dokumentenabschrift: Verehrter Herr College,
Ihre Karte hat mich als ein Zeichen des Willens zum erfreut und lebhaft beschäftigt. Da ich nicht nach Weimar komme - ich habe bis jetzt durchgearbeitet u. will nun ein paar tage mit den Meinen herauskommen - so möchte ich Ihnen antworten. Ich habe im Anschluss an Ihre Karte auch die einschlägigen Abschnitte d. 3. Aufl. von "Individuum u. Gemeinschaft" gelesen und durchdacht. Durchaus stimme ich Ihnen darin bie, dass das Du - Erlebnis die grösste Gewissheit und Fülle einer selbständigen, der eigenen gleichberechtigten, eigenwilligenExistenz gibt - dass das du du, wie Sie sagen, " centraler Lichtpunkt alles echten Welt-Erlebens" ist. Aber dieser Lichtpunkt erzeugt nicht den Raum, den das Licht durchdringt. Mit Wirklichkeit nennen wir die Einheit des Wirklichen - und für diese Einheit kann das Du - Erlebnis nicht sein. In schönen und tiefen Ausführungen haben Sie gezeigt, dass schon die Verbindung verschiedener Erlebnisse desselben Ich, dass die Erinnerung und , mit dem Ich-Du-Erlebnis in genauer Analogie steht - dass in beiden Fällen eintritt, was Sie "Perspectivismus" nennen. Aber in perspectivistischer Umschreibung sehen wir, "dasselbe" Objekt, wenn wir verschiedene Stellungen im Raume zu ihm einnehmen - und der Raum ist Form des objektivistischen, beherrschenden Erkennens. Ich glaube nicht, dass ich hier den Fehler mache, ein blosses Bild zu <...> - vielmehr scheint mir die Voraussetzung einer objektiven Ordnungsform zu den wesentlichen abbildenden Zügen des Bildes zu gehören, das im Wort "Perspektivismus" liegt. Vielleicht wird die Sache klarer, wenn man eine terminologische Untersuchung einführt: unter "Realität" sei der berechtigte Selbstständigkeits-Anspruch eines Erlebten, unter "Wirklichkeit" der eine einheitliche Zusammenhang verstanden, in den wir alles Erlebbare einzuordnen beanspruchen. Dann ist die Realität Du , erfüllterte - der Kern der Realität also gleicherstellendem, verstehenden Denken zugänglich - die Wirklichkeit nur mit Hilfe beherrschenden, objektvisierenden Denkens aufzubauen.
Wirklichkeit und Realität sind aufeinander angewiesen - das der sich Realität ( etwa im Erlebnis des Widerstandes) gibt der beherrschbaren Ordnung der Wirklichkeitsformen erst das, was sie von der Möglichkeit zur Wirklichkeit erhebt - umgekehrt bleibt alle Realität , ungesichert, wenn sie nicht zur Wikrlichkeit sich gemäss den Formen beherrschenden Denkens zusammenfügt. Vielleicht <...> Sie ein, dass eine solche Betrachtung das Zusammengehörige trennt, um es dann äusserlich durch "Beziehungen" zu verbinden - aber diese Auflösung und Vereinigung ist notwendig wenn man sich einer einheitlichen Wirklichkeit auch nur nähern will. Man darf das "beherrschende" Denken nicht pragmatisch missverstehen - es handelt sich nicht um bloses Instrument der Praxis - sondern um Herrschaft des Geistes, und auch die Technik ist nur möglich, weil der Geist "wirkliche" Zusammenhänge beherrscht. Die ungeheure Fülle dessen, was uns nur durch beherrschendes Denken zugänglich wird, vom Aufbau des bis zum Weltsystem, von den elektrischen Wellen bis zu den Röntgenstrahlen, fordert seine Aufnahme in die Wirklichkeit, ist für unsere "Weltanschauung" schlechterdings nicht auszuschalten. Eben erst hat die Antwort eines philosophisch gebildeten Psychiaters auf meinen Aufsatz mir gezeigt, dass der Naturforscher die Einheit und Ausdehnung beherrschenden Denkens immer zu seinen Gunsten usw, ihm (bei aller Anerkennung seines <...>) den Primat zuteilend. Er gerät in Gefahr, das Realste zum herabzusetzen - aber die Gefahr, dass der geisteswissenschaftlich Eingestellte sich gegen das Umfangreichste und Mächtigste systematisch verhält, ist nicht <...> dringend, wie Hegels bekannte Urteile über die Finsternis belegen.
Entscheidend ist, dass das beherrschende Erkennen ebenso in das verstehende als <...> eingeht, wie das Umgekehrte der Fall ist. Sie haben durchaus Recht, im Objektivismus bereits den ersten Schritt beherrschenden Erkennens zu sehen - dieser Schritt aber ist auch bei wesentlich gleichstellender Erkenntnis unvermeidlich, obwohl es dialektisch zurückgetan werden muss, da die Objektstellung das Ich und den Akt . Man kann sich das am Ich selbst klar machen - gerade z.B. auch an der Gegenüberstellung des früheren Ich-Zustandes zum jetzigen bei der Erinnerung. Die Bewegung des Ich besteht darin, dass ich alles, was zu sein gehört, mir auch gegenüberstelle, dass das Ich ungeachtet seiner an den Leib, an die Stellung in der Gemeinschaft, an dem Inhalt seiner Strebungen sich über das alles auch erheben kann. Das rein erkennende Subjekt ist vom erlebenden nicht nur verschieden sondern ebenso bereits "" in ihm enthalten - somit würde schon ein gliederndes, gestaltendes Erleben unmöglich sein, wir blieben in dumpfer Versunkenheit im Augenblicklichen gefangen. Übrigens ist das Aufstreben zu reiner Erkenntnis keineswegs die einzige Befreiungsrichtung des leib- und zustands-gebundenen Ich - eindrucksvoll für mich persönlich ist vor allem die Fähigkeit, sich über zunächst auch Wollen, Wahrnehmen, Denken in ihrem Baum <...> Stimmungen zu erheben. Ich lebe ganz in einer Depression, die lieblich durch Kopfschmerz, Mattigkeit, starkes Ohrensausen u.s.f. repräsentiert ist, sie färbt meine momentane "Weltanschauung", ist mit meinem erlebenden Ich identisch. Mit Hilfe z.B. eines Zwischenstadiums der "Entspannung", der Abstellung der Gedanken bei Ruhelage des Leibes u. Augenschluss gelingt es dann, diese ganze depressive Stimmung als <...> "Pathos" von sich zu entfernen, sich über sie zu erheben - nun bin "ich" nicht mehr in allen diesen üblen Stimmungen, sie sind als "<...>" durchaus noch da, auch das Leiden an ihnen ist nicht beseitigt - aber "ich" bin über ihnen, ihnen gegenüber frei - und nun wird möglich, dass "Vernunft wieder an zu sprechen" fängt. Jeder moralischen Selbstprüfung, ja schon jede Bemühung um ein gerechtes Urteil geht dieselbe Bewegung voraus. Die Fähigkeit, sich über das zu ihm selbst gehörige Besondere zu erheben, die Richtung auf die "Vernunft" gehört zum Wesen des Ich. Sobald ich mich aber über etwas erhebe, weise ich ihm seinen "Ort", seinen "Platz" an - es wird dann seinerseits in irgend einem Grade objektiviert. Ebenso schliesst jede Gemeinschaft mit einem "Du" ein Etwas ein, auf das wir gemeinsam hinzielen können, das also seinen "Ort" unabhängig von der Relation auf jedes einzelne Ich hat. Gewiss, dass wir beide "dasselbe" meinen, z.B. diesselben Vorgänge im Raum beobachten oder uns über eine Agelegenheit beraten, ist nur "Minimum" der Gemeinschaft - aber dieses Minimum kann (ob es nun explicit <...> oder sucht) bei keiner Gemeinschaft fehlen. Ich will heute nicht darauf eingehen, dass das auch für die Theorie der Gemeinschaft wichtige Folgen hat - Gemeinschaft und Gesellschaft sind nicht nur Gegensätze, sondern notwendig verbunden, wenn auch mit wechselder Dominanz - mir kommt jetzt nur darauf en, Ihnen zu zeigen, warum ich Wirklichkeit nicht allein vom Du-Erlebnis her erreichen kann, warum ich in ihr die für alles (gleichstellende wie beherrschende) Erkennen zielgebende "Idee" sehe.
Ich habe Ihnen eine Abhandlung geschickt, keinen Brief. Aber bei der nehen Verwandschaft unseres Denkens liegt mir viel daran, von Ihnen verstanden zu werden - und natürlich ebenso viel daran, sie zu verstehen.
Bitte grüssen Sie in Weimar die Bekannten von mir. Ich schreibe auch an Kerschensteiner noch, dass ich nicht komme. Ich habe immer die Hoffnung, einmal ohne die Unruhe eines kongresses mit Ihnen zusammen zu sein, damit sich zu menschlischem und philosophischen Austausch Gelegenheit bietet.
Mit vielen Grüssen
Ihr
Jonas Cohn; von: Cohn, Jonas an: Litt; Ort: Freiburg i.B. |