Bestand:Privatarchiv Litt, Theodor
SignaturNA Litt, Theodor B 1-0404
TitelBrief von: Beyer, Karl (Berlin-Friedenau) an: Litt
Enthälths; Brief 2 Doppelblätter 14,1 x 22 cm
Zeitvon1925
Zeitbis1925
BemerkungenDokumentenabschrift: Hochverehrter Herr Professor! Welche zerstörenden Wirkungen Unzulänglichkeiten der pädagogischen Theorie für die Praxis haben, müssen wir Lehrer täglich spüren. Deshalb müssen wir Ihnen dankbar dafür sein, daß Sie die in Frage kommenden Begriffe, die so leicht Unfug anrichten können, mit so großer Vorsicht behandeln, sie immer wieder hin- und herwenden, um Einseitigkeiten des Denkens und Ausdrückens möglichst auszugleichen. Wir dürfen von Ihnen hoffen, daß Sie auch noch weiter Wesentliches beitragen werden, um die Schule von der Herrschaft der populären Pädagogik zu befreien. In Ihrer Schrift "Erkenntnis und Leben" legen Sie eine jener uneingestandenen Voraussetzungen frei, welche m. E. grade das Gefährliche jener Pädagogik ausmachen. Es ist die Voraussetzung, daß sich die Methoden der Naturwissenschaften und der Technik unbeschränkt auf Geistiges übertragen lassen. Demnach hätte irgendwelche Theorie erlernbare und übertragbare Methoden der Erziehung zu fixieren, die es jedem normal Beanlagten und Vorgebildeten ermöglichten, ein und dasselbe Tun in identischen Sinne jederzeit zu wiederholden. (Identisch ist hier allerdings so gemeint, wie wir sagen, dieser Spaten sei derselbe wie jener, d.h. hinsichtlich dessen, worauf es für den praktischen Zweck ankommt, mit ihm identisch.) Während nun die populäre Pädagogik grade die ästhetische, ethische und religiöse Erziehung einer solchen technischen Methode unterwerfen möchte, weisen Sie darauf hin, daß die Grenze dieser Methode da liegt, wo das Berechnen aufhört und das Verstehen beginnt. Mit der Grenze der technischen Methode fällt zusammen die Grenze der Zweck - Mittel Erwägung, des zielbewußten Wollens (natürlich nicht des auf ein gerichteten Willens), der behördlichen Vorschrift und Kontrolle, der rechtlichen Verantwortlichkeit, der pflichtgemäßen Aufgabe. (Pflicht im Sinne dessen verstanden, was die Gesellschaft von dem Einzelnen fordern und dessen Nichtbefolgung sie durch Entziehung materieller Vorteile bestrafen kann.) Die Bestimmung dieser Grenze scheint mir von eminenter Bedeutung für die gegenwärtige Situation der Schule zu sein, und mangels Gefühl für Grenzen überhaupt das typisch moderne Laster, mindestens in der populären Pädagogik. Indem Sie nun die Fundamente Ihres Denkens fortgesetzt einer Prüfung unterziehen, damit sich keine uneingestandenen Voraussetzungen einschleichen, erhalten Sie neuen in sich geschlossenen Gedankenbau. So übt die Lektüre Ihrer Schriften immer die Wirkung auf mich aus, daß sie mich abschreckt von eigenen Versuchen. Und doch erscheint es mir nicht richtig, daß wir andersdenkenden Lehrer der populären Pädagogik einfach das Feld überlassen, zumal wir doch einsehen müssen, daß jene Pädagogik in ihren Konsequenzen einfach zur Auflösung der höheren Schule führen muß. Deshalb versuche ich den pädagogischen Problemen von zwei gerigheren, in der Praxis liegenden Punkten aus näher zu kommen, von der Struktur der höheren Schule und von der Aussage, dem Satz her. Die Schule scheint mir eine bestimmte Struktur zu haben, die sie auf bestimmte Bildungsaufgaben einschränkt. Diese Struktur ist geschaffen und wird erhalten und genährt durch eine allgemein verbreitete Forderung, die lautet: Sicherung gegen persönliche Willkür. Wie diese Tendenz im Staatsleben die Selbstverantwortlichkeit des Monarchen nicht ertragen konnte und an seine Stelle Instanzen setzte, die mit einem Gehege von Sicherungsmaßnahmen umgeben sind, - eine Entwicklung, die 1918 nur ihren äußeren Abschluß fand - so ist diese Tendenz von Anfang an bestimmend gewesen für die Staatsschule. Diese Tendenz fordert, daß nicht etwa Persönlichkeiten aufgrund tiefen Verstehens Lehrer und Schüler auswählten, sondern daß jedermann aufgrund nachweisbaren Könnens sich das Recht erringen kann, in die mit öffentlichen Mitteln erhaltenen Institutionen aufgenommen zu werden. Wir würden als Eltern es als schwere Rechtsverletzung empfinden, wenn unser Kind in eine Klasse nicht aufgenommen wird, weil es nach dem Urteil des Lehrers in die Gemeinschaft nicht hineinpaßt, oder daß es ausgestoßen wird etwa, weil es nach dem Urteil eines Einzelnen infolge seines schadenfrohen und an objektiven Daten eine Vertragsverletzung nachgewiesen wird, wir würden es ebenso als elementare Rechtsverletzung auffassen, wenn wir hörten, daß sich der Lehrer um unser Kind weniger kümmert, als um andere, die er für höherwertig hielte. - Wir würden es aber nicht für eine Rechtsverletzung halten, wenn unser Kind nicht in einem Freundschaftsbund, unser Sohn nicht in einen Kreis aufgenommen wird, der sich um einen Gelehrten, um einen verehrten Meister schart. - Dazu paßt das ganze System von Zensuren, Versetzungen und Prüfungen, deren Resultate aufgrund obejektiv wägbarer und berechenbarer Leistung durch den Wahrheitsbeschluß eines Kollegiums festgestellt wird, dazu paßt die Möglichkeit der Beschwerde, bei der durch übereinandergebaute Instanzen, durch aktenmäßige Behandlung für eine "objektive, wie sachliche" Erledigung des Falls gesorgt wird. Überall ein klug ausgedachtes System, um das Persönliche auszuschalten, ein System, das keine Willkür ersonnen hat, sondern das von unserem Rechtsempfinden gefordert wird. ( Man denke sich den Kreis um Plato in ähnlicher Weise organisiert!) Ich halte es für sinnlos, an diesem Bau herumzuflicken oder seine harten Kanten zu verschleiern. Wir müssen vielmehr den Gesetzen gehorchen, die sich aus dieser von unseren eigenen Willenstendenzen getragenen Struktur ergeben. Im Dienste der Reinlichkeit und Rechtschaffenheit sollten wir dafür sorgen, daß aus diesem Gefüge alles Wesensfremde ausgeschieden wird. Immer noch ist es (in den kulturkundlichen Fächern) üblich, das, was Ausdruck ästhetischen, ethischen und religiösen Erlebens sein soll, zum Gegenstand einer Zensur und zur Grundlage der Versetzung zu machen, immer noch dient ein "gutes" ästheisches Erlebnis als Ausgleich für eine mangelhafte mathematische Leistung. - Jeder Lehrer muß doch die elementare Macht fühlen, mit der der Schulunterricht alles rationalisisert und mechanisiert. Also fort mit allem aus dem eigentlichen Schulunterricht, was nicht rationalisiert und mechanisiert werden kann. Das müssen wir anderen Bildungsmächten überlassen, und wenn diese Bildungsmächte nicht mehr lebendig sein sollten, dann ist von der Schule aus nichts daran zu ändern. Der zweite periphere gegenstand, von dem ich ausgehe, ist die Aussage, der Satz. Ob der Schüler sich ein ästhetisches Urteil, eine Kultursynthese, eine "strukturpsychologische Erkenntnis" erarbeitet, stets terminiert die Arbeit in einem Satz. Wenn der Lehrer auf die Schönheit eines Gedichts, die Höhe eines Lebensideals "hinweist", geschieht es durch einen Satz. (Ich sehe hier ab von der Möglichkeit, daß das Ergriffensein von einem Werte auch von Person zu Person überstrahlen kann ohne Aussagen, die jenen Wert zum Gegenstand haben) Wenn die Schulbehöreden den Lehrern ein ideales Bildungsziel "geben", so geben sie ihnen im eigentlichen Sinne nur Worte, Sätze. Nun gibt es Gesetze, welche die Beziehungen zwischen Worten, Bedeutungen und erfüllenden Anschauungen regeln, also bestimmen, wann eine Aussage sachhaltig oder leer ist. Dem entsprechen die Gesetze, welche die Art und Weise bestimmen, in der wir uns die Worte anderer aneignen können, indem uns mit dem Wort auch sein gegenstand gegeben wird. Andererseits werden die Vertreter aller pädagogischen Richtungen zugeben, daß die leere Aussage, die Phrase keinerlei Wert für die Erziehung hanebn. Die Aussage bildet alo ein neutrales Gebiet von einiger Sicherheit und Festigkeit für die Fragen der Pädagogik. Besonders wichtig scheint mir das ausdrückliche Werturteil zu sein und entscheidend die Erkenntnis, daß die Wertungen, die dem Werturteil die erfüllende Anschauung geben, Aktu sui generis sind. Denn ich meine, zu den uneingestandenen Voraussetzungen der populären Pädagogik (und auch weithin der kulturkundlichen Praxis) gehört folgende Auffassung: Wahrnehmungen sind Ursachen des ästhetischen usw. Fühlens. Indem nun der Mensch sorgfältig auf die (wahrnehmungsmäßigen) Kennzeichen und Merkmale achtet, die jene Wahrnehmungen auszeichnen, welche bei ihm und anderen ästhetischen Gefühle bestimmter Art hervorrufen, gewinnt er allmählich empirische Regeln. Diese Regeln soll er nicht ausdrücklich formulieren - das wäre offenbarer Rationalismus - es soll sie "im Gefühl" haben, wie ein Kind, ohne das gesetz der Schwerkraft formulieren zu können, es "im Gefühl" hat, daß es nicht aus einem hochgelegenen Fenster auf die Straße springen darf. (Dieses "im Gefühl haben" ist natürlich nur eine unvollkommene Vorstufe zum Ergreifen des theoretischen Gesetzes.) Die Erlebnisunterlage eines Werturteils ist demnach ein logischer Schluß, der ein Wahrgenommenes aufgrund seiner Merkmale als Einzelfall einer Regel erfaßt. Im Wesentlichen ist das Werturteil dasselbe wie das Einrodnen einer Pflanze in eine botanische Klasse. So kann das Urteilen über Kunstwerke ebenso wie das Bestimmen von Pflanzen im Unterricht methodisch geübt, zensiert und zu Unterlage für versetzungen gemacht werden. - Mit dieser Auffassung sind allerdings wohl die durchschnittlichen ästhetischen Werturteile psychologisch richtig charakterisiert, nur daß sich uns solche "durchschnittlichen Werturteile" sofort als Phrasen enthüllen, wenn wir der Erkenntnis Ernst machen, daß echten Werturteilen nur Wertungen, als Akte sui generis, die Erlebnisunterlage verschaffen. - Die höchsten Wertgebiete, die Gebiete der Kultursynthes und der strukturpsychologischen Erkenntnisse stellen zwar die strengsten Forderungen an die Aussagen, die sie zum Gegenstande haben, aber diese Forderungen sind am wenigsten deutlich für jedermann vernehmbar. Deshalb ist grade hier die Initation, die Fälschung so leicht. Da hier die Phrase nahzu das Normale ist und wir diesem natürlichen Element nur so weit entkommen, als wir uns ihm in harter Selbstzucht entringen, so sind diese Gebiete äußerst gefährlich für eine Institution, in der Zenhtausende von Lehrern Hunderttausende von Schülern unterrichten. Deshalb sollten wir uns lieber nach Gebieten mit einer jedem sichtbaren, aufdringlichen Gesetzlichkeit umsehen. Ein solches Gebiet sind die fremden Sprachen. Die Erlebnisunterlage, die eine Übersetzung zu einer rechtmäßigen Aussage macht, bilden jene Akte, die vom fremden Wort zur Bedeutung herab- und zum deutschen Wort heraufsteigen. Ein Herabsteigen in tiefere Schichten ist für eine Übersetzung nicht nötig, die nur im Groben richtig sein soll. Hier ist nun auch der mittelmäßige Lehrer gezwungen, den Kampf gegen die Phrase Stunde für Stunde zu führen, viel mehr führt diesen Kampf die Sache selbst in einer ganz groben, handgreiflichen Weise. Und zwar haben die alten Sprachen einen entschiedenen Vorzug, weil die neueren Sprachen, wie alle "realistischen" Fächer, durch ihre unmittelbare Beziehung zum Nützlichen außerordentlich gefährdet sind; ist hier doch jedes Minimum an Leistung schon nützlich. Die alten Sprachen enthalten in ihren elementaren Forderungen eine starke in die Höhe treibende Kraft, welche die Tendenz hat, auch die Arbeit eines schlechten Lehrers und einer schlechten Klasse auf einem gewissen Niveau zu erhalten. (Natürlich wäre auch diese Arbeit sinnlos, wenn nicht in den altsprachlichen Texten Bildungswerte steckten, die unter Umständen wirksam werden könnten:) Das Niveau der ganzen Schule, ihr Gesamtwert für die Kultur wird wesentlich bestimmt durch das, was mittelmäßige Lehrer und mittelmäßige Klassen in ihrem Rahmen leisten können und müssen. - Ein Gesetzgeber, der die Schule reformieren wollte, müßte auf dem Boden der höchsten Werte stehen. Sein Werk aber denke ich mir so, daß er in schlichter und nüchterner Sprache knappe Befehle gibt, die sich streng innerhalb der Grenzen des Befehls halten, daß er sich bei der Auswahl der Unterrichtsmaterien mehr auf die Triebkraft der Sachgebiete als auf die Vollkommenheit der Lehrer verläßt, der Schule einfache Aufgaben gibt und in Freiheit wachsen läßt, was darüber hinaus wachsen will. Gegenwärtige Schulreformen gehen andere Wege, infolgedessen nähern sich die wirklichen Leistungen der Schule mit erschreckender Schnelligkeit dem Nullpunkt, während sich darüber ein Bau von Phrasen, Illusionen und unerhörten Prätentionen erhebt. Da Sie in Ihren Untersuchungen den weit schwereren und rechtmäßigeren Weg vom Zentrum zur Peripherie gehen, wäre es für mich wichtig zu erfahren, ob Sie auch solchen Versuchen, die an der Peripherie einsetzen, einigen Wert zu messen. In aufrichtiger Hochschätzung Ihr sehr ergebener Karl Beyer, Studienrat.; von: Beyer, Karl an: Litt; Ort: Berlin-Friedenau