Bemerkungen | Dokumentenabschrift: Sehr verehrter Herr Kollege,
Es ist nicht leicht Ihre Frage in Kürze zu beantworten, doch will ich immerhin versuchen, in wenigen Worten meine Meinung vom Neodarwinismus zusammenzufassen.
1. Die ausführlichste Darstellung finden Sie bei: Julian Huxley, Evolution, London, seit 1942, 4 Auflagen.
2. Im Neodarwinismus, der eine internationale Angelegenheit ist, wird auf der Basis der modernen Erbforschung versucht, die Darwinschen Evolutionsideen neu zu formulieren. Der Streit geht darum, ob diese Ergebnisse der Erbforschung nur für kleine Ausschnitte des Evolutionsgeschehens, z.B. Artgliederung gelten, oder ob das Gesamtbild der von der Paläontologie ermittelten Zusammenhänge durch die Genetik erklärt wird. Die rabiaten Vertreter der Lehre nehmen selbstverständlich das Letztere an, skeptischere Beurteiler schränken die Geltung dieser Erbregeln auf kleine Ausschnitte des Naturgeschehens ein. Der Neodarvinismus ist eine Theorie, deren Reichweite noch völlig unentschieden ist.
3. Es ist klar, dass alle diejenigen Geistesströmungen, welche seinerzeit bereits aus dem Häckelschen Darvinismus sich genährt haben, heute wiederum den Neodarvinismus pflegen. Dies gilt ganz besonders für die Marxisten der westlichen Sphäre. Für sie ist diese neue Lehre wiederum die wissenschaftliche Begründung aller ihrer Wunschträume. Dass ich selber nur die allereingeschränkteste Variante dieser Lehre gelten lasse und im übrigen die Entfaltung der Organismen als eines der grossen Rätsel auffasse, die noch nicht gelöst sind, brauche ich wohl kaum zu betonen.
Ich hoffe, dass Ihnen diese Zeilen wenigstens einen Hinweis bieten und bleibe mit herzlichen Wünschen und
kollegialen Grüssen
Ihr
gez. A. Portmann; von: Portmann, Adolf an: Litt; Ort: Basel |