Bemerkungen | Dokumentenabschrift: Lieber und verehrter Herr Litt!
Ihre freundlichen Zeilen über mein Buch haben mir eine grosse Freude bereitet. Wenn ich etwas in Erwiderung zu sagen versuche, so geschieht das in Antizipation eines erhofften Gesprächs. Dabei stelle auch ich die grosse Frage: An Deus sit? beiseite, um statt dessen ein Wort über das andere von Ihnen erwähnte Problem zu sagen. Ist die einzelne Entscheidung oder Handlung als Fall unter einer allgemeinen Regel zu betrachten? - die alte Frage des Antinomianismus. Ich möchte die Frage , aber mit zwei die Begabung qualifizeirenden Bemerkungen: (!) Die Norm, Teil eines Ordnungsgefüges, ist "verfügbar" nur in einem eingeschränkten Sinn. Sie steht fordernd vor mir als einem, der sich zu entscheiden hat, und nur in dieser Sicht wird sie angemessen sichtbar und (für mich) verfügbar. Sobald ich aber derart über sie verfügen will, den ich sie zum Maßstab für das Tun eines Anderen mache, verdunkelt sie sich. Denn das Beurteilen eines Anderen, als ein Verhalten zu ihm, statt unter einer besonderen Norm: das scheinbar richtige Urteil kann lieblos und damit schief sein. So hat, beispielsweise, Campion, der unter Elisabeth verurteilte und hingerichtete Jesuit, richtig gehandelt, als er den Gesetzen zum Trotz heimlich die Messe las. Er tat das in Unterwerfung unter die gleiche Norm, auf die sich Sokrates (nach der "Apologie") berief: man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen, oder: das bonum spirituale statt über dass bonum politicum, d.i. das erstere ist Ma?stab für letzter. Wenn Campion aber, in Anwendung der gleichen Norm, geurteilt hätte "alle anglikanischen Geistlichen meiner Zeit sind Verräter", hätte er falsch geurteilt, und dieser Irrtum hätten einen Schatten auch auf seinen Märtyrertod geworfen. - (2) So entscheidend der "Fall" - Charakter in der Perspektive der vita agenda ist, so wenig kann er für den Betrachter der vita acta in Erscheinung treten. Aristoteles hat dem Rechnung getragen, als er dem "unmittelbaren Situationsbewußtsein" () einen entscheidenden Anteil bei der Bildung des "praktischen " zusprach. Um bei meinem Beispiel zu bleiben: Campion fand sich nicht unter der erwähnten Norm - er stellte sich unter sie kraft eines heroischen, ihm eigenen Entschlusses. Es hätte auch andere Auswege gegeben. Allgemein gesagt: wir finden uns nicht unter den für unser persönliches Dasein entscheidensten Normen - wir stellen uns unter sie (durch einen von SK misverständlich als "Selbstwahl" bezeichneten Akt.) Die Normen, unter denen wir uns finden, sind um die praktischen Umrisse des Normgefühls: daher tritt dort, wo ein Vergehen vorliegt, die Betrachtung der tat als "Fall" in den Vordergrund. - Bitte haben Sie Nachsicht wegen der dogmatischen Form, mit der ich der Kürze halber diese Dinge vortrage. Aus dem Angedeuteten ergibt sich vielleicht, warum gerade "Gerechtigkeit" (heut u. stets) in konkreter Anwendung nur in groben Annäherungswerten zu fassen ist.
In herzlicher Verehrung grüßt Sie
Ihr Helmut Kuhn
P.S.
Nun habe ich doch, in der Hitze des einseitigen Gesprächs, das vergessen, womit ich den Brief anfangen wollte: den Dank für "Der Mensch vor der Geschichte". Es wird Sie nicht überraschen zu hören, dass ich nichts in dieser beschwingten Darlegung finde, dem ich nicht zustimmen könnte und dass überdies die Ausrichtung Ihres Gedankengangs - der Nachdruck, den Sie auf die "Gegenwart", ihre (erkenntnis-) theoretische und praktische Bedeutung, legen - mein eigenes Anliegen aufs nächste berührt.
Mit nochmaligen Dank
Stets Ihr
HK.; von: Kuhn, Helmut an: Litt; Ort: München |