Bemerkungen | Dokumentenabschrift: Sehr verehrter Herr Kollege,
verzeihen Sie, dass ich auf Ihre ausführlichen Darlegungen vom 28. Mai erst heute antworte. Es tagten zwei Kongresse bei uns auf hiesige Einladung, mit 500 Teilnehmern, und soeben erst verläuft sich die Flut ..
Auf beiden Tagungen, der Ornithologen wie der Zoologen, war Descendenz, wie zu erwarten, eine absolute Selbstverständlichkeit. An 70 Vorträge, alle Diskussionen bewegten sich in desdendenztheoretischen Vorstellungen. Es gab kein einziges Gegenwort. Das wirkt erstaunlich zu einer Zeit, wo die Öffentlichkeit von Descendenz nichts hört als dass sie längts von namhaften Biologen widerlegt im papierkorb schlummere.
Inzwischen hörte ich von mehreren Ohrenzeugen, insbesondere von Konrad Lorenz Berichte über die Bonner Apriltagung (Gegenwärtige Fragen der Anthropologie und Biologie), welche Sie leiteten. Ein schriftlicher Bericht, der mir ebenfalls vorliegt, schreibt Ihnen die folgenden Sätze zu: Die bIologie ist mit Recht diffamiert. Denn sie hat ihre Grenzen überschritten. Im Seelischen und allem Wesentlichen des Menschen hat die Biologie nichts zu sagen. Die Diffamierung wird erst dann von der Biologie genommen, wenn alle Biologen das einsehen. Vom Seelischen unterrichte in der Schule am besten der Philosoph, und wofern ein solcher fehle, gewiss nicht der Biologe, sondern der Geograph:
Leib des Menschen in der Biologiestunde
Seele des Menschen in der Geographiestunde.
Damit erübrigt sich eine Antwort auf die Formulierungen Ihres Briefes vom 28. Mai und der voraufgehenden Postkarte, die ja wesentlich milder waren, jedenfalls nicht von einer Diffamierung sprachen. Ich hatte immer schon befürchtet, dass hinter den Formulierungen Ihrer Leitsätze und Ihres Vortrages derartiges stecke, und das hat sich nun in vollen Klarheit bestätigt. Das macht die Verständigung und die einmütige Kundgebung, die man von uns erwartet, nicht eben leichter.
Sie sprechen von einem Kampf der Biologie nach unten und oben. Sie setzen die Biologie beiderseits zwischen Grenzpfähle gegen andere Wissenschaften, und Grenzüberschreitung bedeutet Diffamierung, solange bis der Grenzüberschreiter zu seinem Leisten zurückgekehrt ist und verspricht, bei ihm zu bleiben.
Nun stehen Ihre unteren Grenzpfähle genau mitten im Arbeitsgebiet der Physiologie, die sich ja bemüht, im Lebensgeschehen physokalisch-chemisch definierbare Abläufe aufzudecken, und Ihre oberen mitten im Arbeitsgebiet der VGL. Verhaltensforschung. Sie anathematisieren also zwei existente, wohlgeordnete Wissenschaften, die nun einmal eben da sind.
Soweit Wissenschaften nach naturwissenschaftlicher Methode arbeiten, dulden sie zwischeneinander keinen Widerspruch. Soweit terminologische Widersprüche auftreten, werden sie an Hand von Tatsachen, die man gemeinsam feststellt, durch neue Formulierungen ausgeräumt, welche die alten einander widersprechenden in die gleiche Superformel bringen. Jede Formel gilt solange, wie ihr keine Tatsache widerspricht, jede geltende Formel deckt alle einschlägigen Tatsachen. Das gilt auch für die anathematisierte Physiologie und Verhaltensforschung. Wollten sie sich mit auch nur einer physikalischen oder chemischen Tatsache in Widerspruch setzen, so wären sie keine Naturwissenschaften mehr. In diesem Sinne ist auch die Vgl. Verhaltensforschung eine Naturwissenschaft.
Dass dabei von einer "Auflösung" in einem "restlosen Zurückführen" von Lebensvorgängen auf Physik und Chemie keine Rede ist, sollte keiner Erwähnug bedürfen. Unser Unwissen ist unendlich, unser naturwissenschaftliches Wissen ist höchst endlich. Die "Zurückführbarkeit" liegt haargenau in der Unendlichkeit. Trotzdem befinden wir uns bei unserer Arbeit wohl, da jeder Schritt legitim ist, jederzeit nachprüfbar, jede recht gestellte Frage ihre Antwort findet.
Nach oben hin arbeiten wir ebenfalls nach naturwissenschaftlicher Methode auch über Dinge, die sich heute noch nicht und unbekannt wann je in physiologischer Sprache ausdrücken lassen, und sind in der Lage die aus den Befunden gezogenen Schlüsse naturwissenschaftlich nachzuprüfen. Sollten die Formulierungen dann etwas enthalten, was einer terminollogischen Grenzüberschreitung gleichkäme, so erbitten wir Hilfe von den Bewohnern der Grenzgebiete, nicht aber das Anathema und Läugnung unserer Befunde. Wir kennen dieselben Grenzpfähle wie auch Sie, doch sitzen sie bei uns eben nicht zwischen den Tatsachen, sondern zwischen den Sprachen, die diese Tatsachen beschreiben. Stets reden mehrere Grenzgebiete von den gleichen Tatsachen, jede in ihrer Sprache. Da muss man solange dolmetschen, bis sich ein neues Esperanto herausgebildet hat, das beide verstehen. So ist aus Physik und Chemie die physikalische Chemie entstanden, so aus Mendelismus und Chromosomenlehre die moderne Erblichkeitslehre, aus Genetik und Entwicklungsphysiologie die Phaenogenetik, und so immer fort.
Es gibt z.B. heute keine Möglichkeit, das Lernen physiologisch zu behandeln. Um auch nur den Dressurverlauf zu beschreiben, müsste ich im Kolleg, um nicht von Ihnen der Grenzüberschreitung geziehen zu werden, einen Geographen oder Philosophen neben mir stehen haben, der jedesmal das Wort Lernen an meiner statt ausspricht, und so weiter.
Ich rede oft und viel von der metabasis eis allo genos, dass die Studenten mich bei passender Gelegenheit damit aufziehen. Gewiss machen wir beim Beackern der Grenzgebiete trotzdem ständig terminologische Fehler. Wenn v Frisch sagt, die Biene "kalkuliere" in ihre Richtungsorientierung nach der Sonne die Zeit ein, oder v Holst, ein neurophysiologischer "Apparat" "errechne" Vektoren oder Schlimmeres, so ist das gewis terminologische metabasis am laufenden Bande, genau wie wenn der Physiker einmal Licht sagt. Trotzdem hat ihm das noch kein Physiologe übel genommen oder gebeten, zum Kolleg hinzugezogen zu werden.
Um uns in einmütiger Kundgebeng zusammenzufinden, müssen wir gemeinsam Ihre Grenzpfähle ausreissen, einander so ausgiebig wie immer möglich zu beiden Seiten der Linie, auf der sie standen, besuchen, umschauen und Sie müssen Biologie, ich Philosophie lernen, der eine vom anderen und der andere vom einen. Dann müssen wir, wofern immer wir beide vom gleichen Grenzgeschehen sprechen wollen, uns Satz für Satz verdolmetschen, bis wir uns ganz verstanden haben. Dass das möglich ist, dafür gibt es schon heute Beweise. Mögen wir wollen oder nicht, wir treiben nun einmal im gleichen Boot auf dem tobenden Ocean dahin und sollten, statt Fakultätenstreites, gemeinsam schöpfen, SOS funken, nach Rettung spähen.
Indem ich Ihnen für Ihre grosse Mühewaltung nochmals danke, bin ich mit den besten Wünschen für eine Verständigung
Ihr ergebener
gez. O. Koehler; von: Koehler, Otto an: Litt; Ort: Freiburg i. Br. |