Bestand:Privatarchiv Litt, Theodor
SignaturNA Litt, Theodor B 1-0364
TitelBrief von: Koehler, Otto (Freiburg i. Br.) an: Litt
Enthältms; Brief 4 Blatt A4
Zeitvon1952
Zeitbis1952
BemerkungenDokumentenabschrift: Sehr verehrter Herr Kollege, mit grossem Anteil habe ich Ihren Vortrag gelesen und bitte Ihrer Aufforderung gemäss sogleich antworten zu dürfen, ehe ich an meine Vortragsniederschrift gehe. Dass ich Ihr Heidelberger Buch von diesem Jahre nicht kenne, ist vielleicht insofern ein Vorteil, als es den meisten Ihrer Hörer ebenso gehen wird, ein Prüfstein auf die Möglichkeit von Missverständnissen. So gestatte ich mir einige Fragen, ob ich ich Sie missverstanden habe, und ob nicht die Gefahr besteht, dass auch unsere Zuhörer Sie im gleichen Sinne missverstehen, wie vielleicht ich. Man muss ja genau hinsehen, wo Sie eine Auffassung zuerst ausführlich darstellen, um sie dann zu widerlegen, bzw. wo Sie selber sprechen. Kann man es vielleicht kurz dahin aussprechen, dass das, was Sie bekämpfen, jede Art naturwissenschaftlicher Methodik auf Leben bis hinauf zur Geistigkeit angewandt, ist. Bekämpfen Sie die Biologie als solche? Für mich ist Biologie eine Wissenschaft mit Januskopf, genau mitten zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, sofern und soweit diese sich trennen lassen. Die Methodik des Forschens richten wir nach den jeweiligen Möglichkeiten. Ich darf vielleicht spezielle Fragen an Ihren Wortlaut knüpfen. Seite 2, Zeile 4 von unten: Anklage der rechenden Naturforscher gegen die schauende Naturauffassung. - In der bIologie unmöglich. Wir rechnen und schauen. Jenes z.B. in der Physiologie, Variationsstatistik und Genetik, dieses in Morphologie, Systematik, Tiergeographie, Paläontologie, Stammesgeschichte usw. Durch Kausalforschung suchen wir nach Gesetzen (Allgemeine Biologie), in der Stammesgeschichte fragen wir nach einmaligen historischen Abläufen. Seite 3, Absatz 3, Zeile 3-7. Dies vielleicht meine wichtigste Frage, genau wie nochmals Seite 11. Zeile 11 ff. Das Problem des organischen Lebens geht den Naturforscher nichts an. - Es gibt also keine Biologie als Naturwissenschaft? Ebenso das Problem der Kosmogonie, also hat die Astronomie dazu zu schweigen? Zum Problem der Willensfreiheit und der Frage nach Gott hat die Naturwissenschaft keinen Zugang. - Mein Kant ist mir in Königsberg verbrannt, so kann ich nicht nachsehen, die wievielte der vier Antinomien es war, die von der Willensfreiheit handelte, etwa so, dass sie in der naturwissenschaftlichen Abstraktion keinen Platz hat, aber aus unserer Subejektivität nicht wegzudenken ist. Trotzdem reden beide Sprachen vom gleichen Tatbestand. Gesetzt einer unterlässt, was er tun soll. Biologisch verstehe ich aus seiner faulen, feigen Veranlagung, dass er es unterlässt. Zugleich verdamme ich ihn als Mensch, weil ich ihn für verantwortlich halte und meine, erkönnte, wenn er nur wollte, und so bin ich dafür, ihn zu strafen. Der Schuss, der an mir vorbei ging, ist für mich als Ballistiker Zufall, für mich als Christ Gnade und Anlass zum Dangebet. Ja selbst im Feuer kann das Bitt gebet, ohne mein ballistisches Wissen auch nur im geringsten zu stören, mir helfen, mich angemessen zu halten. Darf ich auf C. F. von Weizsäckers Geschichte der Natur, auf Max Plancks Wort von den zwei Parallelen, die sich im Unendlichen treffen, verweisen. Dort werden Glaube und Wissen eine Sprache sprechen, aber die ist nicht mehr von dieser Welt. Auch Naturforscher können Menschen sein, und dann haben sie, ohne ihre Forschung zu verraten, Zugang zur Frage der Willensfreiheit und zu Gott, wenn sie recht zu ihm beten. Naturwissenschaftlich lehrten Darwin und Haeckel dasselbe, jener war auf seine Weise fromm, dieser Heide. Seite 4, Absatz 2 und Seite 5 oben. Diese Gegener sollten bedenken, wie oft gerade deutsche Forscher nur um der Sache willen immer weiter forschten, ohne auch nur im mindesten an technische Verwendbarkeit zu denken. Bunsen und Kirchhoff verbanden Sternwarte und Institut mit dem ersten zahlschreibenden Telegraphen, um dem Rechner die am Fernrohr beobachteten Zahlen schnellstens zu übermitteln, und liessen das Ding liegen, vergassen es, als sie es nicht mehr brauchten. Hertz entdeckte die langen Wellen; die drahtlose Telegraphie und das Radio erfanden andere. Es gibt Tausende von solch erschütternden Beispielen. Seite 7, Zeile 6-8. Ebenso entscheidend: weil Natur und denkender Geist für einander bestimmt, zu einander hingeordnet sind. - Rechnet auch unsere Vorstellung, die wir von diesem Zusammenhange zu haben beginnen, unter das, was Sie als schaudererregende Grenzüberschreitung verdammen? Wir meinen: unser Geist passt zu diesen Aufgaben wie der Flügel zur Luft, wie Sinne, Hirn und Erfolgsorgane zum Abbilden äusseren und inneren Geschehens und danach Handelns, dieses alles aus gleichen stammesgeschichtlichen Gründen. Wir kennen bei höheren Tieren und in uns selbst das gleiche unbenannte Denken. Indem nur wir es benannten, sprechen nur wir. Das, was wir benannten, hat schon bei höheren Tieren unbenannt zu seinem Gebrauch gepasst. Vom Ursprung der Sprache zum Geist war es ein weiter Weg, die Zeitschätzungen schwanken von 10- bis 50000 bzw. 500000 bis zu etwa einer Millione Jahre. Aber solcher Geist ist ohne Sprache nicht denkbar, und ohne unbenanntes vorsprachliches Denken, so meinen wir, wäre uns die vollendeste Sprache nichts nütze. - Michelangelos Bild der beiden einander berührenden Finger Adams und Gottvaters, 1. Mose 2,7, und die stammesgeschichtliche Vorstellung vom Werden des Menschen, reden in dreierlei Sprache vom Gleichen; so wie wir als Christen uns Gottes Kinder, als Staatsbürger Kinder unserer leiblichen Eltern nennen. Es ist ebensowenig ein Widerspruch, wenn ich Gott und meinen leiblichen Vater beide Vater nenne, wie diese drei Darstellungen der Menschwerdung einander widersprechen, oder wie es ein Widerspruch ist, wenn ich je nach dem Gesprächspartner Schnepfe, Woodcock oder Beccaccia sage. Und das gilt meines Erachtens nicht nur innerhalb der Grenzpfähle, hinter denen wir uns zu halten haben, sondern für alles, worüber alle reden sollen und müssen, die mitzureden haben. Seite 7/8: Die Natur, die darauf angelegt ist, vom denkenden Geist erkannt zu werden. - Ist das ihre Bestimmung? War sie nicht vor dem Menschen da? Klingt es nicht ein wenig wie Heideggers "zuhandenem Zeug"? Wir glauben nicht, die Natur zu erkennen, sondern nur in höchst endlicher Arbeit hie und da ein ganz klein wenig den Schleier zu lüften. Der Glaube hingegen umfasst das Unendliche. Seite 8, Zeile 3: Das Objekt wird dem Subjekt gleichsam entgegengeformt. - Wer ist der Former, doch wohl Gott. Dürfen wir sagen, er habe die Dinge uns entgegengeformt, damit wir sie verstehen? War die Natur nicht vor dem Menschen da? Schon Tiere verstehen davon so viel wie sie brauchen, um zu leben, und manches verstehen sie viel besser als wir. Einen Aal oder Lachs muss jeder Ubootführer beneiden. Seite 8, Absatz 2, Mitte: Dass der denkenden Vernunft so etwas wie die Vernunft im Weltall korrespondiert. - Ist die Natur nicht vernünftiger als wir? Sie sagen es ja auch, sie kann ja und nein sagen, und ihre Gesetze sind in der Sprache des Glaubens der Ausdruck göttlichen Willens. Bescheiden verglich sich Newton samt seinem Gravitationsgesetz dem Knaben, der am Strande des Ozeans seiner Unwissenheit einen bunten Kiesel aufhob. Newton hatte offenbar das Staunen nicht verlernt, und Hilbert sagte, Drosophila ist nur eine Fliege, aber sie hat uns grosse Dinge gelehrt,wobei er das meinte, dass die Crossover-Werte dem mathematischen Gesetz der linearen Anordnung gehorchen. Wenn am Ende des Absatzes der weltergründende Geist der des Naturforschers sein soll, so glaube ich fast, dass Naturforscher im Durchschnitt sich bescheidener ausdrücken würden. Die meisten wurden so bescheidener, je mehr Anlass sie hatten unbescheiden zu werden. Seite 10, Mitte: Illegitime Ausbreitungsversuche der Naturforscher. - Als sie antraten, standen sie einer geschlossenenen Widerstandsphalanx samt Inquisition und Scheiterhaufen gegenüber. Dort war der Drang nach Alleinherrschaft handgreiflicher als bei den Naturforschern. Es kommt darauf an, ob man beim Vorlesen die Anführungsstriche um "human" hört. Seite 11, Zeile 5-7. Soll wirklich naturwissenschaftlich betriebene Biologie verboten sein, jenseits der Grenzpfähle liegen, Ihr spezieller Einwand sie zu Fall bringen (Zeile 17)? Auch nur probeweise unsere Methoden an lebenden Objekte heranzubringen (Zeile 14 von unten) ist falsch? Sind Genetik, die ganze Pysiologie und vergleichende Verhaltensforschung lauter Grenzüberschreitungen? Dem Wortlaut nach kann der Hörer es kaum anders verstehen. Seite 12, Zeile 3. Der Physiker benützt seine Sinne, um seine Instrumente abzulesen, nur sprachlich abstrahiert er von ihnen. Aber der Sinnesphysiologe dolmetscht zwischen Physiker und Sinnespsychologen. Der Reizphysiologe und der vergleichende Verhaltensforscher messen auch Subjektives. Dabei denken sie nicht entfernt daran, auc wenn es in ihrer Sprache manchmal so klingt, ihre Modalitäten und Qualitäten zu verwechseln, und das ist ganz und gar keine Verleumdung ihres methodischen Ansatzes, geschweige Selbstaufhebung. Vielmehr kommen auch, und gerade diese Wissenschaften zwar langsam, aber stetig voran. Zeile 10: Willensfreiheit, Weltschöpfung. - Darf ich nochmals auf die Antnomien-Tafel verweisen, sowie auf die Kosmogonie des frommen Physikers C. F. v. Weizsäcker und des ebenso frommen Astronomen Heckmann. Dieser antwortete einmal in einer Königsberger Diskussion über die Kosmogonie einem Pfarrer, der ihn nach der Ursache des Kreises der Planeten um die Sonne befragte: "Darauf kann ich Ihnen zwei Antworten geben, die sehr verschieden klingen, aber beide das gleiche besagen. Die eine ist eine mathematische Formel, und die verstehen Sie doch nicht. Die andere heisst: Gott." Der Pfarrer antwortete erzürnt: "Da müssen Sie aber erst sagen, was Sie unter Gott verstehen." Worauf Heckmann mit einem Faustschlag auf den Tisch: "Wenn ich Gott sage, meine ich Gott, und wenn Sie etwa meinen, dass ich mir darunter ein Krokodil vorstelle, dann ist dies das letzte Wort, das ich mit Ihnen zu sprechen habe." Absatz 2, erste Zeile: als reine Theorie. - Und ihre Verifikation? Zeile 7/5, erste Zeile von unten: Grenzüberschreitung in der Naturwissenschaft zieht dasselbe in der Technik nach sich. Also ist doch, im Gegensatz zu früher Gesagtem, der Atomphysiker an Hiroshima schuld, der Fabrikdirektor, der Zyklongas zum Entwanzen herstellte, zu recht verurteilt, weil die Nazis damit in den KZlagern vergasten, der Pistolenfabrikant schuld am Mord, weil er dem Mörder die Waffe herstellte? Seite 13, Mitte: die Grenzpfähle, an dene es mit der naturwissenschaftlichen Objektbestimmung und der technischen Objektbearbeitung zuende ist. - Wo stehen sie, wer setzt sie? So lange es noch freie Forschung geben wird, kann die Naturforschung nie und wird nie Grenzpfähle anerkennen, gleich wer immer sie in den Boden gepflanzt hat. Stets wird sie, wo immer sie einen Ansatzpunkt sieht, den Hebel ansetzen. Sie weiss nicht, wie weit sie einmal damit kommen mag, und niemand weiss, worauf sie noch einmal kommen wird. Und das, worauf sie kommt, das ist da, und wer es nicht wahr haben will, verrechnet sich. Wer bestimmt, in welchen Reichen die Naturwissenschaft nichts zu suchen hat? Wo dängen wir uns ein? In die Problematik des Lebens? Ja, das tun wir, das ist unser Beruf. In die Kosmogonie? Ja, das ist der Beruf der Physik, Chemie und Astronomie. Die Ordnung der Bereiche, in die wir eingedrungen sind, zerstören wir tatsächlich und können es nicht lassen. Die Entdeckung Amerikas zerstörte die frühere Ordnung Europas um so mehr, je näher es uns rückte. Auch in den Bereichen, in denen wir unbestritten zu suchen haben, zerstören wir eine Ordnung nach der anderen. Aber immer noch haben wir dafür eine neue Ordnung geschaffen, die in einem Satz die alte und die neue Ordnung deckte, so dass die alte den Absolutheitsfaktor aufgab und sich freudig damit begnügte, Spezialfall der neuen zu werden. Wir verschweigen keinen neuen Befund, der sich jederzeit realisieren lässt, sondern freuen uns an ihm und tragen ihm Rechnung. Seite 14: drittletzte Zeile: was der Herrschaft des berechnenden Geistes widerstrebt. - Ist Erkennen und Beherrschen immer das gleiche? Wir erkennen äusserst stückweise. Ich glaube, es war ein Fortschritt, dass die noch von Karl Ernst von Baer geglaubte Urzeugung widerlegt wurde, und dass heute Erasmus in Freiburg sich nicht mehr über die Verbrennung der Hexe aus Kirchhofen sich zu freuen Anlass hätte, weil ihm jetzt keine Flöhe mehr molestieren würden, deren sie zwei Säcke voll unmittelbar vor seiner Wohnung losgelassen hatte. Jeder Gegener die Biologie lässt sich gerne vom Chirurgen heilen und vom Augenarzt die Brille verschreiben. Aber niemand von uns wird es erleben, dass ein homunculus, ja auch nur ein Virus "gemacht" wird. Die Geschichte hat gezeigt, dass allein der Glaube es nicht schafft. Die Naturwissenschaft alleine wird es ebensowenig schaffen. Wir brauchen beides in Personalunion. Die Grenzpfähle stehen für mich nicht in der Gegend, sondern lediglich zwischen den Sprachen, die vom gleichen reden, aber dolmetschen müssen wir lernen, um einander zu verstehen, und man sollte uns in ein Konklave einmauern und solange darin hungern lassen, bis wir uns verstanden haben. Unbedingt nachzuholen habe ich meinen tiefen Dank für all die schönen Stellen, in denen Sie der Naturforschung gegeben haben, was ihr gebührt. Ihre Stimme ist um so gewichtiger, als das nicht allzuviele Geisteswissenschaftler tun. Vielleicht haben Sie bei jenen Stellen, zu denen ich Sie frage, mehr an Jordan gedacht als an die Biologie, aber der Zweck meines Briefes ist, Sie zu bitten, angemerkte Vortragsstellen dank Ihrer Meisterschaft des Formulierens so zu ändern, dass nicht der Schein entsteht, es gäbe keine naturwissenschaftlich arbeitende Biologie, und wenn, dann nur als schaudererregende Grenzüberschreitung. Das bekommen wir alle Tage zu hören. Der Papst hat zwei recht ungleiche Brüder, Darwin und den Existentialismus verbannt, die Nazis machten angeblich aus der Biologie, die Nürnberger Gesetze, die Russen führen Darwin im Munde und meinen Lyssenko / Mitschurin und die Galileis schwören unter Mescalin reiehenweise ab. Trotzdem geht die Biologie ihren Weg und wofern Forschung möglich bleibt, wird sich an Darwin dieselbe Entwicklung wiederholen, wie an Copernikus. Was jedes Kind mit Augen sieht, was schon altgriechische Philosophen, Nemesius und Reimarus wussten, das wird nicht wieder verschwinden. Der Geist ist eine Lebenserscheinung, das Leben ist eine Naturerscheinung. Daher ist es keine Grenzüberschreitung, wenn der Biologe, auf den Schultern der Physik und Chemie stehend, sich auch zu den Fragen des Geistes zu Worte meldet. Ich bin in der Hoffnung Sie nicht erzürnt zu haben Ihr ergebener gez. O. Koehler; von: Koehler, Otto an: Litt; Ort: Freiburg i. Br.