Bestand:Privatarchiv Litt, Theodor
SignaturNA Litt, Theodor B 1-0363
TitelBrief von: Kesseler, Kurt (Düsseldorf) an: Litt
Enthältms; Brief 1 Blatt 22,9 x 29,1 cm - brandgeschädigt
Zeitvon1928
Zeitbis1928
BemerkungenDokumentenabschrift: Sehr geehrter Herr Professor! Für die Neuauflage Ihres Buches "Führen oder Wachsenlassen", die mir der Verlag in ihrem Auftrage zusandte, danke ich Ihnen verbindlichst. Als Dank und Gegengabe werde ich mir erlauben, Ihnen demnächst die fünfte Auflage meiner "Pädagogischen Charakterköpfe" zusenden zu lassen, in der auch Ihre Gedankenwelt eingehender behandelt wird. Ueber die zwischen uns strittigen Punkte werden wir uns schwerlich einigen, was ja auch nicht der Zweck einer wissenschaftlichen Diskussion sein kann. Unser Gegensatz ist in weltanschaulichen Stellungnahmen und Entscheidungen begründet, darum lässt er sich nicht wissenschaftlich wegdisputieren, sondern nur in aller Klarheit und Folgerichtigkeit herausarbeiten. Das entspricht ja auch Ihrem Standpunkt. In einem Punkt allerdings, glaube ich, verstehen Sie mich falsch. Sie dürfen mich nicht wie auf Seite 15 in so grosse Nähe Foersters rücken, denn ich stehe doch grundsätzlich anders, was zur Ablehnung Foersters durch mich führt. Wenn ich Wirtschaft und Politik unter "ideale Massstäbe" stelle, so heisst das nicht, wie Foerster will, dass in der konkreten Situation nur der ideale Massstab auf biegen oder brechen durchgesetzt werden soll, sondern es heisst, dass die Entscheidung in der konkreten Situation stets von verschiedenen Faktoren, von den idealen und realen Faktoren zusammen bedingt ist. Will man das ein Kompromiss nennen, so möge man es tun. Es ist aber doch ein gewaltiger Unterschied, ob der wirtschaftliche und politische Führer in der konkreten Situation nur den Machtgesichtspunkten folgt oder ob er sich auch vor der Idee verantwortlich weiss und um einen Ausgleich von Macht und Geist ringt. Darum ist der Pädagoge keineswegs in einer "beneidenswerten Situation", denn er weiss, dass all sein pädagogisches Wollen durch die Realitäten mindestens begrenzt wird, aber er ist gewissensmässig auch verpflichtet und darum ebenso verantwortlich wie der Politiker, der Realität die Idee entgegenzusetzen. Was wäre aus der Welt geworden, wenn nicht die grossen Ideologen immer wieder den Mut gehabt hätten, sich den "Realitäten" entgegenzustemmen, und ist es in den gegenwärtigen wirtschaftlichen und politischen Kämpfen nicht eine dringende Notwenidigkeit, inmitten der wirtschaftlichen und politischen Erwägungen auch die "pädagogischen" Erwägungen zur Geltung zu bringen? Wenn das nicht geschieht, wenn die "Eigengesetzlichkeit" sich ungehemmt und unkritisiert austoben kann, dann ist das Ende aller Dinge gekommen. Für mich ist das entscheidene Problem der Gegenwart die Frage, wie die "Eigengesetzlichkeit" durch die idealen Massstäbe, wie die Macht durch den Geist begrenzt und beseelt werden kann. Aus dieser Grundhaltung, die bei mir letztlich aus christlich-sozialen Einstellungen folgt, ergibt sich auch meine Einstellung zum pädagogischen Problem. Vielleicht bietet sich einmal Gelegenheit, über diese Dinge uns mündlich weiter auseinanderzusetzen. Heute nachmittag wird zunächst im hiesigen Philologenverein eine Disputation über Ihre pädagogische Stellung stattfinden, bei der ich den Angreifer, Hoesch den Verteidiger abgeben werden. Es kommt ja nicht darauf an, dass der eine oder der andere Recht behält, sondern dass die Sache gefördert wird. Dass ich aus diesem Grund das "Gezänk" genau so ablehne wie Sie, folgt daraus mit Notwendigkeit. Mit hochachtungsvollen Grüssen Ihr sehr ergebener gez. Kesseler; von: Kesseler, Kurt an: Litt; Ort: Düsseldorf