Bestand:Privatarchiv Litt, Theodor
SignaturNA Litt, Theodor B 1-0357
TitelBrief von: Litt (Bonn) an: Hübinger
Enthältms; Brief 3 Blatt A4; Durchschlag; Briefkopf: Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Bonn
Zeitvon1957
Zeitbis1957
BemerkungenDokumentenabschrift: Lieber Herr Hübinger! Im Grundsätzlichen Stimme ich dem Verfasser des Promemoria durchaus zu. In den kommunistischen Staaten geschieht vom Kindergarten an alles Erdenkliche, um die Menschen zum "richtigen Bewußtsein" zu drillen, d.h. in der Staatsreligion fest zu machen. Und doch wären Wesen und Inhalt dieser Abwehr so leicht zu bestimmen, weil die abzuwehrende Doktrin in all ihren Verzweigungen "Wissenschaft" zu sein behauptet, folglich die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Denkmitteln geradezu herausfordert. Diese Auseinandersetzung erfolgreich durchzuführen wäre die westliche Welt deshalb durchaus in der Lage, weil die philosophischen Grundthesen, auf die sich der dialektische Materialismus stützt, zum großen Teil Irrtümer sind, die sich als solche unschwer erweisen lassen - angefangen mit der wahrhaft grotesken "Anspiegelungs"-Theorie, die in dem kanonisierten Grundbuch, Lenins "Materialismus und Empiriokritizismus" entwickelt wird. Der von Ihnen zitierte Einwand, daß man mit einer solchen Widerlegung dem Diamat "zu viel Ehre antue", scheint mir deshalb nicht stichhaltig, weil eine Diktrin, die Millionen Köpfe und Herzen beherrscht und das idelle Rückgrat gewaltiger Staaten beildet, unmöglich durch schweigende Verachtung tot gemacht werden kann. Wir sind es einfach der Menschheit schuldig, zu ihrer Schwächung und Zurückdrängung zu tun, was in unseren Ktäften steht. Wir dürfen auf diese Bemühen um so weniger verzichten, als es bei uns im westlichen Deutschland nicht wenige gibt, die sich durch die monolithische Geschlossenheit dieser angeblichen "Idee" selbst dann imponieren lassen, wenn sie ihren Inhalt mit beträchtlichen Zweifeln begegnen. Liegen demnach die Aussichten für eine wirklich wissenschaftliche Gegenwehr sehr günstig, so bleibt die Frage, wie weit der Geist des freien Westens diese Aussichten zu realisieren in der Lage ist. Diese Frage richtet sich in erster Linie an die Philosophie. Denn der Diamat ist, wie er selbst genau weiß, ein in seinen letzten Grundlagen philosophisches Denksystem. Mustert man aber die gegenwärtige Lage der westlichen, zumal der westdeutschen Philosophie, so kann man, as die Beantwortung der genannten Frage angeht, nur zu einem trüben Ergebnis gelangen. Das erste Hindernis einer wirkungsvollen Gegenoffensive ist der Umstand, daß bei uns die Philosophie weithin den Glauben an sich selbst verloren hat. An der Tagesordnung ist die - nicht zum ersten Mal auftretende - Behauptung, die Stunde der Philosophie sei abgelaufen, und zwar besonders was das Selbstverständnis des Menschen angehe. Sie sei durch die "rein empirische" Wissenschaft überflüssig gemacht worden. Aber es gehört nicht viel Scharfsinn dazu, zu erkennen, daß eine rein empirische zu Werke gehende Wissenschaft und zumal Anthropologie den Kampf mit dem Diamat nicht aufnehmen geschweige denn sie reich durchführen kann. Das zweite Hindernis wird gebildet durch die Zersplitterung der philosophischen Meinungen und Lehren, die im Hinblick auf die konkurrenlose Einstimmigkeit der östlichen Verkündigung besonders beunruhigen muß. Eine weitere Erschwerung liegt darin, daß gerade die am meisten beachtete philosophische Denkrichtung sich eine Gestalt gegeben hat, die sie zu einer sachgemäßen Auseinandersetzung mit dem System des dialektischen Materialismus unfähig macht. Vom Boden der Existenzphilosophie läßt sich nach meiner Überzeugung der Diamat nicht aus den Angeln heben. Dazu bedarf es einer Anthropologie und Sozialphilosophie, die die Logik nicht vor die Tür weist, sondern sich durch sie in jedem Denkschritt beraten läßt. Aber gerade weil die Lage aus den angeführten Gründen so wenig befriedigend ist, wäre die Gründung des vorgeschlagenen Instituts besonders zu begrüßen. Es würde für diejenigen Philosophen und fachlichen Forscher den Vereinigungspunkt bilden, die in der Widerlegung des dialektischen Materialismus eine der wesentlichsten Aufgaben der durch sie vertretenen Disziplin erblicken. Es würde für die rechte Verteilung und Abstimmung der durchzuführenden Aufgaben die Verantwortung übernehmen. Es würde in der breiteren Öffentlichkeit die Gewißheit hervorrufen, daß der Westen der ideologischen Offensive des Ostens nicht wehr- und hilflos gegenübersteht, sondern ihr mit ernstahften, nämlich mit wirklich wissenschaftlichen Argumenten zu begegnen in der Lage ist. Etwas verzagt werde ich, indem ich mich zu der organisatorischen Seite der Angelegenheit zu äußern versuche. Denn es fällt mir nicht leicht, mir von dem Zusammenspiel der vorgesehen Instanzen und Gremien eine Vorstellung zu machen. Im Ganzen habe ich den Eindruck, daß der Apparat, der hier aufgeboten werden soll, umfangreicher und komplizierter ist, als es die Sache fordert. Es kommt ja, meine ich, nicht darauf an, sämtliche Teildisziplinen des dialektischen Materialismus - der ja alle Dinge im Himmel und auf Erden umspannt - genau zu studieren und Stück für Stück zu widerlegen. Viel wichtiger ist es, die tragenden Grundüberzeugungen dieser Universal-"Wissenschaft" und zumal der aus ihr sich begründenden Anthropologie, Sozialphilosophie und Geschichtsphilosophie kritisch unter die Lupe zu nehmen und nachzuweisen, daß durch sie der Mensch nicht nur verführt wird, sich theoretisch im falschen Lichte zu sehen, sondern auch dahin gebracht wird, das gemeinsame Leben in eine Gesamtverfassung hineinzuzwängen, die nicht anders als menschen- und seelenmörderisch genannt zu werden verdient. Die Folgerichtigkeit, mit der es von den Prämissen dieser Doktrin her zu diesen Praktiken weitergeht - sie ist es, die es vor allem dem Bewußtsein der Denkfähigen und Denkwilligen unter uns einzuprägen gilt. Das zu erreichen bedarf es aber m.E. nicht eines so weitgehenden Aufwandes. Alle guten Wünsche für den Fortgang der Angelegenheit, und herzliche Grüße Ihres; von: Litt an: Hübinger; Ort: Bonn