Bemerkungen | Dokumentenabschrift: Lieber Herr Heisenberg!
Es ist sehr schade, daß unsere sich an meinen Vortrag anschließende Unterredung unterbrochen worden ist. Ich hätte mich gerne mit Ihnen noch weiter über die Selbstintertretation Ihrer Wissenschaft unterhalten. Denn es ist meine Überzeugung, daß an dieser Stelle die Probleme liegen, an deren Klärung beiden Teilen, den Physikern und den Philosophen, gleich viel gelegen sein muß. Und ich beklage tief die hochmütige Überlegenheit, mit der manche Existenzphilosophen über diesen Problembereich hinwegsehen.
Ich fasse in möglichster Kürze die Einwände zusammen, die ich gegen Ihre Interpretation habe.
Die Kluft zwischen der klassischen und der modernen Physik wird unstatthaft vertieft, wenn jener nachgesagt wird, daß sie das "Ansich" der Natur (d.i. die Natur, wie sie ohne Rücksicht auf unser Denkbemühen beschaffen ist) wiedergebe. Auch diese Wissenschaft entsteht nur in der Berührung - fast möchte ich sagen: an der Berührungsstelle - von denkendem Geist und ihm begegnender Weltwirklichkeit. Anders ausgedrückt: es gibt keine "ansichseiende" Mathematik der Naturvorgänge, die der Geist bloß nachzubilden hätte. Darüber darf uns die relative Anschaulichkeit und eindeutige Bestimmtheit der klassischen Physik nicht täuschen. Der Descartessche Dualismus darf schon der Auslegung dieser Wissenschaft nicht zu Grunde gelegt werden.
Wenn sich in der Mikrophysik der Anteil des Subjekts durch die bekannten Unstimmigkeiten, Ungenauigkeiten usw. ganz anders fühlbar macht, so darf das nicht dahin interprediert werden, daß die Naturgesetze der Kernphysik nicht mehr "von dem Verhalten der Elementarteilchen, sondern von unserer Kenntnis der Elementarteilchen handeln". So lange Physik Physik ist, handelt sie, sei es auch unter den bewußten Komplikationen, von dem "Gegenüber" der zu erforschenden Natur. Wird der Physiker durch die besagten Komplikationen dahingebracht, sich mit "unserer Kenntnis" der Elementarteilchen zu beschäftigen, so wendet er sich dem Physik treibenden Subjekt zu, und das heißt: er ist nicht mehr Physiker, sondern der wissenschaftstheoretisch über das physikalische Denken reflektierende Philosoph. Beweis: die völlig gewandelte Methodik des Denkens! Im Horizont der Physik ist das Subjekt nur als Raumding, als Atomkomplex usw. vorzufinden. Es ist also nicht so, daß "das naturwissenschaftliche Weltbild heute aufhört, ein naturwissenschaftliches zu sein". Neu ist nur, daß der Physiker heute im Unterschied von der früheren Lage genötigt ist, sich auf sich selbst als Subjekt zurückzuwenden und so den Kreis der physikalischen Objektwelt zu überschreiten.
Tut er dies, so stellt sich ihm alsbald die Frage, ob er Physik treibt als "Mensch", d.h. als Glied dieser species, oder als das denkende Subjekt, das im Menschen nur eine besondere, aber nicht ausschließliche Vertretung findet. Und die Beantwortung dieser Frage wird ihm, scheint mir, zeigen, daß er auch in dieser Hinsicht nicht als der in sich selbst verfangene "Mensch", sondern als der im Denken sein bloßes Menschsein überschreitende Platzhalter des Denkens überhaupt am Werk ist.
Ich hoff, ich habe bei aller Kürze meine Position deutlich gemacht. Die philosophische Bedeutung der Frage tritt erst in dieser Fassung deutlich hervor. Bitt fühlen Sie sich nicht zur gegenäußerung verpflichtet. Ich kann mir denken, daß Sie schon genug Verpflichtungen am Halse haben.
Mit den besten Grüßen und Wünschen zum Fest
Ihr; von: Litt an: Heisenberg, Werner; Ort: Bonn |