Bemerkungen | Dokumentenabschrift: Lieber Herr Litt!
Hoffentlich sind Sie nicht Gottfried Keller, der es seinem Freunde Theodor Storm verdachte, daß er aus der ihm übersandten Sammlung seiner Gedichte, diejenigen heraushob, die ihm besonders zugesagt hatten.
Über einiges, das mir beim ersten Lesen Freude gemacht hatte, habe ich Ihnen ja geschrieben. Jetzt, wo ich Ihr Büchlein genau studiert habe, danke ich Ihnen für die vielen einleuchtenden Formulierungen, wie z.B. die Definition der Politik (S. 24), der Ideologie (S. 79), für die Scheidung der beiden Bedeutungen von Wissenschaft (S. 50) - ist es nicht betrüblich, daß ich mir darüber noch nie Gedanken gemacht hatte - für die Zusammenfassung Ihrer Untersuchungen über das Allgemeine (S. 66). Gern stimme ich dem zu, was Sie über die Fügsamkeit unseres Volkes und ihre Ursache (91) bemerken, und was Sie (S. 108/9) über Freiheit und freie Teilhaberschaft , (S. 96) über Ansätze zur Freiheitsverkürzung in der demokratischen Welt, (S. 162) über die Notwendigkeit der Selbstbeschränkung der Wissenschaft ausführen.
Die ganze Schrift möchte ich eine "Rede über die Freiheit an die Gebildeten unter ihren Verächtern" nennen.
Beim zweiten Lesen habe ich mich beständig gefragt, ob Ihre Darlegungen einen wahrheitliebenden, zu besserer Einsicht bereiten Kommunisten überzeugen würden. Ich fürchte: nein. Und ich glaube zu wissen, warum nicht. Der Kommunist würde Ihnen vielleicht zugeben, daß unter dem Zwang des bolschewistischen Regimes gewonnene Ergebnisse (S. 85 u.a.) keinen Anspruch auf Wahrheit und Anerkennung erheben Könnten; aber er würde einwerfen, daß Marx die Grundlehren des Kommunismus nicht unter dem Drang des Staates (S.S. 68/69, 73, 161), sondern im bürgerlich freien England geschaffen habe. Marxismus sein daher keineswegs als Wissenschaft maskierter Staatswille (S.85), keine reglementierte Afterwissenschaft (S. 73), sondern rein theoretisch nachgewiesene vollgültige Wahrheit. De kommunistische "Dogmatiker" vetraue nicht auf die eigene Unfehlbarkeit (S. 141), sondern auf die unwiderlegte, weil unwiderlegliche Marxsche Lehre. Soweit sie dieser nicht widersprächen, seien auch die Geisteswissenschaften im Sovjetstaate frei. Jene Einschränkung bedeute eben so wenig einen Zwang, als etwa der Physiker darum unfrei sei, daß jene Ergebnisse nicht Newtons Grundgesetz der Mechanik von der Gleichheit von activ und reactiv widersprechen dürften, wofern er nicht als geistesgestört in eine Heilanstalt eingesperrt werden wolle.
Die Aufgabe der Geisteswissenschaften sei, Marxens Lehre auszulegen und die hier eine veränderte politische und geistige Welt zutreffenden Folgerungen zu ziehen. Hierbei könne es Streit und Fehlurteile geben. Diese führten auch im Sovjetstaate zu freien Diskussionen; nur aus taktischen Erwägungen müsse in einer noch kapitalistischen Welt den erörterungen, nicht der Wissenschaft der Maulkorb angelegt werden (S. 138).
Gewiß könne die marxistische Lehre nicht mathematisch bewiesen werde; aber nach S. 78 fehlten ja im Bereich des Menschlichen alle Voraussetzungen, "der Praxis die Beweiskraft des verifizierenden Experimentes beizulegen", und dann könnten die Bolschewisten, als uaf eine die Theorie bestätigende Praxis, auf die Leistungen hinweisen, die sie seit der Revolution vollbracht haben: daß sie einen völlig zusammengebrochen, von inneren Kämpfen durchwühlten, von äußeren Feinden bedrohten Staat zum zweitmächtigsten der Erde gemacht haben, daß es ihnen gelungen ist, dem gewaltigsten Kriegsheer, das die Welt gesehen hat, zu widerstehn, daß sie das Analphabetentum beseitigt haben und dadurch alten Kulturvölkern wie Italienern und Spaniern überlegen sind, daß Bildung und Aufstieg heute jedermann vergönnt sind.
Die mangelhaften Wirklichkeiten der heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung (S. 78), würde der Kommunist sagen, seien kein Gegenbeweis: sie seien als Übergangserscheinungen zu werten, ganz abgesehen davon, daß es in den kapitalistischen Staaten viel schlimmere Übelstände gebe: so ist es z.B. in Nordrhein-Westphalen 3131 Leuten im Laufe von nur 15 Jahren gelungen, Millionär zu werden (von denen 911 über 2,5 Millionen besäßen), was sich unmöglich durch eigene Arbeit habe erzielen lassen; während steigende Baukosten und Mieten den minder Wohlhabenden das Leben immer schwerer machten. Im Interesse der Industriellen habe man bisher geduldet, daß die Fabriken Luft und Wasser immer mehr verschmutzten.
Gewiß dürfe es im kommunistischen Staat keine Freiheit der kontrarevolutionären Agitation geben S. 74, aber ob es denn in der Bundesrepublik Freiheit der revolutionären Agitation gebe? Es gebe hier ja nicht einmal Freiheit der pazifistischen Agitation, wie das Schicksal der hervorragenden Akademieprofessorin Beate Riemeck beweise.
Auch die "Selbständigkeit der richterlichen Gewalt" (S. 126) sei nicht unbedingt ein Vorzug: man brauche nur das Buch: "Die verratene Republik" des antikommunistischen früheren bayrischen Ministerpräsidenten Hoegner zu lesen, um zu erkennen, wie antidemokratische Richter das Recht gebeugt haben.
Damit lasse ich meinen Kommunisten verstummen. Über manches, was ich selbst noch auf dem Herzen habe, möchte ich mich gern einmal mit Ihnen mündlih verständigen. Hoffentlich führt Sie Ihr Weg bei einem Besuch bei Ihrem Sohn auch einmal wieder zu uns.
Als Dank für Ihr Büchlein möchte ich Ihnen für eine neue Auflage ein Verzeichnis der Druckfehler schicken, die mir aufgefallen sind:
S. 58 Z. 5 v.u.: "könne" statt könnte.
S. 64 Z. 16 v.u.: fehlt "zu" vor "der überredende".
S. 84 Z. 16 v.u.: "solange" statt "so lange".
S. 61 Z. 13: "zu" statt "so".
S. 65 zweiter Absatz Zeile 5: fehlt Komma nach "wollen".
S. 93 Z. 12 v.u.: "das" statt "die".
S. 100 Z. 20: "so lange" statt "solange".
S. 153 Z.12 v.u.: fehlt Komma vor "geschweige".
Nun bleibt mit nur noch übrig, Sie herzlich, auch von meiner Frau, zu grüßen.
Ihr Otto Grüters
P.S. Einen naturwissenschaftlichen Artikel für den Verfasser von "Denken und Sein" lege ich bei; von: Grüters, Otto an: Litt; Ort: Düsseldorf |