Bemerkungen | Dokumentenabschrift: Lieber und verehrter Herr Litt,
mit ihrer Schrift "Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt" konnte ich mich erst zu Beginn der Ferien beschäftigen. Dann aber fesselte sie mich von Seite zu Seite mehr, und ich stehe nicht an, sie ein wahrhaft bedeutendes Werk zu nennen, für das ich Ihnen herzlich danken möchte.
Man kann unter der antinomischen Deutung, der Sie die Gegenwart unterwerfen, auch das Schicksal der einzelnen Künste, freilich einseitig genug, sehen. Am weitesten scheint mir die bildende Kunst vorgeschritten zu sein. Die Kapitulation der Kunst vor der "Sachwelt" in der Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden ist in der gegenwärtigen Kunst ganz offenbar, trotz der irreführenden Bezeichnung als "Expressionismus". Es begann mit der analytischen Zersprengung der Naturformen und der Zusammensetzung der Sprengstücke zu neuen "einsichtigeren" Gebilden. Selbst die gegenwärtige Plastik (Henry Morre) ist schon so weit, aus organischen Teilaspekten eine neue, unheimlich lebendige Natur zu entwickeln, wie der Chemiker aus künstlichen Verbindungen von Grundstoffen neue Elemente gewinnt. Die Überwältigung der bildenden Kunst durch das naturwissenschaftliche Denken kann wohl nicht geleugnet werden. Auch die Wortkunst bleibt nicht zurück. Ein krasses, freilich kein erfreuliches Beispiel: die in ihrer Nüchternheit pysiologisch determinierten Darstellungen erotischer Szenen in den Romanen von Thomas Wolfe. Am Ende steht ganz konsequent die abstrakte Kunst. Sie löst sich ganz von der anschaulichen Welt und sucht in formelhaften Kombinationen von Linien und Farben in das Geheimnis des nicht mehr anschaulichen Seins im Innern der Gegenstandswelt einzudringen. Wie weit der seelenlose Maschinenrhythmus moderner Musik mit der Überantwortung des Menschen an die Technik zusammenhängt, vermag ich im Augenblick nicht zu überschauen. Die Antinomie des sinnlich-geistigen Umgangs mit der Welt droht in ein eingleisiges Ausweichen der Künstler nach der Richtung eines pseudowissenschaftlichen Aufspürens des Naturgesetzlichen in der Welt sich zu verengen. Von dem "sozialen Realismus" der bolschewistischen Welthälfte bis zu der abstrakten Kunst der westlichen Nationen würdigt sich die Kunst immer mehr zum "Zeitspiegel" einer den Menschen in ihre Organisationen einbeziehende Sachwelt herab, anstatt die Dissonanzzen und Spannungen der Gegenwart zu sinnlicher Gestalt und Wirklichkeit zu erheben.
Man muß sich fragen, ob die vielbeklagte Zuneigung des Publikums zu der älteren, klassisch gewordenen "Umgangskunst" - diesmal in der Musik am deutlichsten in der Anziehungskraft, welche die Musik von Bach bis Reger ausübt - nicht ihre tiefe innere Berechtigung hat, solange nicht in der Gegenwart eine Kunst da ist, welche den vollen umgang mit der Welt gestattet.
Diesem Hunger nach einer vollen Umgangskunst entspricht der unbestreitbar große Publikumserfolg der kunstgeschichtlichen Forschung, die eine Kunstwelt der Vergangenheit nach der anderen für den modernen Menschen erobert hat. Sie ist ihren klaren Weg gegangen von der Umbildung der klassischen Normbegriffe über die historischen Phänomenalbegriffe (Riegl, Wölfflin) bis zu der modernen "Strukturforschung" der Archäologie und Kunstgeschichte (die beste Darlegung ihres methodischen Standortes findet sich jetzt bei Fr. Matz, Geschichte der Kunst I (1950) 1-33). Sosehr sie einen notwendigen Schritt in der Entwicklung der kunstgeschichtlichen Disziplinen bedeutet, sosehr steht sie selbstständig neben der ontologischen Fragestellung der gegenwärtigen Philosophie und, namentlich wo sie sich einseitig zu verabsolutieren droht, neben der modernen Naturwissenschaft, freilich ohne von der direkt beeinflußt zu sein: vor allem in ihrer unverkennbaren Entfernung vom sinnlichen Gegenstand, in einer analytischen Methode, in der Entwicklung eines abstrakten Begriffssystems, durch welches sie zu der eigentlichen Wirklichkeit des Gegenstandes und auf diese Weise zu einer nur noch formelhaften Aussagemöglichkeit zu gelangen sucht. Darin besteht eine eingentümliche Verwandschaft zwischen der gegenwärtigen Kunstforschung und der gegenwärtigen Kunst selbst. Kein Wunder jedoch, daß dieser Richtung der Kunstforschung, soweit sie sich darstellend betätigt, kein Publikumserfolg mehr beschieden zu sein scheint. Der Verlag Klostermann hat die von Matz begonnene Reihe abgebrochen.
Was das eigentliche Problem der Pädagogik angeht, so bin ich gespannt, wie Sie das Problem der Elite anfassen werden. Denn ohne eine solche, d.h. ordnende Kräfte des Daseins, die sich in exemplarischen Gestalten verkörpern und diesen ein gegenwärtiges Wertsystem sichtbar werden lassen, kann wohl eine Erziehungslehre nicht auskommen.
Dies sollen nur Marginalien sein, zu denen mich Ihre Schrift angeregt hat. Natürlich ließe sich zu all diesem noch sehr viel mehr sagen, als es in solchen verallgemeinnerden Nebengedanken möglich ist. Sehen Sie bitte daraus nur, wie gern ich mich mit Ihnen wieder einmal über diese und ähnliche Dinge unterhalten würde.
Mit herzlichen Wünschen und Grüßen, auch von meiner Frau, bin ich in alter Verehrung
Ihr
B. Schweitzer
P.s.: Von Ihrem neulichen Vortrag in Tübingen hat mich nur eine übergroße Belastung in in ihrem Gefolge eine ebenso große wie <...> Müdigkeit abgehalten.; von: Schweitzer, Bernhard an: Litt |