Bemerkungen | Dokumentenabschrift: Sehr verehrter Herr Kollege!
Zu Ihrem heutigen 75. Geburtstage werden Sie so viele Ehrungen empfangen, dass die eines Fachkollegen einer anderen Sparte sich nur bescheiden der Reihe sehr viel berufener Äusserungen wird anschliessen dürfen. Aber erlauben Sie mir doch, neben den Wünschen für Ihr Wohlergehen und für die weitere Erhaltung Ihrer so bewundernswerten Frische und Schaffenskraft ein weniges über den Beitrag zu sagen, den die Staatslehre und Politik Ihrer Arbeit verdankt. Denn es ist doch in Ihrem Lebenswerke keine ganz geringe Komponente, dass Sie Sich von früh an nicht nur mit der Geschichte der Philosophie und mit philosophischen Problemen der sozialen befasst haben, sondern dass sie stets auch den Ausblick auf die Anwendung und Anwendbarkeit solcher Erkenntnisse in der sozialen Wissenschaften vor Auge gehabt haben. So ist es denn auch kein Zufall, dass Ihr Werk über "Individuum und Gemeinschaft" - das mich selbst seit sehr langen Jahren begleitet hat un zu dem ich immer wieder gern greife - in der Integrationstheorie von Rudolf Smend eine so wichtig Fortbildung gefunden hat. Vielleicht könnte man eines der wesentlichen Resultate Ihrer Bemühung in dieser Richtung darin erblicken dass Sie mit dem Gedanken der Verschränkung der individuellen Lebenszentren und des Aufbaus der Gemeinschaft als einer interindividuellen aber doch irgendwie auch überindividuellen geistigen Wesenheit den Weg für die langsame Ablösung der rein individuellen Sicht der Sozialgebilde bereitet haben, der in der modernen Soziallehre sich durchsetzt. Sie haben dabei aber sorgsam die andere Klippe voreiliger Verobjektivierung zu vermeiden verstanden, die hier - selbst Hegel ist hier wohl schwerlich dieser Gefahr entgangen - als Möglichkeit so nahe steht. In dieser Hinsicht staht die Entwicklung wohl noch sehr im Beginne. Vom Existentialismus her hat umgekehrt das einzelne Individuum wieder einen zentralen Platz in unserer heutigen Denkwelt erhalten, und nur zu leicht unterläuft dabei - so fern im Grunde diese Tendenzen sittlichen Fragestellungen stehen - eine geheime ethische Stellungnahme. Sie haben diese Fragen in Ihren Schriften der letzten Jahre, in denen Sie das Problem des Verhältnisses Individuum und Staat behandelt haben, wieder und wieder aufgegriffen und haben hier ganz unmittelbar zur Gegenwart gesprochen. Dabei ist die Bedeutung einer Staatsgesinnung, überhaupt der eigentlich ethisch-geistigen Fundamrnte des Staates richtig herausgestellt worden, so wenig freilich unsere Gegenwart wirklich bereit erscheint, diese Fragen ernst zu nehmen. Das immer wieder zu beobachtende Ausweichen in die von Carl Schmitt herkommenden vereinfachenden Begrifflichkeiten wie Autorität oder Souveränität mit denen man jenes Problem meint meistern zu können, oder umgekehrt einfach die Wiederholung älterer Theoreme über demokratisches Staatswesen, die heute einer sorgsamen Prüfung bedürfen, das alles sind keine Antworten auf die Gegenwart. Hier greifen Ihre Arbeiten wesentlich tiefer an, und wie ich meinen möchte, in sehr fruchtbarer Weise.
Lassen Sie mich zum Schlusse betonen, eine wie grosse Freude mir stets auch die gelegentliche Berührung gewesen ist, die wir in den letzten Jahren gehabt haben. Es zählt zu dem Unsegen heutigen Wissenschaftsbetriebes, dass es zum eingentlich wissenschaftlichen Gespräche kaum mehr Zeit und Neigung lässt. Das ist mehr als der Verlust eines Stückes Lebensfreude des geistigen Menschen; es ist oft die Verurteilung zum Monologe und zur Unfruchtbarkeit.
Mit den angelegentlichsten Wünschen für Sie und Ihr Wohlergehen darf ich verbleiben in wirklicher Verehrung
als Ihr ganz ergebener
gez. Scheuner; von: Scheuner, Ulrich an: Litt; Ort: Bad Godesberg |