Bemerkungen | Dokumentenabschrift: Lieber Freund!
Sie kennen den Genuß, mit dem man
sich nach einer Kette von Mühen etwas lange
aufgespartes Schönes gönnt. Das Semester ist beendet, der Akademievortrag gehalten, die
ca 450 Danksagungen sind fast vollständig er-
ledigt. Nun darf ich mich sichtbar zu Ihnen
wenden, wie es im stillen in der Zwischenzeit
jeden Tag geschehen ist. Sie kennen meine
Dankbarkeit für alles, was Sie mir zum 27.6.
gegeben haben. Ihr lieber Brief sprach dasselbe
aus, was ich empfinde: Wir sind zusammen-
gewachsen, erst durch den Beruf, dann durch
manche gemeinsame Seelennot. Wir waren
aber auch füreinander bestimmt. Denn bei
weitgehender Ähnlichkeit, schon im Denken, er-
gänzen wir uns. Ihre Linie ist viel fester
und klarer als die meine; bei mir sind die
u - Haken manchmal runder als die Ihrigen,
und so kann ich vielleicht Ihre Art zu sehen
gelegentlich etwas mildern. Aber was ich
heute aussprechen möchte, ist vor allem andern
das tiefe Gefühl des Glückes, daß Sie da sind, daß
wir die Schwere dieser Zeit gemeinsam tragen
und daß ich in Stunden der Einsamkeit
oder
Schwäche bei Ihnen immer Stütze und Trost
gefunden habe - finden werde. Nur daß wir
räumlich jetzt mehr getrennt sind als in
normalen Verkehrszeiten, ist mir oft schmerz-
lich gewesen.
Da war es mir denn das schönste
Geschenk, daß Ihre liebe Frau Gemahlin und
Sie selbst am 27.6. persönlich gekommen sind.
Meine Frau hat es schon wiederholt ausgesprochen:
dies gab dem vielfältigen Kreise den festen
Mittelpunkt. Erlauben Sie mir zu sagen:
Da ich von meiner Seite keine Familie habe,
haben Sie an mir Bruderstelle vertreten.
Ich weiß nicht, wie Sie persönlich zu Flit-
ner stehen. Er ist im Empfinden weicher als wir,
in der Gesinnung ebenso fest. Je mehr ich ihn
kennen gelernt habe, um so feinere und
zartere Tiefen habe ich an ihm entdeckt. Sein
Faust - Aufsatz in der Festschrift ist dafür auch
Zeugnis. Sie werden es verstehen, wenn ich
sage: auch Flitner gehört zu meinen Nächsten,
wie natürlich der stets erprobte treue Wenke.
Ihre Gabe zu der Festschrift ist wieder ein Meister-
werk philosophischer Gedankenführung. Ich bin in der glück-
lichen Lage, hinsichtlich der Sache ganz mit Ihnen
einig zu sein. Aber ich hätte den ideellen Aufbau
nie so klar und elegant zustande gebracht. Auch
solche schlagenden Wendungen wie S. 236 Anm. hätten
mir nicht zur Verfügung gestanden, ebenso S. 238 Mitte.
Für besonders wichtig halte ich Ihre These, daß die
menschliche Umwelt in sich die unumgängliche For-
derung enthält, sie zu . - Ich wollte
das Hauptexemplar der Festschrift mit meinen Strichen
eigentlich nicht entstellen. Aber bei Ihrem Beitrag habe ich
dann schließlich doch die Sätze, die mir als besonders
packend auffielen, unterstrichen. Gegen Schluß
ist immer weniger von diesem Schicksal verschont
geblieben. - Empfangen Sie für dieses große
Geschenk meinen herzlichsten Dank!
Von den anderen Auffsätzen haben mir Ode-
brecht, Bollnow, Rothacker u. Oelrich am meisten
gegeben, abgesehen von dem schon erwähnten Flitner-
schen Kleinod.
Eigentlich wünschte man, jede Woche von
einander Nachricht zu erhalten; ich wünsche vor
allem immer zu wissen, wo Ihre Söhne sind, ob
die Briefe regelmäßig eintreffen, und wie es ihnen
geht.
Das Bild des Krieges hat sich in den letzten 2
Monaten grundsätzlich gewandelt. Wir werden all-
mählich aus dem Westen verdrängt und - siegreich - nach Osten geworfen. Man hat nicht den Ein-
druck, daß nach irgend einer Seite sich endgültige Resultate anbahnen. Wohl aber erfüllt der an-
wachsende Zustand der Knappheit bei uns mit
begründeter Sorge.
Ob es ratsam ist, jetzt von Berlin wegzu-
ziehen, ist eine unbeantwortbare Frage. Kommt eine
Sprengbombe, ist es sehr ratsam; kommen Brandbomben,
so vielleicht garnicht, wie mir nach einem heute früh
aus Köln erhaltener Bericht erscheint. Jedenfalls wollen
wir am Dienstag nach Königstein im Taunus (Pension
Zartmann, Ölmühlweg 19) fahren und dort 3 Wochen
Bleiben. Mein Gesamtbefinden macht es sehr nötig. Und
haben Sie sich, gegebenenfalls Ihre liebe Frau Gemahlin
allein, für die entschlossen? Wenn man
etwas Gutes weiß, sollte man wohl für den Winter
möglichst viel Kräfte sammeln.
Wir beide grüßen Sie beide herzlichst und bitten
um gelegentliche Kartennachrichten.
Noch einmal danke ich Ihnen für alle freund-
schaftliche Güte, nicht nur die zum 27.6. bewiesene, von
ganzem Herzen! Ihr Eduard Spranger; von: Spranger, Eduard an: Litt; Ort: Berlin-Dahlem |