Bemerkungen | Dokumentenabschrift: Lieber Freund!
Schon zu Weihnachten hätte ich Ihnen über uns
gemeinsam beschäftigende sachliche Frage näher geschrieben,
wenn nicht der schmerzliche Verlust, der Sie damals
traf, das Menschlich-Persönliche in den Vordergrund
gerückt hätte, das ja auch sonst um Weihnachten
sein spärliches Recht an uns - und nicht in einem
froheren Sinne - geltend macht. Aber es fehlt
mir, wenn ich mit Ihnen der Weggemeinschaft
nicht bis ins Einzelne hinein bewußt und gewiß
sein kann. Trotzdem muß ich mich diesmal, meinem Herzen folgend, Persönliches voranstellen. Vor allem
die Frage, wie es mit Ihrer lieben Tochter steht
und welche Entschlüsse Sie nun für dieses Jahr
gefaßt haben. Und dann: wie Sie sich zu
der schwierigen Frage des Rufes an die sogenannte
Universität Frankfurt verhalten werden.
Im übrigen muß ich an den Weimarer
Kongreß anknüpfen, wenn ich wieder in vollen
Zusammenhang mit Ihnen kommen will. Ich habe
mancherlei darüber gehört und besitze ein - aller-
dings verwaschenes - Totalbild davon. Daraufhin
muß ich dabei bleiben, daß es ein Mißgriff des
Unglücksraben Behrendt war, wenn er uns
mit der Auferstehung des deutschen Ausschusses
beglückte. Auch Sie werden mir das jetzt wohl
zugeben. Daß ich in dieser Sache absolut passiv
blieb, erkläre ich Ihnen damit, daß ich die
Reichsschulkonferenz mitgemacht habe, Sie nicht.
Ihr Vortrag ist von bekannter klassischer Reife.
Er hegt wichtige Gedanken in so meisterhafter
Form, daß man sich erlöst fühlt, das nun
einmal ausgesrochen zu finden. Nur in einem
psychologischen Punkte scheint er mir zu weit
zu gehen: er nimmt den schönen Schleier
der Begeisterung vom Auge des deutschen Schul-
meisters. Wenn ein Junge in der Schule
sitzt, so darf man ihm nicht sagen, daß
es zunächst um die unregelmäßigen Verben
geht; man muß ihn glauben lassen, daß
er durch sie nur durch sie in den Himmel der
größten Seligkeiten eingeht. Wie will er sonst das
Elend tragen? Und beim Schulmeister ist es ebenso:
wir haben die Pflicht, ihm sein Elend zu ver-
süßen.
Religion und Kultur hat mir viel zu denken
gegeben. Seitdem ist ein gutes Gespräch mit
Grisebach hinzugekommen. Auch mit Ihnen
möchte ich darüber einmal sprechen. es ist
doch so, daß Kulturarbeit immer mehr die
Form wird, in der wir Religion haben, und
hier kehrt jener erste Gesichtspunkt wieder:
man muß glauben können, daß das Gottesdienst
ist. Aber ich sehe das plus ultra an einer
anderen Stelle: Gogarten und seine Geistes-
gefährten haben dies nicht: die Liebe, die zugleich
von dieser Welt ist und nicht von dieser Welt.
Sie allein schlägt die Brücken.
Über die große Geschichte der Ethik kann ich
noch nichts sagen, weil ich sie erst lesen kann,
wenn ich in diese histor. Probleme einmal
zurückkehre.
Im letzten Heft sind wir nun mit unsern
Pestalozzis beieinader, und gerade um die
zur Wirkung zu bringen, versende ich 100 Exemplare
buchstäblig in alle Welt. Der Stil beider
Aufsätze ist wieder typisch für uns: der Ihrige ist
unendlich viel geistvoller und gedankenschwerer
als der Meine. Ich werde ein Gefühl von Neid
nicht los. Nur dies darf ich sagen: Wenn Sie statt Pestalozzi überall Fröbel setzen, ginge
es zur Not auch. Bei mir ist die <...> zum
Konkreten stärker.
Sie entnehmen aus dieser Rede, was mich
im Winter vor allem beschäftigt hat. Ich habe
neben dem Laufenden (und viel bleibt daneben
nicht) fast nur Pestalozzi gelesen. Die Tage in
der Schweiz waren auch recht schön. Seitdem
war ich in Kiel (Marineoffizierstag, Kant-
gesellsschaft, Besichtigung der Päd. Akademie, die
gut wird), Lübeck und Stralsund, wo
ich ebenfalls gesprochen habe. Vom 3.-6. April
arbeite ich mit einem kleinen Kreis von Lehrern
in <..itzmehn> bei Oldenburg. Am 8. ungefähr will
ich dann für 14 Tage Erholung suchen, bestimmt in
Kerschensteiners Ruhe in <...>. Ich
habe den ganzen Winter unter nevösen Verdau-
ungsbeschwerden gelitten, mich aber sonst recht gut
befunden. Eben las ich, daß Sie um den 8. in
Eberswalde reden. Ob sich eine Stunde des Zusammen-
seins trotz meiner Reiseumstände findet?
Interessieren wir Sie, was ich ganz ver-
traulich hinzufüge. Der neue Geschäftsführer des
DLV. war kürzlich bei mir - ein verständiger
Mann - und deutete an, daß er es begrüßen
würde, wenn der DLV. mit Anstand aus
seiner einseitigen schulpolitischen Einstellung heraus-
käme. Ich soll (wenn ich will) einen Aufsatz
schreiben, der hinüberlenkt, und dazu habe ich
nicht übel Lust, obwohl ich noch nicht weiß, ob
es mir gelingt und wie man dieses heiße Eisen
am besten anfaßt. Aber ran muß jemand
an die Geschichte, und da Sie Weimar auf
Ihre Kappe genommen haben, so bin ich
im stillen bereit, meinen Buckel mal wieder
hinzuhalten.
In Kiel lernte ich Frau Hilner kennen. Leb-
haft, intelligent, sympathisch. (Frau Peters, die
Gattin des Akademiedirektors, hat es mir freilich noch
mehr angetan.) <...> ist mir manchmal für
faule Gerüchte nicht <...> genug, und sein
ironisches Wesen wie sein <...> <...> geben
der Zeitschrift bisweilen eine Note, die ich nicht will.
Die <... hochschulsentimentalität> scheint er nicht ganz
überwinden zu können. Aber die Entwicklung - mit
2500 Abonennten - ist ja wesentlich sein Verdienst,
und ich liebe es, wenn meiner ablehnenden
<...> gegeben werden.
Kerschsteiners Gesundheit machte mir in
<...> Sorge. Deshalb suchte ich seine >Nähe>.
Über haben wir auch noch nicht
gesprochen. Es war ein starker Erfolg unserer Seite.
Aber <...> bleibt mir, daß 7 Schriften nicht genügen,
um die Ggenseite zu überzeugen, daß
man doch auch seine <...> hat.
Es ist spät. Ich breche ab und grüße Sie
und Ihre Frau Gemahlin herzlichst
Ihr treu ergebener Eduard Spranger.; von: Spranger, Eduard an: Litt; Ort: Berlin-Wilmersdorf |