Bemerkungen | Dokumentenabschrift: Lieber Herr v. Braunbehrens!
Es ist gegangen wie so oft: unsere Schreiben haben sich gekreuzt. Über Ihr und der Ihrigen Wohlergehen können wir ja nun beruhigt sein. Wenigstens was den äußeren Menschen angeht. Für Ihren inneren Zustand habe ich, das können Sie mir glauben, volles Verständnis. Ich habe unterdessen von manchem Betroffenen gehört, wie gründlich der alte Kommißgeist fortlebt. Manchmal hat man den Eindruck, daß er sich durch Amalganierung mit gewissen anderen Ingredienzien der Zeit verstärkt hat. Natürlich ist an der Front manches anders. Kürzlich war Steger auf Urlaub hier und wußte viel überaus Interessantes sehr lebendig zu erzählen. Aber auch er stellte fest, daß der Drill zwar während der Kampfhandlungen verschwindet, aber nach Rückkehr in die Ruhelage sofort wiederkommt. Man fragt sich ja immer wieder, ob und wie diese Art der Menschenbehandlung mit den ungeheuren Leistungen der Truppe zusammenhängt. Man muß sich doch wohö entschließen, manche uns naheliegende Vorstellung von Freiheit, Selbstverantwortlichkeit u. dergl. zwar nicht aufzugeben, wohl aber einzuschränken, wenn die Frage nach dem sachlichen Ertag der Leistung gestellt wird. Auch die ungeheuren Leistungen der Arbeiterschaft sind von den weitgehenden Einschränkungen ihrer Freiheiten, die die letzten Jahre gebracht haben, nicht abzutrennen. Die abendländische Menschheit befindet sich offenbar in einem Stadium, in dem das so erfolgreich herangezüctete "intelligente Herdentier" nicht mehr entbehrt werden. Diejenigen, die es in seiner Züchtung noch nicht so weit gebracht haben, bleiben offenkundig in Hintertreffen. Natürlich liegt darin kein Trost für unsereinen, sondern nur die Erkenntnis, daß wir, sub specie der Zeitbedürfnisse gesehen, mangelhaft angepaßt und daher zur Ausmerzung bestimmt sind.
Was Ihre eigene Verwendung angeht, so würde ich am meisten denjenigen Erwägungen zustimmen, in denen Sie sich die Fülle von unerwünschten Möglichkeiten klar machen, die sich beim Verlassen Ihrer gegenwärtigen Position auftun würden. Daß der Krieg sich bis tief ins nächste Jahr hinziehen könnte, kann ich nach wie vor nicht glauben - und da ist doch die Zeit des Harrens, die Sie jetzt durchmachen, immerhin beschränkt und Sie sehen schon einen Abschluß vor sich. Freilich: was dann kommt, das ist die große Frage, mit der nur die Gedankenlosen leicht fertig werden. In dieser Hinsicht hat auch das Leben der Heimatkrieger seine Unerträglichkeiten! Es ist lächerlich und besorgniserregend zugleich, die Phantasie des Spießers in der Vorstellung einer umfassenden Beherrschung Europas oder besser noch des Universums schwelgen zu sehen. Dieselben Leute, die wegen Versailles Himmel und Hölle aufriefen, bedenken sich keinen Augenblick, ein verzehntfachtes Versailles zu fordern und herbeizusehnen. Wobei dann alle Grundsätze des "völkischen" Staates bedenkenlos in die Rumpelkammer geworfen werden.
Wie schön, daß die Ihren in Neumünster eine so gründliche Erholung genießen! Es tut auch der Seele gut, einmal ganz andere Eindrücke auf sich wirken zu lassen. Wir haben das in den Bergen auch erprobt. Zwar war das Wetter sehr wechselnd; aber wir haben an äußerer und innerer Erfrischung doch sehr viel mitgenommen. Meine Frau ist noch etwas in Partenkirchen geblieben, um sich für die bevorstehende Winterkampagne zu stärken.
Wie ist es: kommen Sie nicht einmal auf Urlaub nach Leipzig? Sollte es der Fall sein (etwa über einen Sonntag), so kommen Sie doch bitte zu einer Ihnen zusagenden Mahlzeit zu uns. Rechtzeitige Anmeldung erbeten (für den Fall einer Verhinderung auf unserer Seite)
Und im Übrigen: recht viel Wurschtigkeit und ausharrende Geduld!
Es grüßt Sie aufs herzlichste
Ihr
gez. Th. Litt; von: Litt an: Braunbehrens, Hermann von; Ort: Leipzig |