Bemerkungen | Dokumentenabschrift: 3./.4. Dezember 1943
Man mag sich eine herannahende Katastrophe noch so oft und noch so gründlich ausgemalt haben: ist sie erst da, dann sieht sie doch noch anders und fürchterlicher aus, als man sich vorgestellt hatte.
Am Abend des 3. Dezember hatte uns Frau Siller am Telephon mit apodiktischer Sicherheit versichert, ein Luftangriff komme absolut nicht mehr in Betracht, da die Nebelverhältnisse in England - mit denen sie offenbar sehr vertraut ist - nur in den frühen Abendstunden den Ausflug gestatteten - da ging Nachts 1/4 vor vier Uhr die Sirene . Viele Leute haben sie offenbar in dieser Stunde des tiefen Schlafes überhaupt nicht gehört und erschienen dann in mehr als mangelhafter Kleidung im Luftschutzkeller. So bei uns das Ehepaar Boos. In kurzer Zeit war es dann klar, daß es sich um das Ernsthafteste handelte, was Leipzig bisher erlebt hat. Immerhin ist zu bemerken, daß unsere nähere Umgebung nur von Brand-, nicht von Sprengbomben heimgesucht worden ist. Von deren furchtbaren Wirkung kann man sich an anderen Stellen der Stadt überzeugen. Der eigentliche Angriff dauerte garnicht lange: schätzungsweise 40 Minuten. Als das Knallen schwächer wurde, besichtigten die Männer das Haus von außen und mußten alsbald feststellen, daß es in einem Zimmer bei unserem Nachbar Kolb recht kräftig brannte. Wir begaben uns eiligst mit dem Löschgerät nach oben und versuchten in die Wohnung einzudringen. Da schlug uns dann ein glühendheißer Qualm entgegen, in den einzudringen sowohl Herrn Kolb als auch mir selbst in der Gasmaske vollkommen unmöglich war. Wir wären einfach umgefallen. In dieser kritischen Lage hat sich der Hausmann, Herr Lehnhardt, glänzend bewährt. Er ist von seiner Tätigkeit in der Fabrik an höhere Temperaturen gewöhnt und stürzte sich so und so oft mit Wassereimern in die Höllenglut. Und es gelang ihm, den schon sehr weit gediehenen Brand - es brannte das ganze Schlafzimmer mit seinen wohlgefüllten Federbetten - zu ersticken, ohne daß er selbst von einer Gasvergiftung heimgesucht worden wäre. Die anderen Hausgenossen halfen, indem sie Eimer mit Wasser herbeischleppten. Damit war die schlimmste Gefahr beseitigt und konnten wir uns dem sonstigen Hause sowie der Umgebung zuwenden. Es zeigte sich, daß im Ganzen 5 Brandbomben eingedrungen waren, alle nur bis zur dritten Etage. Eine war in unser großes Eckzimmer durchgeschlagen und hatte in der Ecke die Standuhr und einen Stuhl schwer, das Buffet leichter beschädigt. Die Vorhänge des nächstgelegenen Fensters waren völlig verbrannt. Merkwürdiger Weise war der Brand ganz von selbst in sich erloschen. Dagegen zeigte es sich bald, daß das Parkett in sich weiter schwelte und mit der Gefahr eines neuen Ausbruchs drohte. Da mußte dann mit der Hacke aufgebrochen werden. Der Hauptbalken war schon kräftig angekohlt. Ähnliches wiederholte sich dann auf dem Boden. Auch dort drei Stellen, an denen aufgebrochen werden mußte. Die Folge ist, daß jetzt in unserem Empfangszimmer Sonne, Mond und Sterne scheinen, weil man durch ein erhebliches Loch in der Decke und im Dach hindurchschauen kann. Daß sehr viele Fensterscheiben draufgegangen sind, versteht sich von selbst. Das Bild einer Anhäufung von Scherben, verbranntem Holz und Bauschutt ist ja den Düsseldorfern schon geläufig genug. Jetzt ist ja vieles schon gesäubert, damit der nächste englische Besuch eine wohlbereitete Stätte findet.
Dazwischen aber gehörte unsere Aufmerksamkeit und auch unsere tätige Hilfe auch den beiden Nachbarhäusern. Am schnellsten war das Schicksal der schönen Villa Strümpell-Seyffarth besiegelt. Sie brannte bald lichterloh. Grauenhaft der Anblick, als mit einem Schlage das ganze Treppenhaus in Flammen aufgeing. Schlimm stand es auch mit den beiden Nachbarhäusern zur rechten. Aus den beiden oberen Etagen von Beethovenstr. 29 schlugen die hellen Flammen empor. Und das Eckhaus zur Ferdinand Rhode Str. sank noch schneller in sich zusammen. In den beiden zuerst genannten Häusern schritt der Brand so langsam vor, daß noch sehr viel an Hausrat herausgeschleppt werden konnte, wobei die Nachbarschaft kräftig half. Die nächsten Tage sah es aus, als hätte sich das Eingeweide der Häuser auf die Straße ergossen. Glücklicherweise war es so trocken, daß die Möbel keinen Schaden vom Himmel her erlitten haben.
Da wir von den Nachbarhäusern her ständig mit Funkenflug bedroht waren, bedurfte es während dieser Nacht, des folgenden Tages und auch noch der folgenden Nacht ständiger Bewachung. Wir haben sie wechselweise meist von dem flachen Dach unseres Hauses aus ausgeübt. Hier konnte man nun das Schauspiel der grausigen Vernichtung in seiner ganzen Großartigkeit genießen. Der ganze Horizont mit mehr oder minder großen Bränden besetzt, über dem ganzen eine riesige grauschwarze Wolke von Qualm gelagert, dadurch die immer wieder die Flammengarben sprühten, bald hier bald dort Flammenzungen emporschlagend - es war ein Schauspiel von wahrhaft symbolischer Bedeutung, über die ich mich lieber nicht auslassen will. Dabei erlag man einer merkwürdigen Täuschung. Man glaubt zu bemerken, daß unser Viertel weitaus am schlimmsten heimgesucht sei. Offenbar verdeckte der dichte Qualm die entfernteren Brände so gründlich, daß man die anderen Stadtteile verschont glauben konnte. Am Morgen, als sich der Tag mit Mühe durch den Dunst durcharbeitete - wir mußten den ganzen Tag das Licht brennen - trafen dann die Nachrichten in immer dichterer Folge ein, die bewiesen, wie gründlich wir uns geirrt hatten. Was sich bei uns abgespielt hatte, das war nur der Anfang. Schon die Karl Tauchnitzstraße ist viel schlimmer getroffen. Und wenn man sich gar dem Stadtkern nähert, hier breche ich ab, denn es könnte doch sein, daß der Bericht in die Hände von Leuten geriete, die an allzu genauer Berichterstattung keine Freude haben.
Schmerzlicher Weise hat dann der nächste Tag auch unserem Hause einen Verlust gebracht, auf den keiner gerechnet hatte. Herr Genth ging frühmorgens in die Stadt, um nach seiner Buchhandlung zu sehen. Er fand sie relativ unversehrt. Aber es war ihm nicht vergönnt, sich lange dessen zu freuen. Er ist von herabfallenden Schuttmassen erschlagen worden. Und das Schreckliche war, daß seine arme Frau dann noch drei Tage lang auf der Suche nach seiner Leiche war - so lange, daß sich in ihr die Hoffnung regte, er sei am Ende doch noch am Leben. Er war nicht in eines der Krankenhäuser, sondern in eine kleine Kirche in Connewitz gebracht worden. Sonnabend wird er begraben. - Im Allgemeinen habe ich den Eindruck, daß im Verhältnis zu den materiellen Zerstörungen die Zahl der Todesopfer nicht so groß ist, wie man befürchten möchte. Zum Beispiel weiß ich bis jetzt von keinem Professor, der an Leib und Leben und Schaden gelitten hätte. Dagegen werden es viele sein, die völlig ausgebrannt sind. Es ist ja manchmal der reine Zufall, ob man die Feuerherde rechtzeitig findet und wirksam bekämpfen kann. Z.B. wären wir ohne Herrn Lehnhardt schwerlich des Brandes Herr geworden. Übrigens ist das Haus Beethovenstr. 29 durch wiederholtes Eingreifen der Feuerwehr, die im Laufe des Tages erschien (vermutlich aus Nachbarorten) zum größeren Teil doch noch gerettet worden. Völlig ausgebrannt ist das große Geschäftshaus an der Ecke der Ferdinand Rhodestr. Gewandhaus und Reichsgericht haben ganz wenig mitbekommen.
Ein sehr unerwünschtes Mißgeschick hat sich dann in unserem Hause dem Übrigen zugesellt. Da so viele Scheiben zerstört waren, wurde das Haus sehr durchkältet, und die Aussicht auf Reparatur ist sehr gering. Glücklicher Weise haben wir noch einen Kohlenvorrat. Aber zum Wasserschleppen kommt nun noch der Kohlentransport hinzu. Wir hausen in meinem Studierzimmer, in dem noch der Ofen steht. Und wir fragen uns, wie lange uns diese Bleibe noch beschieden sein wird. Denn daß die apokalyptischen Reiter wiederkommen werden, ist ja wohl so gut wie sicher. Es gibt ja Leute, die einwenden, sie fänden nichts mehr zum Zerstören vor. Aber das ist ein mehr als fadenscheiniger Trost. Es gibt Viertel, die relativ wenig gelitten haben. Besonders gilt das von dem Westen (Plagwitz, Lindenau, Leutzsch). |