Bemerkungen | Dokumentenabschrift: "Lieber Theo! Nun sind fast 4 Wochen verstrichen, ohne daß ich Dir - und was mich noch mehr bedrückt auch Eurem Rudolf geschrieben habe. Es ist ein seltsames Leben, das man hier führt. Stets einen mehr oder weniger qualvollen Tod vor Augen oder doch in Erwartung des Verlustes von alledem, was man sich mühsam zu einem einigermaßen civilisierten Dasein zusammengerafft hat, lebt man von Tag zu Tag von Nacht zu Nacht weiter, vergißt zwischendurch den Vulkan, auf dem man steht und wird wieder grausig daran erinnert. Donnerstag Abend war Düsseldorf wieder der Tummeplatz von Minen und Bomben, wir blieben verschont. Es ist seltsam, daß man fest und gut schlafen kann, nachdem man 1/2 Stunde vorher noch damit gerechnet hat, in wenigen Augenblicken dieser tobsüchtigen Welt den Rücken zu kehren. - Du fragst, wie ich mit meinem Gesamtzustand zufrieden sei. Ja, das ist nicht leicht beantwortet. Gesundheitlich geht es mir eigentlich jeden Tag besser, in den 10 Monaten hiesigen Aufenthaltes hat sich mein Gesamt- und Spezialbefinden ständig gehoben, die Blutungen sind noch weiter zurückgegangen, Gewicht und Aussehen sind fast normal. Besonders gut tut mir die Berufstätigkeit, die ohne in Schwerstarbeit auszuarten, doch meine Zeit genügend in Anspruch nimmt. In dieser Hinsicht besteht freilich eine recht unklare Zukunft, denn, wie Du wohl auch weißt, sind ja durch Abschaffung der Berufungsinstanz die Oberlandesgerichte überflüssig geworden und ich falle mit vielen andern um die Jahreswende herum glatt ins Leere, da noch keinerlei Andeutung von oben her vorliegt, was man mit den älteren Richtern anfangen will, die weder für das Militär noch für das Arbeitsamt tauglich sind. Pensionierung wäre ja sehr einfach und nicht unangenehm, wenn sie die Möglichkeit gäbe aus diesem Hexenkessel in eine ruhigere Gegend zu entfliehen. Nicht denken - das ist das Beste, was man tun kann. Meine Hauptbeschäftigung zur Stillegung der Gedankenfabrik ist Lektüre, ich habe in meinem Leben nicht so viel Gutes und Schlechtes verschlungen wie in den letzten 1 1/2 Jahren - von der Bibel, Homer, Horaz bis zum Golem und andern Scheußlichkeiten. Schade, daß ich den Aias nicht mehr habe, mir schwebt immer noch ein Vers vor, etwa wie folgt: .....................
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Der alte Dichter hatte recht. Eben klappert der Drahtfunk wieder, heute zum 1. Mal. Samstag ist sonst der übelste Tag, die letzten Samstage hatten wir 13 und sogar 19 Alarme, Du kannst Dir vorstellen, wie das zivile (oder zivilisierte) Leben darunter leidet. Aber genug davon. Wir hoffen herzlich, daß es Rudolf täglich besser geht und sein Arm bald wieder brauchbar wird. Zukunft? Jurisprudenz? hoffentlich bringt er es darin zu etwas mehr als ich, es ist doch nicht das schlechte ein Fach zu studieren zu dem der inneren Drang fehlt. Na, kommt Zeit kommt Rat. Wie geht es Alfred, Du hast über ihn und Aennis und Dein Befinden Dich überhaupt ausgeschwiegen. - Noch eine kleines Beispiel zur Illustrierung des Tanzes auf dem Vulkan. Jeden Dienstag u. Freitag Nachmittag gibt der Malkasten an jedes Mitglied 1 Fl. Wein zum Verzehr in dem Kellergewölbe (die Gebäude sind völlig zerstört), Freitags mit Damen. Diese Gelegenheit lassen auch wir nicht vorbeigehen. Du kennst doch das herrliche Gedicht von Busch: Es sitzt ein Vogel auf dem Leim ... usw.? Wir beide grüßen Euch herzlichst.
Leben oder tot stets Dein alter Freund Carl.
Den 'Müttern' ging es bisher gut. Nach allem was wir wissen, ist auch Donnerstag in nichts passiert."
wahrscheinlich Carl Dücker; von: Dücker, Carl an: Litt; Ort: Düsseldorf |